Ensemble

 


"Die Welt ist ein Ensemble von Gezeiten.
Sie setzt sich aus Kreisläufen zusammen, in denen das Leben Materie transformiert. (...) Die Kreisläufe sind unendlich verwoben, sie erstrecken sich über ganz unterschiedliche Zeitspannen – Atemrhythmen, Vegetationsperioden, Produktionszyklen." (Redecker1, S. 235)


Meine Grosseltern mütterlicherseits waren vor dem Krieg Teilhaber einer Textilmaschinenfabrik, betuchte Kleinbürger mit kaiserlich strenger Erziehung und Bildung. Nach dem Krieg war die Fabrik verloren und einige Geschwister verschollen. Sie hatten überlebt, konnten persönliche Schätze retten - zu welchem Preis auch immer. Das verschwieg man den Kindern, die nach dem Krieg geboren wurden, und berief sich auf das, was sicher war: die strenge Erziehung und Schweigen.


Die Grosseltern väterlicherseits stammen aus Galizien, sind am Fusse der Waldkarpaten aufgewachsen, in der heutigen Ukraine (altostlawisch: Ukraina = Grenzland). Sie sprachen polnisch, lebten in Österreich-Ungarn und hatten deutsche Vorfahren. Einfache Verhältnisse und das Handwerk prägten das Leben dieser Menschen, die Frauen trugen mit Schneiderei zum Einkommen der Familien bei. Infolge des Hitler-Stalin Pakts wurden sie nach Pommern zwangsumgesiedelt und am Ende des zweiten Weltkrieges von der aufrückenden russischen Armee nach Leipzig vertrieben. Sowohl die Erfahrungen dieser Vertreibungen als auch die fremde, deutsche Sprache an sich, boten viel guten Grund zum Schweigen.


Während im Westen die Studenten revoltierten und der Prager Frühling niedergeschlagen wurde, traf in der DDR der jüngste Sohn der einen Familie auf die jüngste Tochter der anderen und trotz junger Liebe im jungen Land war es besser nicht aufzufallen, sich anzupassen und zu schweigen.
Sicherheitshalber blieben sie auch noch still als die Nachrichten 1989 den Fall der Mauer verkündeten und teilten nicht ihre Freude darüber und auch nicht die Angst, dass sich das Rad der Geschichte so überraschend es vorwärts gegangen war, auch wieder zurückdrehen könnte. Sie verliessen sich in dieser Welle der euphorischen Freiheitsrufe – auch zum Schutz ihrer Kinder - eher auf das Bewährte.


"Die Vergangenheitsbewältigung halte ich (...) deshalb für wichtig, um zu verhindern, dass es in den Biografien vom Leben absolute Brüche gibt. Dass also das Leben im Jahre '91 nichts mehr mit dem Leben zu tun haben soll, wie ein Mensch im Jahre '88 gelebt hat. Ich erlebe zurzeit, dass es Schnitte gibt, die irgendwann wieder aufbrechen werden in den Biografien. Wir konnten Geld ziemlich leicht austauschen, Firmennamen auch noch, aber das Leben muss irgendwie eine Kontinuität behalten und dazu gehört, dass ich mich Erinnern kann. Und erinnern darf. Und erinnern will." (Angela Merkel, 37 Jahre jung und frisch gebackene Bundesministerin für Frauen und Jugend des gerade wiedervereinten Deutschlands, in einem hörenswerten Interview2 von Günter Gaus, Minute 21:30 bis 22:13)


Mein Jugendleben startete in dieser Zeit des fallenden Eisernen Vorhangs. Ich nahm den Lebensfaden auf und begann ihn einzuflechten in meine Gegenwart. Ich webte am Tuch, was sie schon begonnen hatten und an einigen neuen mit. Ich schaute voraus und nicht mehr so gern zurück, aber meine und ihre Bilder holten mich ungefragt ein, dann und wann. Erst nachdem ich eine weitere Grenze, die in die Schweiz überschritten hatte (und von einer neuen Sprache umgeben war), fand ich allmählich Worte und mit ihnen konnte ich auch andere Fäden wieder anknüpfen: jene des ganz normalen Lebens und Liebens, der Freude am Handwerk und an der Natur.
Diese politische Wende, das Ende des Kalten Krieges, erscheint mir so auch als Familienwende: Nach mehr als 70 Jahren Krieg, Misstrauen, Gewalt, Diktatur, Notlagen und Schweigen, konnte ich in einer anderen Welt erwachsen werden. Und so nahm ich aus diesen letzten Kindertagen noch etwas mit: Die Zuversicht, ja, das innere Vertrauen, dass Mauern, erscheinen sie auch noch so endgültig und unumstösslich, dass solche Mauern überraschend fallen können.


