Schöpferische Bewebung

 


Die schöpferische Bewebung


Es brodelt und zischt, heißer Dampf und mit ihm der tief vertraute Duft nach feuchter Vegetation, nach Gräsern, Blättern, Sumpf steigen zu mir auf. Ich sehe mit Wonne, wie Wasser und Hitze und der sanfte Druck meines Bügeleisens dem locker gewebten, störrischen Material neues Leben einhauchen, es geschmeidig machen und glätten. Schön, ästhetisch, irgendwie berührend. Meine nackten Füße stehen auf dem warmen brasilianischen Sandstein des Ateliers und ich nehme wahr, dass sich alles in mir behaglich fühlt.
Eine Welle von Dankbarkeit und Glück erfasst mich und zu dem glücksbringenden Dampfduft gesellen sich ein paar salzige Tropfen auf dem Kaffeesack, der sich nun in das Rückenteil eines Jäckchens verwandeln wird. Stroh wird zu Gold gesponnen, Verpackungsmaterial in Kleidung verwandelt. Verzückt betrachte ich das Motiv, das den Kaffeesack ziert. Es ist ein Paradiesvogel, lila, orange, grün sind seine Federn und er ist umgeben von einem Ring aus Kaffeebohnen. Er hatte schon eine Weile im Atelier gelegen bis die passende Stoffbeziehung dazu sich offenbarte: ein Vorhang aus den 70ern, Hand in Hand mit einem lila Samt, ebenfalls ein Vorhang und einer Borte aus einer Allgäuer Weberei, die es schon längst nicht mehr gibt.
Auch in diesen nun entstehenden Kleidungsstücken  werden sich Welten und Zeiten miteinander verbinden, die zunächst und auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun hatten. Der Vorhangstoff aus den 70ern ist für sich alleine betrachtet schwer vermittelbar. Zusammen mit dem lila Samt zeigt er sich in seiner schönsten Facette. So ist es mir schon mit so manchen Stoffen gegangen und immer wieder sehe ich die alchemistische Metapher darin. Wie schön werden auch wir Menschen in besonderen Verbindungen, wie göttlich kann die Energie sein, die sich aus dem sympoietischen Zusammenspiel verschiedener menschlicher Ressourcen in einem liebevollen Geist entfaltet. Da liegen sie nun miteinander: Friedlich, harmonisch, einzigartig und jedes Element darin wurde einst gewebt, an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Materialien und ökologischen Problematiken.
Jedes Gewebe entstammt einer Kultur, spricht eine eigene Sprache und in der Komposition werden sie zu einer gemeinsamen Stimme. Die beginnt sich jetzt in mir zu formen. Ich höre sie wie ein Chor. This is the dawning of the age of aquarius. Und ich höre eine einzelne Stimme, die singend betet und schreit. Während ich Schnitte wähle, die Stoffe glätte und dann schneide, ihnen Gestalt gebe, nähe bin ich angeschlossen an den Zeitgeist meiner Kindheit. Ich kann ihn gerade fast körperlich spüren. Warum erwischt mich das jetzt so sehr? Warum will ich ihm eine Kollektion widmen? Ist es pure Nostalgie? „Jute statt Plastik!“ ruft es. „Freedom’s just another word for nothing left to lose“ singt es. Apropos Freiheit: Wenn wir jetzt die Menschen fragten, ob sie sich frei fühlen. Was würden sie antworten? Ist die Freiheit nicht mehr relevant wenn es um die Rettung der Menschen, gar der Menschheit geht? Oder ist ohne Freiheit die Rettung eine getarnte Plättung? Waren wir auch vor 2020 unfrei und uns dessen nur nicht bewusst?
Die Antwort auf diese Fragen liegt nicht auf der Hand, ist höchst subjektiv. Zarte Fäden, die man nicht gleich sieht. Die Stoffsprache der 70er ist ornamental, floral und gleichzeitig plakativ, die Farben zum Teil leuchtend, schrill, rufend, dann wieder erdig gedeckt, tarnend, Orange und Pink, Grün, Braun und Lila. Wenn ich jetzt mit diesen Stoffen arbeite, wird dabei eine Fülle an Botschaften freigesetzt, die mit unserem Heute verwoben sind, die mit dem Webschiffchen abgetaucht waren erscheinen jetzt wieder an der Oberfläche. Damals war es die allgegenwärtige atomare Bedrohung und das weltweite Aufbegehren gegen Diktaturen. Make love not war, Angst und Macht sollten durch Liebe und Freiheit ersetzt werden. Es gab den Ruf nach politischer Verantwortung und das sogenannte Establishment war moralisch fragwürdig, denn die Vergangenheit war nicht aufgearbeitet, das Eigeninteresse stand über Gemeinwohl und Menschenrecht. Wir müssen nicht atomar durch viral ersetzen und vor Gemeinwohl und Menschenrecht die Ökologie stellen, um die Parallelen zu sehen. Auch die Protestkultur von damals, sie ist längst wieder aufgeflammt. Mir gefällt an meiner Welt, dass wir uns gegenseitig zuschauen können beim Hinschauen, dass wir nicht gegen sondern für etwas sind, dass wir an unterschiedlichen Stellen bohren und in der selben Schatzkammer landen, dass wir vor allem darum wissen, dass wir miteinander Felder erschaffen, indem wir wild weben.
Für mich ist genau das die Protestbewegung der Neuzeit, die ich vielmehr als schöpferische Bewebung bezeichnen möchte. Meine Arbeit mit den Stoffen spielt einem strahlend bunten Teppich ökologische, humanitäre, traditionelle und ästhetische Fäden zu. Ich habe so eine Ahnung, dass es im großen Webrahmen sehr spannend bleibt.


PS: Kommt unsere Ahnung von den Ahnen?


Michael Heim
Susanne Doebel

seit März 2020 Start-Up-Unternehmerin mit Wertstoff-Couture, einem Upcycling-Label, seit 2012 Betreiberin eines B&B in Landsberg am Lech, neuerdings Gesang- und Akkordeonlernende, Studium der Tiefenpsychologie nach C.G. Jung und systemische Naturtherapeutin nach Kreszmeier/Hufenus




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.