Nordblick

Es gibt Bücher, die erzeugen beim Lesen bleibende innere Bilder, Stimmungen und Gefühle.
Die Geschichte von Christiane Ritter, die im Winter 1934/35 mit ihrem Mann Hermann und dessen norwegischen Jagdkollegen Karl in einer winzigen Hütte auf Spitzbergen überwinterte, gehört für mich seit mehr als einem Jahrzehnt dazu. Ihre Erlebnisse und ihre innere Verwandlung angesichts der Unerbittlichkeit und Schönheit der wilden Natur veröffentlichte sie später unter dem Titel „Eine Frau erlebt die Polarnacht“.


Es ist eine Polarnacht im Februar 2022. Ich kann den frisch gefallenen Schnee riechen, die Kufen des Schlittens erzeugen leise knirschende Geräusche. Die Hunde ziehen ruhig und geschwind auf einem bereits gebahnten Weg dahin. „Gee“ ruft Gunnar der Hundeführer und wir schwenken rechts auf unberührte Schneeweiten ein, majestätische weiße Berge umsäumen den Horizont.
Der volle Mond lässt die Schneekristalle aufblitzen, als hätte eine Riesenhand hier Diamanten ausgestreut. Ich spüre das wärmende Rentierfell im Rücken und schaue, fühle, rieche mit meinen bekannten Sinnen, die aber zusätzlich von einer anderen, zeitlosen Dimension ergriffen werden. Gleichzeitig schaue ich aus mehreren Perspektiven und es erfüllt mich große Dankbarkeit, Freude und Demut.


Nach vielen Jahren des Zögerns hatten Freunde mich davon überzeugt, dass die norwegischen Hurtigruten keine Kreuzfahrtschiffe im üblichen Sinn sind; und dass im Winter allemal wenige Menschen zum Polarkreis reisen. Und dann waren es wegen der Pandemie noch weniger als sonst, die im Februar 2022 auf der „Otto Sverdrup“ von Hamburg aus zum Nordkap unterwegs waren.
Die Route verläuft entlang der stark zerklüfteten Norwegischen Küste und es werden auf Hin-und Rücktour verschiedenen Orte angelaufen. Hier gibt es einfache Ausflüge aber auch anspruchsvolle Wanderungen oder Kajakausflüge im Eismeer.
Das Konzept der Hurtigruten, jungen Wissenschaftler*innen und Naturführer*innen eine Platform zu bieten, gefällt mir. Alle profitieren davon, dass es frische und informative Vorträge gibt, Unternehmungen und Naturbeobachtungen begleitet werden.


Ich habe viel über Norwegen und das norwegische Volk gelernt:
Über Abhängigkeit (zunächst von Dänemark und dann bis 1905 von Schweden) und über bittere Armut. Über die Bildung von nationaler Identität (Polarforscher, Dichter und Musiker) und über den plötzlichen Reichtum (durch die Ölförderung). Über Neutralität (im 1. Weltkrieg) und über die Besetzung durch die deutsche Wehrmacht im 2. Weltkrieg. Über Fischfang und über Artenschutz.
Jeder Tag ist ein neues Abenteuer, an Bord und auch an Land.
Neue wilde Landschaften schauen auf das langsam dahingleitende Schiff. Ein Blick aus dem Kabinenfenster am frühen Morgen: Über schneebedeckten Bergen liegt ein voller Mond. Dann wieder nebelt es oder Schnee jagt über Land und Meer, wechselt ab mit strahlender Sonne.


