Hundestunde
Hundestunde
Wir Menschen lieben Geschichten, wir leben in ihnen. Seit jeher und auch heute noch, in der scheinbar so aufgeklärten Welt. Wir brauchen Geschichten, um uns kollektiv zu erinnern, um uns die Welt zu erklären und zu wissen, wie wir handeln sollen. Wir machen uns das Leben leicht und schwer mit inneren Geschichten. Wir lachen über weitererzählte Missgeschicke und weinen im Kino beim romantischen Happy End. Wir lassen uns als Gemeinschaft durch Geschichten steuern: Ländermythen, Marketingstrategien und auch Coronamassnahmen sind solche Beispiele. Wir wählen sogar Geschichten, denn kaum jemand von uns kennt die Menschen persönlich, die unsere Länder regieren. Geschichten tragen also entscheidend dazu bei, dass in der menschlichen Welt die "Dinge ihren Gang gehen", ob zum Wohle des Lebens oder nicht, das sei jetzt mal eine andere Frage.
Ein Hoch hier einfach darauf, dass wir im komplexen Gemisch von Eindrücken Sinnfäden spinnen können, dass wir erzählen und zuhören können, dass wir uns etwas vorstellen und sogar etwas vormachen, und uns gedanklich verführen lassen in Welten, an denen wir selbst gerade gar nicht sind.
So lassen sie uns eintauchen: Es ist April und wir landen in einem weiss getünchten Dorf an der Algarveküste...
***
Es ist noch früh am Morgen und ich schlendere, noch etwas verträumt, in Richtung der über dem Meer aufgehenden Sonne durch die kleine Stadt. Mein Weg führt mich durch eine noch menschenleere Häuserzeile, die Strasse hinab zum Hafen, von woher mir bereits der fischig-salzige Duft in die Nase steigt. Gedankenversunken spaziere ich über die Strasse und biege auf die Klappbrücke ein. Plötzlich ein unerwartetes Geräusch, ich schrecke auf, sofort klopft mein Herz, ich drehe mich um und hinter mir kommt ein Hund gerade noch zum stehen. Mein Gott, denke ich, kannst du den nicht an die Leine nehmen? Etwas ängstlich versuche ich dem mich anschauenden Tier zu entlocken, ob es vorhat mich zu fressen – scheint nicht so, er entspannt sich, ich drehe mich um und gehe weiter. 'Hund rennt bei überhöhter Geschwindigkeit eine Passantin um.' Lustige Schlagzeile, ich grinse. Wem gehört dieses Tier eigentlich? Soeben überholt mich eine Frau mit hochhackigen Schuhen, nein, das ist wohl nicht ihr Hund. Der Mann einige Meter hinter mir, Typ Mathelehrer auf dem Weg zur Arbeit, aber sicher ohne seinen Hund. Dort drüben, auf der anderen Seite der Brücke ist er: Turnschuhe, Fleecepullover, Jeans, Umhängetasche, das wird der Besitzer sein. Aber wieso kommt sein Hund aus der anderen Richtung? Hhmm. Doch der Mathelehrer? Während dieser mich überholt stelle ich ihm ohne Worte die Frage nach seinem Hund. Er verneint ohne einen Ton von sich zu geben. Bitte? Herrenlos? Suchend, fast flehend sehe ich mich um, denn unter den Umständen, habe ich wieder Angst vor diesem hellbraunen Tier, welches sich inzwischen exakt 4 Meter hinter mir hält und immer stehen bleibt, wenn ich dies tue.
