Miteinander atmen

 


Konviviales Erkennen

Ein Ort / an dem sich das Lebendige / sichtbar über das Ordnende zeigt / wo die Unmöglichkeit einer Vernichtung / immer wieder aus ihrem Gegenteil / aus denkbaren Folgen des nicht Sterilen / in die gewagte Zukunft erblüht (Lois Weinberger)  


Die Zeilen von Lois Weinberger (http://www.loisweinberger.net/) führen mich direkt in meinen Garten wo früher vielleicht als Unkraut verschriene, heute am gut sortierten Salatbuffet gereichte Pflänzchen sprießen und Großvater Apfelbaum bereits seinen x-ten Frühling erlebt, in frischer Blüte steht und duftet. Das opulente Aufblühen des Frühjahrs lockt mich insbesondere in den Garten, dorthin wo selbst in Tagen der Pandemie erfreuliche Lebendigkeit vorherrscht. Womöglich besteht ein direkter Zusammenhang zwischen lebendigem Aufblühen und bemerkenswerten Ideen, deren Moment gekommen ist.
Wild weben kann hier bedeuten heteronormative Komfortzonen und Zentrismen ein wenig zu verschieben, Stereotype zu zerpflücken, mehr-als-menschliche Erkenntnissamen auszustreuen, in der Hoffnung auf vielfältige Nährböden zu stoßen. Also sähe ich in froher Fruchtbringungshoffnung ein paar kultur- und sozialanthropologische Ansätze aus den Mensch-Nicht-Mensch-Zwischenräumen meines Gartens in dieses Weblog.


Hier fällt mir zunächst das Buch von Anna Tsing mit dem schönen Titel The mushroom at the end of the world: on the possibility of life in capitalist ruins ein. Der Matsutake, ein unkultivierbarer Wildpilz, der aus einer Myzel-(genauer Mykorrhiza-)-Symbiose-Perspektive kommend jeglichen zu eng gefassten Kulturbegriff durchdringt und entgrenzt, sozusagen sanft sprengt und es damit gewissermaßen versteht prekäre Verhältnisse in sprießendes Leben zu verwandeln und Aufschlüsse über Spezies übergreifendes Zusammenleben in den ruinierten Landschaften der späten Moderne gibt. Das Anthropozän ist ein kollabierender Ort, da heißt es zu kollaborieren, vielleicht sogar sich zu verschwören. Die Matsutake World Research Group (https://www.multispecies-salon.org/tsing/) sucht über vielfältige Begegnungen mit dem wilden Pilz nun über anthropozentristische Ontologien und Hegemonien hinaus zu denken. (Pan-)spezifische Weltbilder entstehen demnach vielmehr durch relationale Differenzierung als durch Verordnung, Prozesse im Rahmen einer Globalisierung machen uns nicht gleicher oder homogener, ebenso wenig separieren sie uns in getrennte soziokulturelle Einheiten. Durch Begegnungen und Bewegungen werden Welt, Bild und Tat hervorgebracht, fließen ineinander, ziehen an, stoßen ab, reiben sich aneinander, übersetzen, emergieren aus multiplen Zusammenhängen. Wir sind nie gänzlich fremd und nie gänzlich vertraut in unserem Zwischenleben, Welt wird während ihres Bestehens hervorgebracht. Wir sind nie eins. Eins ist eine Relation. Und eine Identität ohne Relationen, die gibt es nicht.


Hier im Garten muss ich zum Glück keine Atemschutzmaske tragen. Womöglich bringt das Leben hinter den Masken neue Atemtechniken hervor. Langer Atem ist gefragt, tiefer, ungehemmter Atem. Aber auch flacher Atem will geübt sein. Je flacher, desto naher an der Auslöschung, beinahe nichtmehr am Leben. #Icantbreathe.
Mein Großvater Apfelbaum und ich atmen gemeinsam in meinem Garten. Er hat schon geatmet, als es mich noch gar nicht gab. Ich erzähle ihm von einer Stunde Lebensweltberatung bei Natasha Myers (https://www.abc.net.au/religion/natasha-myers-how-to-grow-liveable-worlds:-ten-not-so-easy-step/11906548). Ihre Zeilen brachten viele Dinge in mir in erinnernde Bewegung. Ohne den Atem meiner Ahnen gäbe es mich nicht. Urige Wälder und ozeanische Mikroorganismen atmen uns alle ins Leben, hauchen uns gewissermaßen Seele ein, Lebenskraft, Mana. Die Revolutionen des Lebens sind der photosynthetischen Evolution geschuldet. Pflanzen und Menschen sind verschieden, mitunter erleben wir uns entsetzlich getrennt und sind dennoch verbunden, auf intimste Weise verbunden, wir atmen ähnlich. Das Ozonloch ist so wenig natürlich, wie wir kulturell. Die Verwirrung mag groß sein, gilt es doch eine exponentiell nach vorne flüchtende, ausbeutende kapitalistische Welt, als Ort erschöpfter Ressourcen hinter uns zurück zu lassen, dem Anthropozän wird hier ein Planthropocene hinzugestellt, um nicht zu sagen das Erstere wird als von dem Letzteren überwuchert betrachtet. Myers bevorzugt Pflanzenanbetung gegenüber Metaphysik. Entwicklungsbotanik, herrschaftskritische, botanische Pädagogik. „Gebt den Pflanzen das Kommando, sie berechnen nicht was sie tun“, hätte Grönemeyer folglich gesungen. Ja, wir sind nicht allein. Auch vor uns wurde schon Welt gemacht und voran gebracht. Und neue Pflanzen-Mensch-Verschwörungen sind nötig, Konspirationen, conspirare, gemeinsam atmen (https://orf.at/stories/3210000/). Die Atmosphäre, in welcher wir leben, ist existentielles Terrain. Ohne einander atmen wir nicht mehr lange.


Und wenn wir einander sozusagen gemeinsam beatmen, erkennen wir uns dann auch gemeinsam? Während des letzten Gesprächs mit meinem erdverbundenen Großvater Apfelbaum (https://www.carl-auer.de/magazin/wildes-weben/grossvater-apfelbaum) begann sich in meiner Gedankenwetterlage eine gewissenhafte Unschärfe einzustellen. Wir sprachen uns – nicht quer, vielmehr Unterschiedlichkeiten und Ähnlichkeiten zusammen denkend – im Fahrwasser Gregory Batesons kybernetischer Erkenntnismanöver, für empfindsame Weltbezüge und metaphorisches Kognieren einer aus dem Ruder gelaufenen Moderne aus, im Dienste etwaiger Resonanzkatastrophen und Subjekt-Objekt-Dichotomien entgegen zu wirken. Sympoietisch antwortfähig im Angesicht spätmoderner Einsamkeit. Matsutake kann Karate. Die Pflanzen atmen uns ins Leben und das ist kein Konsum. Koloniales Sensorium einstellen. In die Garage. Führerschein abgeben. Altersselbstfürsorge. Das latent Pflanzliche in uns frisch imaginieren. Sensible Welten warten und wollen wieder erweckt werden. Sensorium vegetarisieren, Imaginationen entkolonialisieren. Kann ja nicht so schwierig sein.


 


Martin Luger
Martin Luger

ist Lehrbeauftragter am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien; Feldenkrais-Praktiker und Psychotherapeut; Forschungsbeauftragter der Fachsektion für Systemische Familientherapie im Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik; Möchtegernliterat und Baumfreund. Kontakt: info@selbstbild.at




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.