Zuflucht
Die Landschaft, Hügel und Felder, das Haus, das Knarren der Diele im Wohnzimmer, der Weiher im Wald, mein Schulweg, der ehemalige Laden um die Ecke, mein erstes Fahrrad und die Nähmaschine der Grossmutter, Erdbeeren und Augustäpfel sind Heimat, auch die Ferien am Meer, die Winterausflüge mit Langläufern und all die Empfindungen, Düfte, Menschen, Erinnerungen. Wenn Heimat Krieg erleidet, träumen noch die Enkel davon.
Geborgensein
In ihrem Buch «Heimsuchung» lässt uns Jenny Erpenbeck am Schicksal von Menschen im Haus an einem Märkischen See teilhaben. In 15 Episoden erzählt sie mit Ausschnitten aus Lebensgeschichten auch deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre. Geprägt vom Krieg sind alle Bewegungen, ganz nahe kommt man diesen Menschen, erlebt Liebe und Verzweiflung mit, vor allem aber Ankommen und Flucht. Der gemeinsame Ort verbindet die Schicksale, verwebt sie geradezu miteinander, oft ohne ihr Zutun und Wissen; wer weiss schon, wer vor einem so alles im neuen Haus gewohnt hat und wie es ihnen ergangen ist? Die Geschichten sind, man kann es sich vorstellen, vielfach tragisch und kaum auszuhalten. Was Menschen und Familien in dieser Zeit nicht alles widerfahren ist, was auch ihresgleichen mit angezettelt haben, und wie ein Haus das zu spüren bekommt.
Trotz allem bleibt etwas Lebensbejahendes im Raum. Vielleicht weil letzten Ende eigentlich das Haus im Mittelpunkt steht und mit ihm der See, der Garten, die Kiefer. Ihr geduldiges Sich-in-Besitz-nehmen-Lassen und der Schutz den sie geben, das strahlt wie eine permanente Zuversicht immer wieder durch die Zeilen. Ich spüre beim Lesen die Entlastung und Freude am eigenen Leib, wenn jemand in den See springt, sich am Ufer vom Wind umspielen lässt oder sich im nahen Wald kurzeitig unsichtbar macht.
Was auch immer Menschliches gerade geschieht, Verlass ist vor allem auf die Rhythmen der Natur um das Haus herum; da ist nichts unterbrochen, hier halten zyklische Lebensfäden. Beständig kümmert sich der Gärtner um die Früchte, das Laub, die Rosen, das Holz, die Wasserleitung, die Bäume. An ihm und seinem Tun wird besonders deutlich, dass hier der Raum jene Kraft ist, die Entlastung bringt, Halt und Bestand hat. Die Menschen, die kommen und gehen, lassen sich nieder für eine begrenzte Zeit, die Landschaft umarmt sie.
Zwischen den Fronten
«Unsere Svicha», schwärmte meine Grossmutter oft, wenn sie von ihrer Kindheit sprach, «und die stolzen Berge der Karpaten!» Als Kind musste ich annehmen, dass diese Orte so süss und duftend wie ein Stück frischer Kuchen sein mussten, jedenfalls war die Ausstrahlung meiner Grossmutter mit vergleichbar treuem Entzücken.
Dabei waren ihre Vorfahren erst drei Generationen zuvor dort gelandet, sie flüchteten Ende des 18. Jahrhunderts vor Hunger, Kälte und Not aus der Pfalz und hatten sich das Land am Fuss der Waldkarpaten unter grössten Mühen fruchtbar gemacht. Im ersten Weltkrieg verlief dann die Ostfront mitten durch diesen Landstrich. Infolge des Hitler-Stalin-Paktes 1939 fiel diese Erde der Sowjetunion zu und so wurden die Deutschstämmigen enteignet und nach Nordpolen in Auffanglager gebracht. Einen Koffer durften sie mitnehmen pro Person, keine Wertgegenstände. Fünf Jahre später kam die russische Armee von Osten, um das Land zu befreien und vertrieben diese Deutschen abermals, dieses Mal bis nach Ostdeutschland. Das Land, was sie verlassen hatten, heisst wörtlich übersetzt «Grenzland»: Ukraina.
