Dorf in der Stadt

Das Dorf in der Stadt


In dem lesenswerten Buch „Ich bleib in der Stadt und verreise“ des (ober)österreichischen Autors und Musikers Oskar Aichinger (Picus Verlag, 2017), das mäandernde Spaziergänge durch Wien sehr subjektiv und anschaulich beschreibt, findet sich eine Stelle, die auf untypische Höhenunterschiede verweist: „Man darf sich nicht täuschen, auch in der Stadt gibt es Berge und Täler, und mit ihnen Sonn- und Schattseiten, sehr viel sogar. Die Häuser bilden die Bergrücken, während in der Talsohle Verkehr und Menschen fließen.“


Es sind dies aber nicht die einzigen – und keineswegs nur metaphorischen – Gemeinsamkeiten und Annäherungen von Stadt und Land. In Zeiten, in denen die Unterschiede zwischen diesen beiden Lebensformen eklatant und unüberbrückbar erscheinen, muss man die Perspektiven wieder zurechtrücken. Daher behaupte ich: Man lebt auch in der Stadt oft wie am Land.


Das beginnt schon damit, dass man – Wiener Stichwort „Grätzel“ – einen bestimmten Stadtteil so bewohnt, als wäre er ein Dorf. Man bewegt sich vorwiegend in diesem, durchwandert ihn, hat seine vertrauten Ecken, Häuser und – zum Glück – oft auch Bäume, seine spezifischen „Nahversorger“, also Geschäfte, Dienstleister, Supermärkte oder Lokale. Das Stammcafé (am Land eher die Konditorei) oder -wirtshaus ist eine dieser typischen regionalen Institutionen, die in ihrer kommunikativen Heimeligkeit – so diese nicht gerade durch Corona verhindert wird – viel eher bukolischer denn urbaner „Natur“ sind.  Je näher man in Wien den inneren Bezirken kommt, umso dörflicher wird die Struktur. Der (dritte) Bezirk „Landstraße“ macht es schon namentlich deutlich. Und gerade dieser Bezirk ist besonders kleinteilig und verdörflicht.


Wobei sich die Verhältnisse zunehmend umkehren: An den Stadträndern, wo man es eher ländlich erwarten würde, wird es zunehmend urbaner – wenn man darunter mehr Anonymität und weniger Vertrautheit versteht. Große, unpersönliche Einkaufscenter, Groß(feld!)siedlungen, lange Anfahrtswege, mehrspurige Straßen prägen das (unwirtliche) Bild. Aber das ist ja in Wahrheit am Land mittlerweile auch nicht anders: dort verlagert sich ebenfalls fast alles nach außen, während die Ortskerne veröden. Die geselligsten und dörflichsten Idyllen finden sich heute, wie gesagt, in innerstädtischen Bezirken. Autobefreit und innenhofbegrünt, gelingt – ob mit oder ohne politische Grünverantwortliche (die bekanntlich im urbanen Bereich am besten gedeihen) – die Annäherung an ein natürliches Leben hier noch am ehesten.


Große, reißende Flüsse findet man im Stadtzentrum freilich kaum – die muss man imaginieren. Dafür eignen sich zum Beispiel dicht befahrene Straßen. Auf meinem Weg ins Fitnesscenter (wo ich dann gesunde Bewegung imitiere) muss ich drei solcher „Flüsse“ überqueren – und komme mir dabei gerne wie ein kleiner Abenteurer vor, der sich von einem (Wienzeile-)Ufer ans andere rettet und glücklich ist, auf dem Trockenen zu landen. Manchmal führen solche Einbildungen aber auch dazu, dass man sich wie ein Dorfdepp fühlt . . .


 


Gerald Schmickl
Gerald Schmickl

hat Soziologie & Philosophie studiert und lebt als Journalist und Autor in Wien. Er ist verantwortlicher Redakteur der wöchentlichen Feuilleton-Beilage „extra“ der „Wiener Zeitung“ (mit Gründungsjahr 1703 übrigens die älteste noch existierende Tageszeitung der Welt! – Online unter: www.wienerzeitung.at ) und Autor einiger Bücher, u.a. „Lob der Leichtigkeit“ (Edition Atelier, Wien 2011).




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.