Gute Beratung


Was ist „gute“ Beratung in Corona-Zeiten? Welche Themen tauchen auf? Diese Fragen hat Habiba angeregt, ich nehme sie gern in einigen fragmentarischen Überlegungen auf:


Ganz im Gegenteil
Als ich vor einigen Jahren eine Klientin in einer mehrtägigen Auszeit auf einer Hallig begleitete, fragte mich eine ältere Bewohnerin in der Nachbarschaft, was ich denn da machen würde. Sie habe beobachtet, dass eine Frau immer wieder allein unterwegs oder an einem Platz war, während ich Zeiten in der Nähe des Hauses verbrachte und die Frau scheinbar im Blick hatte und irgendwie mit ihr verbunden war. Ich erzählte von meiner Arbeit und sie fragte interessiert nach, was das für Menschen sind, die in eine solche Beratung kommen: Sind das Menschen, die mit dem Leben nicht zurechtkommen? Spontan antwortete ich: Ganz im Gegenteil. Es sind Menschen, die ihren Weg suchen und finden, die ihren Beitrag leisten wollen, die nach Orten suchen, an denen sie mit ihren Ressourcen gut wirken können, die Lebensfragen, Zweifel aufnehmen, Veränderungen wagen, die gut mit dem Leben in Kontakt sein möchten, und die sich dabei unterstützt fühlen, wenn sie in Momenten der Orientierung in Landschaften wie dieser sein können, der Luft, dem Boden, dem Meer (oder dem Wald) verbunden. Ich war damals selbst überrascht, dass sich das "Ganz im Gegenteil" so formulierte. Und ich würde es mehr als zehn Jahre später bestätigen. Ich erlebe Menschen in Beratung und Weiterbildung als Menschen auf dem Weg, suchend und findend, im je möglichen Spektrum - das ja auch durch gesellschaftliche, zeitgeschichtliche Möglichkeiten mitgeprägt wird.
"Gute" Beratung, so ließe sich vielleicht sagen, ist offen für ein weites Spektrum an Anliegen, die das Leben mit sich bringen kann, im beidseitigen Vertrauen, dass mit dem Impuls uns als Berater*innen aufzusuchen eine nächste "gute" Bewegung möglich ist. Das schließt Momente ein, in denen ein Mensch wirklich noch nicht weiß, wie es weitergehen kann.


Beraten in Corona Zeiten
Die Corona-Pandemie und die gesundheitspolitischen Schutzmaßnahmen setzten über viele Monate einen Rahmen, der in vielen Bereichen einschneidend war. Genau genommen ist meine/ unsere Arbeit in Corona-Zeiten ja nicht anders als in Nicht-Corona-Zeiten. Ich treffe mich mit Klient*innen oder Kolleg*innen in der Weiterbildung an einer Bushaltestelle und wir gehen in den Wald, knüpfen am Auftrag oder Lernziel an etc.
Vielleicht ist das schon mal "gut", dass Beratungs- und Weiterbildungsangebote mehr oder weniger wie gewohnt aufrecht erhalten werden (nach dem ersten Lockdown im April/Mai letzten Jahres) - auch bei sehr viel höherem organisatorischen Aufwand im Vorfeld.
In der Landschaft war und ist es möglich, individuelle Beratungen und auch Gruppenangebote durchzuführen. Für mich war klar: Ich möchte ermöglichen, dass Teilnehmer*innen leibhaftig anwesend sind und zusammenkommen, dass sie in Kontakt sind mit einer Welt, die sich anfassen lässt, in der die Gegenwart anderer Menschen wie auch der Landschaft mit allem was dazu gehört spürbar ist, in der Begegnungen möglich sind - bei aller Vorsicht und Verantwortlichkeit aller auch, das versteht sich.
Weiterbildungen dieser Art können und wollen nur in Präsenz stattfinden, so meine ich.
Vielleicht ist "gute" Beratung hier: Räume offen zu halten und jedesmal wieder zu eröffnen für gemeinsames Lernen, für Entwicklung - auch unter schwierigen Bedingungen. Den Rahmen so zu gestalten, dass Wege gefunden werden können, nächste Schritte gangbar werden. Das heißt ja in mehrtägigen Seminaren immer auch: Räume öffnen für das, was ist, für gegenwärtiges Leben. Draußen am Feuer zu kochen, auf der Erde zu sitzen und zu schlafen, im Bach sich waschen trug plötzlich noch stärker als sonst dazu bei "normales Leben" zu ermöglichen.
Im genaueren Sinn eines Beratungsauftrags: "Gute" Beratung macht Sinn für Klient*innen, entlastet, lässt Frieden einziehen, ermöglicht umzudenken, lässt eine Perspektive auftauchen u.v.m. Das ist in Corona-Zeiten nicht anders als sonst.
Ein spezifisches Thema, das aufgetaucht ist:
Angehörige, die verstorben sind, konnten während eines Krankenhaus- oder Pflegeheimaufenthalts nicht besucht werden. In multikulturellen Familien kam es mitunter zu monatelangen Wartezeiten, bis einen Trauerfeier mit der Familie stattfinden, die Asche in einem anderen Land beigesetzt werden konnte. Wie lässt sich hier Frieden finden in dieser Zeit "dazwischen"? Anliegen dieser Art sind in einer Beratung, die ihren Ort in der Landschaft hat, gut zu begleiten, das  zeigt sich und ist nicht überraschend. Ich bin dankbar dafür.
Eine Passage aus Patrick Leigh Fermors Buch "Der Baum des Reisenden" (deutsche Ausgabe Zürich 2009), kommt mir in den Sinn. Auf seiner forschenden Reise durch die Karibik trifft er auf eine indigene Bevölkerungsgruppe, deren Angehörige einen anderen Menschen erst dann als verstorben erfassen, wenn sie den toten Körper selbst gesehen haben.
Im häuslichen Umfeld haben Menschen auch während dieser Corona-Zeit verantwortbare Möglichkeiten gefunden, Familienangehörigen im Sterben und unmittelbar nach dem Tod nah zu sein.
Vielleicht lebt "gute" Beratung davon, dass Begleiter*innen mit einer gewissen inneren Weite in verschiedene Richtungen mitgehen können. Diesen Moment, in dem Menschen nach eigenem Gewissen entscheiden - selbst wenn sie ansonsten politischen Entscheidungen folgen und sie mittragen, finde ich bemerkenswert. Ich halte die Fähigkeit dazu für wichtig. In Institutionen wie Altenheimen und Krankenhäusern war das definitiv nicht möglich. Was ist dann "gute" Beratung für Angehörige? Man kann als Beraterin nur ansetzen bei der Situation die ist, wie sie ist.