Ich gehe vorbei am Bahnhof, aus dem sich gerade der erste Zug quält, die lange Strasse zum Strand, die Stadt liegt bereits 10 Minuten hinter mir. Schrittweise war er mir näher gekommen, nun wagt sich der Hund zum ersten Mal neben mich. Wem gehörst du? Wer bist du? Ich könnte ja mal so tun als ob und mit ihm reden, wie das die Hundebesitzer immer machen. Einen Namen, zuerst brauchst du einen Namen. Miguel, so heissen sie hier ja alle. Nein. Oskar, Franz, Alfons, mein Gott, was schwirrt mir denn durch den Kopf? Lieber ohne Namen. Ich gehe zum Strand und du Alfons? Hört sich gut an, er versteht mich ja nicht, ist ja ein Portugiese und hören, oje, hoffentlich hört mich keiner. Ja, ich habe laut und deutlich mit einem Hund gesprochen, wer hätte das gedacht. Oben auf der Düne erkennt mein Begleiter die Weite des Strandes und legt einen Zwischensprint ein. Ciao, denke ich, nun such dein Herrchen. Aber schon nach wenigen Metern kommt er zurück, umkreist mich einmal und trottet wieder neben mir. Als er an der Beachbar durch die Absperrung schlüpft entfährt mir ein Zischen. Kkss, komm zurück, dort ist abgesperrt! Alfons dreht sich sofort um und kommt auf mich zu. Häh? Was war das? Kann mir doch egal sein, wo dieser fremde Hund hinläuft! Und wieso hörst du auf mich?
Gemeinsam gehen wir eine Viertelstunde am Strand entlang. Alfons immer in meiner Nähe, läuft voraus, umkreist mich, macht einige verrückte Bewegungen im Sand, kommt zurück. Ich nehme es und gebe mich hin, so ist es also Hundebesitzerin zu sein. Gar kein schlechtes Gefühl. Jeden Morgen im Sonnenaufgang 'Hol das Stöckchen' spielen und obwohl es hier am Strand nichts und niemanden gibt, wofür sich das lohnen würde, spüre ich auch die schützende Kraft, die so ein Tier ausstrahlt. Ich laufe anders, im Wissen, dass Alfons um mich kreist. Aha. Das ist also der Morgen in meinem Leben, an dem ich lernen darf, wozu sich Menschen Hunde halten. Ich muss lächeln, läuft mir einfach ein Hund hinterher. Alfons? Wo bist du? Nicht vor und nicht hinter mir, wo habe ich ihn zuletzt gesehen, wohin führt die Spur von da aus? Mein Blick schweift an der Kante der Düne entlang, da taucht er dort oben gerade wieder auf, schickt den Blick suchend am Ufer entlang und als er mich erblickt, kommt er wie ein Pfeil auf mich zugeschossen, um kurz vor mir wieder diese Bremsung hinzulegen, die ich von der Brücke kenne: alle vier Beine in einer Reihe. Da bist du ja wieder! Ich dachte schon... Konstanze! Das ist ein fremder Hund, er sollte weglaufen!
Zum ersten Mal höre ich ihn bellen, irgendwas hat er bemerkt, was ihn zieht, ich sehe aber nichts. Er läuft voraus, vielleicht 50 Meter, bleibt stehen, schaut, bellt wieder. Jetzt. Ich drehe mich um und laufe zurück. Adeus Alfons, war schön. Tapp, tapp, tapp ist er wieder neben mir. Er meint wirklich mich, wir haben nicht nur zufällig denselben Weg. Das ist ja unglaublich, mir ist ein Hund zugelaufen. Hey, was soll ich mit dir machen? Ich gehe jetzt zurück und du musst deinen Besitzer finden. Von der Mole kommt uns ein anderes Hund-Besitzer-Pärchen entgegen. Als wäre ich geübt, vermeide ich die Begegnung und nehme doch wieder den alten Weg, vorbei an der Beachbar. Alfons schaut kurz in Richtung des Artgenossen, trollt sich dann aber und folgt mir. Inzwischen sind auch andere Frühaufsteher unterwegs. Sie halten mich alle für die Besitzerin, logisch, würde ich auch tun, mein Morgenoutfit unterstützt das, es fehlt nur die Umhängetasche. Als er wedelnd auf eine alte Dame zustürmt und sie mich bittend ansieht, muss ich handeln: Alfons komm zurück. Er kommt. Braves Tier. Eigentlich bist du ja ein Schöner. Ich versinke wieder in Gedanken.
