Sensorium

 


Das Sensorium des Lebendigen


Ich nehme das Fadenende auf, das Vera Schmiedel im Beitrag vom 19.2. zuspielt. Das dort zum Schluss erwähnte Buch "Die Magie des Staunens" erzählt davon, wie Rachel Carson zusammen mit ihrem kleinen Neffen die Natur erlebt, erkundet, wahrnimmt - sei es in einer Mondnacht, in Sturm und Regen oder beim morgendlichen Erwachen der Vögel. Vordergründig ist das Buch ein Plädoyer dafür, einem Kind die Liebe zur Natur nahezubringen. Das (kindgegebene) Staunen bleibt lebendig, so Rachel Carson, wenn mindestens ein Erwachsener Freude und Begeisterung teilt und mit dem Kind "das Geheimnis der Welt, in der wir leben, neu entdeckt“ (31f). Die tiefe Freude an allem Lebendigen wird hier weitergegeben, indem sich Kinder und Erwachsene gemeinsam den Naturphänomenen leibhaftig und mit allen Sinnen aussetzen.


Zugleich zeugt das Buch davon, dass die Autorin selbst dem Zauber des Lebens ergeben ist und zeigt darin exemplarisch, wie Erwachsene in Berührung mit der Natur bleiben und sich die Magie des Staunens bewahren - und damit "das Bewusstsein dafür, dass es etwas gibt, das über die Grenzen der menschlichen Existenz hinausweist" (63).
Für Fachleser*innen ist das insofern interessant, als sich Rachel Carson weder in pädagogischen noch in therapeutischen Kontexten bewegt, sondern vielmehr eine Naturverbundenheit zum Ausdruck bringt, die ihr naheliegend ist, die einfach ist, direkt. So ist das eben: Menschen nehmen Kontakt auf zur Landschaft und zu allem, was darin lebt.
Wie Rachel Carson beschreibt eine ganze Reihe von Naturschriftsteller*innen des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts den Kontakt mit der Natur über den Körper auf eine Weise, wie sie für eine phänomenologische Annäherung typisch ist. Was dabei auffällt, ist die Zweigleisigkeit der geschilderten Verbindungen. Der Berg gibt etwas von sich preis, die Natur kommt in den Körper, der Wald nimmt wahr usw. Besonders intensiv hat sich David Abram aus anthropologischer Perspektive damit befasst, wie Menschen sich vor allem Denken animistisch der Natur nähern. Verkürzt formuliert lautet Abrams Credo: Die Welt ist beseelt und belebt, weil wir sie als solche erleben. Dazu gehört zentral die Beschreibung einer partizipatorischen Wahrnehmung innerhalb eines großen Bedeutungsgewebes, das menschliche und mehr-als-menschliche Wesen teilen. Dieses Gewebe ermöglicht zugleich den Anschluss an Tiefenstrukturen (Archetypisches, Vorsprachliches, Vorzeitliches). Das lebendige Miteinander mit der mehr-als-menschlichen Welt ist für Abram konstitutiver Bestandteil des Menschseins überhaupt, weshalb auch er vehement dafür plädiert, sich vermehrt oder erneut mit der sinnlichen Wahrnehmung der Natur vertraut zu machen.


Was die hier genannten wie auch zahlreiche andere Autor*innen zudem vereint, ist das Suchen, Reflektieren und Finden einer eigenen Sprache, die dazu beiträgt, einem solchen erweiterten Verständnis des Lebendigen Ausdruck zu verleihen. Denn es ist von nicht geringer Bedeutung, wie wir über Naturphänomene und Lebendiges sprechen und schreiben.


Was ginge alles verloren, sollte systemisches Denken darauf verzichteten!


 


Erwähnte Titel und eine kleine Auswahl aus dem nature writing:


Abram, David: Im Bann der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt. Klein Jasedow 2012.


Carson, Rachel: Die Magie des Staunens. Die Liebe zur Natur entdecken. Stuttgart 2019. [1956]


Macfarlane, Robert: Im Unterland. München 2019.


Marbey, Richard: Die Heilkraft der Natur. Berlin 2018.


Shepherd, Nan: Der lebende Berg. Berlin 2017.


Snyder, Gary: Lektionen der Wildnis. Berlin 2011.


 


Bettina Grote
Bettina Grote

Dr. phil., Berlin, Systemische Prozessgestaltung in der Natur, Weiterbildung und Beratung, www.systemische-prozessgestaltung.de




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.