Themen der Zeit
Ganz allgemein scheint mir, dass mit der Pandemie und dem Umgang damit zeitgleich vieles weltweit ans Licht kommt, das in unserer Welt nicht menschenwürdig oder lebensförderlich ist. Das beschäftigt auch Klient*innen, kann sich mitunter als belastend erweisen. Was ist hier "gute" Beratung? Mitfühlend zu Kenntis nehmen, zulassen, was immer auftaucht. Die eigene Verbundenheit mit lebensförderlichen Kräften (Ressourcen) auch daneben sehen, erleben lassen - hier dies nur sehr verkürzt. Wenn ich zurückblicke, dann ist auch in Lebensgeschichten einiges zu Tage gekommen auf eine Weise und in Momenten, die dann Hinwendung und Versöhnungsschritte möglich machten. Ob das mit der Corona-Zeit in Zusammenhang steht, lässt sich nicht bestimmt sagen.
Anliegen und Lernwünsche im Bereich der beruflichen Entwicklung sowie Beratungen in grundlegenden Neuorientierungsphasen sind, so erlebe ich es, vielfach verbunden mit der Frage danach, wie wir uns in der Gesellschaft verorten, wie wir künftig leben wollen, wie der eigene Beitrag zu einer lebenswerten (nachhaltigen, gerechten usw.) Gesellschaft aussehen kann usw.
Was vielleicht in manchen Beratungen im vergangenen Jahr etwas anders war: dass die Energie für berufliche Veränderungswünsche durch Lockdown und Begrenzungen von Aktivitäten von Geduld begleitet sein "musste" (und Ungeduld gehörte auch dazu), dass das Gefühl unsicherer Zukunft (das es ja sonst auch geben kann) bei selbstständigen Kollegen mitunter stärker ausgeprägt war und terminliche Umsetzungs-Planungen obsolet waren. Das hat den Blick auf das Machbare gelenkt, es hat einer gewissen (manchmal begrüßten) Langsamkeit Raum gegeben und mitunter hat es neue Perspektiven eröffnet.
In den Seminaren war auch präsent: Wie reagieren Menschen auf eine Pandemie dieser Art und wie auf die gesetzlichen Regelungen? Und was spitzt sich in ihrer (sie belastenden) Reaktion möglicherweise zu oder kommt zum Ausdruck? Und welche Entwicklung ist von dort aus möglich? (Eine Variante davon ist die Suche nach Umgangsformen mit oftmals überraschend heftigen Reaktionen und unterschiedlichen Haltungen zu den gesetzlichen Bestimmungen im persönlichen und beruflichen Umfeld, offenbar wurde dort der Bereich einer gewohnten Diskussionskultur mitunter verlassen oder überschritten.) Interessanterweise entwickelten sich daraus aber keine spezifisch corona-bezogenen Anliegen. Es war, so weit ich sehe, damit getan, zu erzählen, was beschäftigt oder auch belastet - in großer Vielfalt. Auch das war lehrreich, so meine ich, für alle.
Gehört werden, gleichwertigen Raum haben, liebevoll, mindestens respektvoll behandelt zu sein. Gleichermaßen beitragen und geben zu können wie auch anzunehmen. In Gruppen hat der natur-dialogische Arbeitsansatz seine große Stärke in der Art und Weise, wie er Räume öffnet nicht nur für Naturkontakte, sondern für gemeinschaftliches Lernen und Entwicklung in einem Klima, in dem alle Beteiligten in natürlicher Weise gleichwertig mitwirken, gesehen und gehört sind, gebraucht werden – und in aller schönen Unterschiedlichkeit Profil bekommen können. Auf dieser Basis entstehen reiche Gruppen, die Vieles im Zusammenwirken möglich machen, entstehen lassen. Allen Kolleg*innen hier im blog ist das ja vertraut.
Zugleich sind wir einer systemischen Haltung verbunden, die das eigene Handeln konsequent in den Dienst von Aufträgen stellt etc. Auch das ist bewährte "gute" Beratung. Doch der Raum, um das Bild nochmal wieder zu bemühen, den wir gestalten, hat natürlich einen Einfluss. Zum Beispiel ist er gefüllt mit der Annahme, dass der Kontakt mit der Natur hilfreiche Möglichkeiten bietet. Er ist gefüllt mit einem Menschenbild, das Menschen mit Körper, Psyche und Seele sieht u.v.m. Manchmal auch mit einer Vision vom "guten" Zusammenleben der Menschheit (vgl. Hans-Peter Hufenus: Urmensch-Feuer-Kochen. Aarau etc. 2021).  Er bietet viele Möglichkeiten. Doch, und das ist wichtig: Die Arbeit bleibt im Dienst der Lernwünsche, Entwicklungsziele, Aufträge. Vieles kann möglich werden, nichts soll oder muss!