Wieder eine Nacht jenseits des Polarkreises; Wir sind mit einer kleinen Gruppe unterwegs, um das Polarlicht zu sehen. Die Chance dafür ist nicht groß, weil der Mond Himmel und Landschaft in helles Licht taucht.
Außerdem ist die Sonnenwindaktivität gerade niedrig.
Es ist eiskalt. Trotz der mehreren Lagen Kleidung wird es mir beim Warten und Schauen zu kalt.
Etwas abseits von einer großen Lichtung hat unser Expeditionsteam ein Lagerfeuer entfacht und ringsum Rentierfelle zum Sitzen ausgebreitet. Zum zusätzlichen Aufwärmen gibt es heißen, süßen Kakao.
Helga, eine junge norwegische Biologin, erzählt von den norwegischen Polarforschern und ihren Fahrten. Es sind Geschichten über Fritjof Nansen, Roald Amundsen, Otto Sverdrup, die so nicht in den Geschichtsbüchern stehen. Kleine oder größere Begebenheiten, die in dieser kalten, nächtlichen Umgebung einen besonderen Zugang in diese vergangenen Zeiten möglich macht. Wieder erscheint so ein zeitgleiches oder auch zeitloses Gefühl in mir.
Erwärmt vom Feuer, der heißen Schokolade und den Geschichten gehe ich durch ein Birkenwäldchen zu der Lichtung, auf der auch andere Mitreisende das Polarlicht erwarten.
Und dann ist es da! Kommt und geht, weht wie Fahnen im Wind, gleitet geisterhaft über den Himmel, leuchtet auf und verschwindet wieder.
Trotz allem Wissen um dieses Phänomen erscheint es geheimnisvoll, mystisch und mythisch.
Bei dem hellen Mond ist es mit bloßem Auge manchmal nur zu erahnen, aber durch die Linse des Fotoapparats erscheinen die leuchtenden Farben: überwiegend grün, ein wenig rot und gelb an den Rändern oder auch violett. Man sagt, dass die Sami und Innuit das Polarlicht auch hören können.
Kein Wunder, dass es unzählige Sagen und Märchen um dieses Licht gibt, das meist nur innerhalb der Polarkreise im Norden und Süden der Erde zur Nacht sichtbar wird.


Wir haben das Nordkap nicht erreicht, von dem aus es nach Christiane Ritters Spitzbergen nicht mehr allzu weit wäre. Wegen Sturm konnten wir den Hafen von Honningsvag nicht anlaufen und heftige Schneefälle haben den Weg zum Kap unpassierbar werden lassen.


Angesichts des Geschenks zweier Polarnächte jenseits der Zeit, dem Geschenk, dass junge Menschen ihre Freude, ihr Wissen und ihre Begeisterung mit uns geteilt haben, dass ein Kapitän uns sicher durch die Schären und
Insellandschaft der norwegischen Küste gesteuert hat, dass die Küchencrew uns trotz stürmischer See mit Essen versorgt hat ……..ist das nicht weiter wichtig …… Christiane Ritter hatte in mir innere Bilder erzeugt und ich durfte sie dankbar für ein paar Tage und Nächte in lebendigem Dasein mit allen Sinnen spüren.


Zwei Tage nach der Rückkehr in den deutschen Alltag erreichten uns Bilder des Krieges, der nun auch Europa wieder erreicht hat. Der Besuch des Kriegsmuseums in Narvik mit tiefen Eindrücken über den vergangenen Weltkrieg klang ohnehin noch in mir nach. Es geht in dem sehr sehenswerten Museum nicht nur um den 2.Weltkrieg; es werden auch universelle Fragen über Krieg und Vertreibung aufgeworfen. Dass die Konfrontation damit so schnell und so nah erfolgen würde, kann ich immer noch nicht ganz erfassen.


PS. Ach ja, die Natur-Dialoge wollten mitreisen;-)



 


Vera Schmiedel
Vera Schmiedel

promovierte in Meeresökologie, lebte auf einer kleinen Insel, begab sich dann auf Sinnsuche in craniosacraler Osteopathie, systemischer Aufstellungsarbeit, systemischer Naturtherapie und Stillness Touch, praktizierte bis 2018 in Hamburg. Jetzt ist sie begeisterte Malerin, Schmuckdesignerin und Ganzjahres - Schwimmerin an der Ostseeküste.




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.