Ortsbestimmung


Elementare Blicke auf Erlebnisse in einem Projektierungsunternehmen


Ich finde mich wieder in einer industriellen Unternehmung. Um mich herum junge Menschen, vorwiegend männlich, technikaffin, ordungsliebend. Konzentrierte Atmosphäre: „Wie können wir komplizierte technische Systeme so erstellen, dass energie-effiziente Lösungen für verfahrenstechnische Prozesse entstehen. Dass sie uns ein gutes Klima in Arbeitsräumen geben – oder unsere Stromnetze verfügbar und stabil halten, Benzin produzieren oder reißfeste Plastikfolie. Automatisch, reproduzierbar und sicher - möglichst ohne menschliche Ein-Griffe.


Diese jungen Menschen sind begeistert bei der Sache – bauen sie doch mit an nachhaltigem Leben von morgen: Immer wieder sind anspruchsvolle Probleme zu lösen – wie kann das System effizient und fehlerfrei laufen, auch in unvorhergesehenen Situationen in einen sicheren Zustand gehen, wie können die immateriellen funktionalen Pläne später dann vor Ort mit materiellen Bauteilen gekoppelt werden? Von anderen Menschen, die sie nicht kennen. Wie kann in der schieren Masse von 20.000 Kabeln, 10.000 Eingangpunkten, 5000 Softwareblöcken,... ein Überblick gehalten werden auch für die Menschen, die in 5 Jahren vielleicht zum ersten Mal dieses System sehen und warten werden…?
Die meiste Zeit arbeiten diese jungen Menschen an Bildschirmen. Hier werden die Dinge wie ein riesiges Puzzlespiel aus vorgefertigten Lego-Blöcken zusammengebaut. Alleine die Auswahl der passenden Blöcke ist ein anspruchsvoller Job – die Vielfalt der Anbieter groß, die finanziellen Konsequenzen falscher Auswahl nicht unerheblich. Dann wird dupliziert, parametriert, verknüpft, geprüft, dokumentiert.
Jeden Tag ändert sich dieses Gebilde, wird mit vielen anderen angeschaut, diskutiert, verworfen und neu gebaut – bis dieses Glasperlenspiel seine Materialisierung erfährt, konkret, an einem anderen, oft fernen Ort, und dort für viele Jahre die Geschicke großer Maschinen - und anderer Menschen – steuern wird
Das Werk, das diese jungen Menschen erstellen, ist funktional und nützlich. Es ist in Sprachen beschrieben, die heute weltweit lesbar sind: Grafisch, mit englischen Kürzeln verziert, weltweit genormt. Gut möglich, dass dieses Gebilde in einigen Jahren von Menschen angeschaut und geändert wird, die ganz wo anders arbeiten, - weltweit an den unterschiedlichsten Orten lebend, in virtuellen Räumen kommunizierend und ihre Arbeiten koordinierend. 24 / 7. Sehr wahrscheinlich in ihrer Mehrheit mit Familien in Indien, China oder Vietnam.
Aber erstaunlich: Das ist keine Frage, zumindest keine, die irgendjemanden interessiert. Dieses moderne Handwerk des Systemingenieurs und Programmierers, das eigentlich ein Kopfwerk ist, hinterlässt keine persönlichen Merkmale des Werkers. Personen treten unsichtbar hinter Funktionen zurück, Organisationen stehen für Gewährleistung, anonym, rechtskräftig. Ihrerseits abgesichert über Versicherungen, die wiederum über Aktionäre finanziert werden, anonym, unsichtbar, funktional.


Und dennoch: Der Kontakt zu diesen Menschen ist angenehm, freundlich, direkt. Ihre Sprache, ihre Haltung, alles spricht aus: Ich passe gut auf. Ich mache die Dinge mit Bedacht. Es ist kein Spiel, es ist relevant. Es ist uns wichtig – und wir investieren viel Zeit dafür, dass dieses Werk eine runde Sache wird.