Professionell genug, beweglich genug
Vielleicht ist "gute" Beratung mit ihrem professionellen (hier naturverbundenen) Handwerkszeug und ihrer (hier systemischen Haltung) gut gerüstet auch für solche Zeiten wie die jetzt erlebte. Ins Unreine gesprochen: Professionell genug und beweglich genug.
Ich möchte zum Schluss die These formulieren: Es gibt sie doch, die Wirklichkeiten - neben all den in Kommunikationen hergestellten Wahrheiten der Menschen und auch bei aller Sinnhaftigkeit erkenntnistheoretischer Annahmen des Konstruktivismus für die konkrete beratende Arbeit. Und diese Wirklichkeiten finden sich in analogen Begegnungen.
Ausgehend von einer zunehmenden Abschöpfung von Aufmerksamkeit insbesondere durch digitale Medien ist es Michael B. Crawfords Projekt, das Wirkliche wiederzugewinnen und damit die eigene Handlungsmacht. Vertiefung in handwerkliche Künste, "Auseinandersetzung mit Objekten und mit anderen Menschen, die ihre je eigene Wirklichkeit besitzen", sind ihm die wesentlichen Mittel dazu. (Dazu hatte Sabina Fischer ja einen Beitrag in Bezug auf das Handwerk geschrieben hier im blog). Mit der Handlungsmacht ist wohl auch eine Anknüpfung an Hanna Arendt gegeben, die Du, Habiba, in Deinem Eröffnungsbeitrag eingebracht hast.


"Politik besteht in der Auseinandersetzung mit Menschen, die anders sind als wir, in der Einbeziehung anderer Sichtweisen und Bedürfnisse und in der Vermeidung von gedankenlosen Vorurteilen und instinktiven Reaktionen", heißt es im Klappentext von "Hanna Arendt lesen in unsicheren Zeiten" von Ned O`Gorman.
Die Auseinandersetzung mit solchen Überlegungen gehören nicht in den engeren Bereich eines Auftrags. Sie gehören in den Bereich der Eingebundenheit in und Auseinandersetzung mit der gesamten Weltenlage, also zur Frage: In welchem größeren Kontext findet "gute" Beratung statt? Vielleicht auch: In welchem macht sie Sinn?


Bleibt mir dankbar zu sagen, dass in der Landschaft, mitunter selbst in dem zu Corona-Zeiten belebten Wald, gute Orte einfach da waren, sozusagen gänzlich unberührt vom Pandemiegeschehen, und viele neue sich noch fanden.


 


Bettina Grote
Bettina Grote

Dr. phil., Berlin, Systemische Prozessgestaltung in der Natur, Weiterbildung und Beratung, www.systemische-prozessgestaltung.de




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.