Spaziergang
Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,
dem Wege, den ich kaum begann, voran.
So faßt uns das, was wir nicht fassen konnten,
voller Erscheinung, aus der Ferne an –
und wandelt uns, auch wenn wirs nicht erreichen,
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;
ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen ...
wir aber spüren nur den Gegenwind.
Rilke3


Im Sommer dieses Jahres streunte ich durch einen sehr alten Laubwald4 in Mecklenburg. Ich setzte mich an den Fuss einer unglaublich hohen Buche, von denen es hier Unzählige gab. Drei Stunden sass ich, und rührte mich kaum. Ich dachte auch nicht viel, nahm einfach wahr: Die angenehme Kühle an diesem heissen Tag, der riesige Raum, der sich zwischen dem Blätterdach weit oben und dem fast unbewachsenen Boden auftat, die entspannte, gelassene, friedliche Ruhe, den leisen Windhauch in den Kronen dann und wann. Die Mythen von Irókò5 tauchten in mir auf, die davon erzählen, dass die Bäume die Hüterinnen der Geschichten sind, der schönen und traurigen, der alten und neuen, über alle Zeiten. "Welche 'Geschichtenlieder' stecken wohl in diesen Blättern dort oben?" Eine Minute lang waren meine Gedanken bei einem Lied aus Kindertagen, das vom 'Traumzauberbaum'6 erzählt, und schon in der nächsten legte ich Steinpilze in meinen Korb, unter den Ur-Buchen der Waldkarpaten.


"Die Kunst liegt darin, durch die Prägungen und Überzeugungen unseres theoretischen Denkens (...) hindurchzugleiten und an das tiefer liegende Archiv anzuschliessen, das (...) von verbundener friedfertiger, kooperativer, egalitärer Ko-Existenz zwischen Menschen und Menschen, seiner Welt der Dinge und der gegebenen Natur unseres Heimatplaneten Erde erzählt." Astrid Habiba Kreszmeier7


Ich stehe am Ufer des Bodensees, ziehe die Kapuze über den Kopf und zurre die Jacke fest zu. Ich spüre den Morgen, wenngleich der Anblick des heller werdenden Himmels eher einen Weltuntergang vorherzusagen scheint. Es stürmt. Gewaltig. Beeindruckend peitscht der Wind das Wasser ans Ufer und spielt laut mit den gut gebauten Planen der Gruppe. Die anderen schlafen noch. "Wir brauchen ein Feuer.", denke ich. "Das geht nicht bei diesem Sturm! Wie soll man da ein Feuer anzünden?", erwidere ich mir selbst. "Keine Ahnung, aber wir brauchen ein Feuer.", wiederholt die Stimme nachdrücklich in mir. Ich mache mich ans Werk. Wer macht sich ans Werk? Mit scheinbar geführten Handgriffen stelle ich grosse Holzstücke zu einer Feuerstelle zusammen. Bin das wirklich ich? Oder mein Urgrossvater, der Dorfschmied, oder... "Das hat doch keinen Sinn!" Aber die Hände hören nicht auf die Zweifel im Kopf, sie tun einfach das, was sie scheinbar schon seit Jahrtausenden tun.
Das Feuer glüht schliesslich als wäre es direkt aus dem Erdinnern genährt. Die anderen kommen zum Kaffee, Vertrauen ist im Raum und dankbares Schweigen, obgleich das Unwetter sichtlich näher rückt. Ein Regenbogen spannt sich von der einen Seite des Horizonts zur anderen.


"Gegenwart ist, wo sich alle Gezeiten treffen. Jeder Reproduktionszyklus hat seine eigene Spanne und Myriaden von Voraussetzungen im Material anderer Zyklen. Aber alles, was lebt, ist jetzt anwesend. Und vieles, das nicht lebt, auch. Die Gegenwart ist der Raum, in dem alles, was es gibt, zusammenkommt. Omnia communia sunt. Alles existiert gemeinsam. Das Leben, die Welt, die Natur – sie sind nie eins."  (Redecker1, S. 285)


 


1 Eva von Redecker (2020): Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Fischer, Frankfurt a.M.


2 Günter Gaus im Gespräch mit Angela Merken "zur Person" (1991):  https://www.youtube.com/watch?v=EEY15eXSWgc (26.12.20)


3 Rainer Maria Rilke (1875-1926): Spaziergang


4 Heilige Hallen: https://de.wikipedia.org/wiki/Heilige_Hallen_%28Mecklenburg%29 (27.12.20)


5 Irókò: Mythologische Dimension der Zeit in Orixátraditionen (afrikanische Religionsstränge die den Menschen als Teil der Natur und die Natur auch als Ausdruck göttlicher Kräfte sehen). Die Kosmologie wird über Mythen und Lieder oral bewahrt, erneuert und weitergegeben.


6 Reinhard Lakomy (1980): Der Traumzauberbaum - Geschichtenlieder. Hörspiel.

7 Astrid Habiba Kreszmeier: Heilsam Erinnern, Whitepaper, eingesehen 20.1.2021


 


 


Martin Luger
Konstanze Thomas

Dozentin, Sozialpädagogin, Bildungsmanagerin, tätig in analog, Mitwirkende in nature&healing, Ko-Initiantin der Natur-Dialog Bewegung. Gelegentlich Schreibende, Hobby-Schneiderin, Ritualtänzerin und immer wieder neugierige Reisende.




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.