Als ich mich frage, was ich mit ihm mache, wenn ich zur Arbeit gehe, erwache ich wieder und werde mir gewahr, dass die Fragen des Fluges und Tierarztes bereits durch meinen Kopf hindurch sind. Jetzt ist es höchste Zeit, Alfons. Dort vorn ist die Brücke. Ich danke dir für den wunderbaren Morgen, machs gut. Vor der Brücke, Alfons wartet auf mich. Auf der Brücke, er geht neben mir. Nach der Brücke, er ist noch immer da. Was soll ich tun? Kein Geschäft, kein Haus, niemand in der Nähe wo er vorhin hergekommen sein könnte. Da. Jetzt sitzt er. Schnell biege ich um das Bushäuschen, aus seinem Sichtfeld und laufe über die Strasse. Sorry Alfons, Notlösung. Ich blicke zurück. Er läuft mir nach, geht einfach auf die Strasse, schaut nur zu mir, geht nicht mal schnell, das Auto! Der Fahrer hat ihn gesehen, bremst, wartet und wirft mir was für einen bösen Blick zu. Es ist nicht meiner, denke ich und fühle mich zugleich wie eine Verräterin. Was soll ich tun? Der ist verrückt, folgt mir einfach und schaut nicht mal auf die Strasse dabei! Fast wärst du in dein Verderben gerannt, lauf weg, wenn du mir bis zum Hotel nachläufst, dann werden sie dich vermutlich nicht gerade freundlich verabschieden.
Nochmals bedanke ich mich innerlich bei ihm, dann versuche ich wieder hundefrei zu sein. Logisch, wenn ich mich verantwortlich fühle, dann gehört er zu mir. Also: Konzentration auf den Zustand ohne Hund, hatte ich nicht sogar Angst? Ich bringe mich in das Gefühl, dass ich noch heute Morgen hatte, wenn mir ein streunender Hund begegnete. Nicht schlecht, ich kann es noch, schnell auf die andere Strassenseite wechseln, schneller laufen. Alfons beeindruckt das leider wenig. Was soll ich tun? Ich bleibe stehen, er auch. Ratlos stehe ich da. Nochmals blicke ich suchend nach einem Besitzer, wissend, dass ich niemanden finde. Alfons macht einen Meter neben mir Platz und schaut mich an. Ok. Vielleicht ist das der Moment, schliesslich sitzt er zum ersten Mal. Ciao Kumpel, bleib schön sitzen, sicher kommt gleich wieder jemand, mit dem du gehen kannst, ich muss jetzt los. Tapp, tapp, tapp. Nein! Ich erreiche die Hoteleinfahrt. Vielleicht ist er ja schon mal mit jemandem mitgegangen, hat hier schon schlechte Erfahrungen gemacht und bleibt an der Strasse sitzen? Auch nicht. Noch 30 Meter die Auffahrt hoch, dort oben hinter der Tür der Portier. Letzte Chance. Ich drehe mich um und sage fest und klar: Alfons. Er schaut mich mit einem Blick an, als wüsste er längst, was kommt. Mir bleibt fast die Luft weg, diese Augen! Weiter, laut und deutlich, egal ob das jemand hört: Ich gehe jetzt ins Hotel und du zurück zu deinem Herrchen. Es war ein wunderbarer Morgen, danke für die Begleitung und die Lehrstunde in Sachen Hund. Ich habe dich auch ein bisschen ins Herz geschlossen, aber unsere Wege trennen sich hier und jetzt. Bitte geh! Alfons steht auf, schaut mich ein letztes Mal an, dreht sich um und läuft die Auffahrt hinunter.
Foto: Petr Ganaj auf Pixabay: https://pixabay.com/de/users/petrganaj-16058207/
Dozentin, Sozialpädagogin, Bildungsmanagerin, tätig in analog, Mitwirkende in nature&healing, Ko-Initiantin der Natur-Dialog Bewegung. Gelegentlich Schreibende, Hobby-Schneiderin, Ritualtänzerin und immer wieder neugierige Reisende.
ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.