Wo also bin ich? Ich schaue mich um: Weiße Wände, glatt und funktional. Trockene Luft in klimatisierten Räumen. Dichte Atmosphäre. Auf einem Feld während der Aussaat? Nein, der Boden ist zu hart, zu trocken, zu wenig bereit.
Wo also? In einem Lagerhaus mit Saatgut? Geschützt vor Sonne und Regen? Ja, das passt. Hier wird Saatgut bereitet, für Felder, deren Boden sie beschreiben, ohne diese je besucht zu haben. Anhand bewusst gewählter Merkmale, die uns für schematisierte Abläufe und Prognosen genügen.
So macht man das heute, nicht nur hier -  wir nennen das Natur-Wissen-Schaft, und das prägt unser Leben. Entmaterialisierung, Reduktion, Abstraktion, Spezialisierung. Ist das der gelobte Blick für‘s Wesentliche – oder pragmatische Reduktion, Ent-Einzelung, über die Vieles verloren geht, weil es in seinem individuellen Wesen nicht gesehen wird?


Was tun als Berater in diesem Feld? Boden geben, den Körper erinnern, den Blick auf Grenzen des Mach- und Leistbaren lenken. Resilienztraining für die Beteiligten … zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit? Systemstabilisierend tätig sein? Wie kann ich meinen Blick weiten? Möchte jemand von ihnen den Blick weiten?
Erstaunlich, wie auch die Fachgespräche sich gleichen. Als Begleiter bin ich bei einigen Workshops  und Abstimmungsrunden dabei – und finde mich wieder in jahrelang erlebten Runden, in denen genau diese ewig gleichen Worte reihum für immer andere, vermeintlich neue Fälle gesprochen wurden. Zutreffend, wahr, vielleicht nützlich, aber seltsam substanzlos. Un-Wesentlich. Ermüdend. Selten eine konkrete Person wirklich ansprechend!


Sind auch die Felder moderner Interaktion und Kooperation zu Monokulturen geworden? Fachsprachliche Floskeln, in denen es wenig Sprache für persönliche Vielfalt und persönlichen Ausdruck gibt? Weil sich die Sprache als Spiegel unserer funktionalen, merkmalreduzierten Wirklichkeit zeigt?


Das scheint mir eine wertvolle Spur zu sein: Den Ort des Geschehens, die Menschen des Ortes, das Lebendige des Ortes mit einbeziehen. Die Abstrakta wieder auf den Boden bringen. Den Weg zurück zur Verkörperung, zum Ort des Geschehens, zur Materialisierung, zur Konkretisierung und damit zur Vielfalt und Kreativität zu finden. Und mir fällt auf: Das ist auch in der hocheffizienten Welt moderner Produktionen vor einigen Jahren wiederentdeckt worden: Aus Japan kommend wurde im Lean Management der Gemba Walk wiederentdeckt: Gehe an den Ort des Geschehens, sieh’ selbst!


Könnte ich als Berater also dabei helfen, den Blick zu verändern? Einmal den Fokus wegzudrehen von der abstrahierenden, hochgradigen Spezialisierung, in denen eine fragmentierte Gesellschaft – oder gar global fragmentierte Gesellschaften - die funktionalen Bedürfnisse ergebnis- und profitorientiert verhandeln? Statt dessen den Blick zu ergänzen durch einen Fokus auf das Unmittelbare, die Konkretisierung, auf die Eigenverantwortung, in der zum Beispiel ein Projektierer an den Ort des Geschehens geht, den Ort und die Menschen in den Blick nimmt; Erfahrungen abfragt, Lösungsvorschläge kleinschrittig einbringt und diese Tat-sächlich mit den Ausführenden erprobt.


Vielleicht braucht das viel Mut, für mich als Berater, und für die Menschen und Organisationen, die sich begleiten lassen – denn es ist ja auch ein Loslassen von Macht, von Kontrolle, von Vorhersagbarkeit, von vertraglich fixierten Ergebnissen. Ja, das braucht Mut – aber wir gehen den Weg ja nicht alleine.


 


Bildquellen:


Alexander Schimmeck / www.unsplash.com


SCADA / https://simple.wikipedia.org/wiki/Supervisory_Control_and_Data_Acquisition


 


Michael Heim
Michael Heim

engagiert sich als Organisationsberater und Coach für eine nachhaltige Lebensführung, in der stimmige Wege im Zusammenspiel von Natur und Fortschritt gefunden werden. Infos unter nature-and-progress.de




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.