Exothermie

Stimmt die Chemie?
Ein ganz „normaler" Fussweg zur Arbeit in der Innenstadt von Landsberg. Es herrscht Maskenpflicht, auch im Freien. Eine wenige Schritte vor mir gehende Frau kehrt unvermittelt um und geht wieder in die Richtung zurück, aus der sie kam. Offensichtlich hat sie das neu angebrachte Schild „Maskenpflicht“ daran erinnert, dass sie eine solche nicht dabei hat.Soll uns die provisorisch wirkende Anbringung des Schildes die Hoffnung machen, dass es bald wieder entfernt wird?
Einige Schritte weiter sieht mich ein Mann aus einiger Entfernung auf ihn zukommen, was ihn dazu bewegt die Straßenseite zu wechseln. Es entstehen eigenartige Gefühle in mir. Erlebten das Menschen auch vor der Pandemie aus anderen Gründen?
Als ich um die Ecke biege, glaubte ich hinter Maske, Brille und unter der Mütze einen Bekannten zu erkennen und lächelte ihm zu. Es kommt keine Reaktion. Habe ich mich getäuscht in der Person? Nimmt er mein unter der Maske wohl nur zu erahnendes Lächeln nicht wahr? Hat er mich nicht erkannt? Bei meiner nächsten Begegnung dieser Art werde ich vorsichtshalber meine Hand zum Gruß heben und der Person einen gut hörbaren Gruß entgegenrufen.
An einer Engstelle wirft sich ein mir entgegenkommender Mann den Schal mit einer schwungvollen Bewegung vor sein Gesicht, über das bereits eine Maske gespanntist. Mutmaßlich sollte die Reaktion mangels Ausweichmöglichkeit das Risiko der Virenübertragung via Aerosol reduzieren. Die Hauptwirkung ist in diesem Fall die Beruhigung des Gewissens.
Stimmt die Chemie zwischen uns Menschen nicht mehr?
Mir kommt das Bild von 2 Kationen in den Sinn, die sich durch ihre positive Ladung gegenseitig abstoßen und dadurch „Abstand halten“. Die Kommunikation auf der Straße hat sich verändert. Es verlangt uns viel Konzentration ab, Menschen auf der Straße zu erkennen und deren Gestik und Mimik zu deuten. Brillenträger:innen sind zusätzlich beeinträchtigt durch die beschlagenen Brillengläser oder durch das Weglassen der Brille aufgrund der beschlagenen Gläser.
Augenscheinlich entscheidet sich ein großer Teil der Fußgänger dazu, die Wahrnehmung auf den Weg vor sich zu richten, um der Unsicherheit bei Begegnungen mit anderen aus dem Weg zu gehen. Durch das Bedürfnis nach Abstand gehen einem die meisten Menschen frühzeitig aus dem Weg und man kann relativ „ungestört“ und erstaunlich zielstrebig durch die Stadt gehen. Diese Zielstrebigkeit erhöht gleichzeitig die Geschwindigkeit und verringert die Freude.
Kommen sich Menschen in der Öffentlichkeit auffällig nahe, so löst das bei der einen oder anderen beflissenen Bürger:in ablehnende Reaktion und belehrende Äußerungen hervor.
Diese nehmen proportional zu der Anzahl der beteiligten Personen zu.
Auf dem Markt ändert sich die Stimmung: Die Leute scheinen es zu genießen, sich in einer langen Schlange Wartender vor den Markt-Ständen einzuordnen. Es entstehen Gespräche, trotz der Abstände kommt ein Gefühl von Gemeinschaft auf. Niemand hat im Anschluss einen Tisch im Restaurant reserviert, einen Friseurtermin vereinbart oder muss „dringend" zu einer Geburtstags-Einladung. Diese Umstände scheinen für eine erstaunliche Gelassenheit zu sorgen.
Verlässt man den öffentlichen Raum, so verlieren sich bei vielen Menschen die Abstands-Tendenzen. Im Gegenteil, man sucht Nähe und genießt diese. Aufgrund der immer wieder neuen Vorschriften ist die Gefahr real, dass man bei einem Treffen gegen eine dieser Regeln verstößt. Ein Gefühl von „Untergrund“ entsteht, was durchaus seinen eigenen Reiz haben kann. Treffen sind einfach organisiert, da die wenigen, Teilnehmer:innen auch noch wenige Termine haben. Online-Offline, beides ist neuerdings gesellschaftlich möglich.
Offline trifft man sich nur im kleinen, wohl ausgewähltem Kreis. Die Gespräche sind meist intensiv und die Chance ist groß, dass sie exotherme Reaktionen bei den Teilnehmer:innen freisetzen. Man spricht bei einer chemischen Reaktion von exotherm, wenn mehr Energie freigesetzt wird, als ihr zunächst als Aktivierungsenergie zugeführt wurde. Sie laufen nach einer „Initialzündung“ quasi von alleine ab. Die teilnehmenden Elemente erlangen dadurch einen stabileren Zustand.
Durch diese positive Energie wird das gemeinsame „Weben“ bei diesen Treffen effektiv und freudvoll. Neue Gemeinschaften entstehen, die gemeinsam an etwas „Weben“. Online ist für viele von uns neu. Mir ist aufgefallen, dass in diesen online-Meetings meist eine sehr gute Gesprächskultur herrscht: Man lässt sich gegenseitig ausreden und hört aufmerksam zu. Die Kommunikation im Vorbeigehen hat sich für mein Gefühl verändert. Statt eine schnelle Geburtstags-WhatsApp zu senden, telefoniere ich nun lieber. Die fehlenden Gäste lassen dem oder der Angerufenen erstaunlich viel Zeit für das Telefonat. Selbst kurze Gesprächspausen lösen noch kein „Auflegereflex“ aus.
Stimmt die Chemie also doch noch?
Es braucht sehr viel Energie, um zwei Elemente, die gerne miteinander reagieren, getrennt zu halten. Die gesetzlichen Vorgaben sollen in Corona-Zeiten diese reaktiven Elemente voneinander abgrenzen. Um uns trotzdem zu treffen, schaffen wir geschützte Räume, in denen wir ungestört besonders gut miteinander reagieren können. So kommt es zu „exothermen" Reaktionen, bei denen viel kreative Energie frei wird. Stimmt die Chemie zwischen Menschen nicht, so wird dies in den geschützten Räumen deutlich spürbar. Das ist ja manchmal auch nicht schlecht.
Ich wünsche Euch viele exotherme Begegnungen.

arbeitet als selbständiger Apotheker in Landsberg am Lech; Mitglied im Vorstand des "Marketing Vereins Deutscher Apotheker“; aktiv im Lions-Club; reiselustig, neugierig; die Erstellung eines Lebensskriptes hat das Interesse an therapeutischen Arbeiten geweckt; Kontakt Marc.schmid@i-mo.de.

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.