Jetzt ist wieder Krieg im Land meiner Vorfahren. Echter Krieg. Es geht wieder um Territorium, die Bündnisgrenze von West- und Ostblock, Zugang zum Schwarzen Meer, Weltmachtstellung. Und wieder müssen Menschen ihre Häuser verlassen und sind auf der Flucht nach Westen, haben reale Angst um ihr Leben. Diese Nachrichten und Bilder wecken vererbten Schmerz in mir, lassen Szenen auftauchen, die nicht aus meinen eigenen Erinnerungen stammen: Ich sehe Menschen die schiessen und solche, die getroffen werden, ich sehe Weinende und Trauernde und Menschen die zittern vor Angst. Ich bin dankbar, dass ich daneben schöne, eigene Erinnerungen finde, von einer Reise in dieses Dorf meiner Grossmutter am Fusse der Waldkarpaten vor knapp 15 Jahren oder friedliche Strassenszenen aus Lemberg und Odessa. Und dennoch spüre ich eine markante Veränderung in meinem Heimatempfinden im Wissen, dass auf dieser Erde Krieg ist und Menschen westwärts flüchten.
Das Wort Zuflucht umkreist mich in diesen Tagen. Es trägt beides in sich, die Flucht und das noch unbekannte Ziel, den Aufbruch und das Ankommen, Panik und eine Hoffnung auf Unterschlupf. So wie meine Grosseltern aufgenommen wurden, so werden es hoffentlich auch jene Ukrainer:innen, die jetzt gerade die Grenze nach Polen oder in die Slowakai passieren. Vermutlich haben meine Grosseltern dort im Sachsen der Nachkriegszeit auch private Solidarität erfahren, ich hoffe sehr, diese wird auch jenen Menschen geschenkt, die jetzt bald dort ankommen werden.
Die Erde kann nicht flüchten, auch nicht die Bäume und Flüsse und Wege und schon gar nicht die Berge. Die glitzernde Svicha ist zum x-ten Mal Frontlinie und erlebt, wie Tiere und Menschen, die mit ihr verbunden waren, verschwinden. Sie kann ihr Schicksal nicht so einfach in die Hand nehmen und losziehen. Erfahrungsgemäss nimmt die Natur sogar auf, trägt und hält und verwandelt auch noch in solchen Zeiten unsere Trümmer und Rückstände.
Erinnern sich die Karpaten noch an vergangene Kriege? Wissen diese Urwald-Buchen, dass sie in einem Grenzland stehen, in dem sich immer wieder der gleiche grosse Machtkonflikt aufträumt? Wie findet Landschaft Zuflucht?
Heimweh
«Wie weit ist eigentlich die Ukraine weg von hier?», fragte mich Sadegh Anfang Februar unvermittelt. Ich antwortete schnell und verstand erst einige Minuten später, was er mich eigentlich gefragt hatte: «Wie weit ist die Kriegsgefahr weg und muss ich schon wieder überlegen zu flüchten?»
Jalrez, Ort in Afghanistan, 2375m über dem Meer, eine gute Stunde westlich von Kabul, im Sanglakh-Gebirge, einem Ausläufer des Hindukusch. Der Name Jalrez kommt wahrscheinlich von den Dari-Wörtern «jal» (Lichtreflexion) und "rez", (giessen). Das Ort liegt in einem schmalen grünen Tal, umgeben von sandbraunen, kargen Viertausendern. Die Region war früher vor allem bekannt für ihre Äpfel und Kartoffeln. Sie ist es heute, weil Jalrez am Fusse des militärisch wichtigen Unai-Passes liegt, der Kabul mit Herat verbindet. Im Sanglakh-Gebirge entspringt der mit 1.125 km längste Fluss Afghanistans, der Hilmend. Er fliesst in südwestlicher Richtung quer durch Afghanistan bis in den Iran, ist bedeutende Wasserquelle und ein ständiger Konfliktherd mit dem Nachbarland.
Sadegh ist in Jalrez aufgewachsen und heute ein junger Mann von ungefähr 25 Jahren. Sein Geburtsdatum kennt er nicht, niemand konnte schreiben in seiner Familie. Aufgewachsen in Armut und ohne Bildung, dafür mit streng religiöser Erziehung und vielen Traditionen, mit Onkeln und Tanten und einer grossen Schar Freunde. Mitten im Krieg. Als er seine Eltern verloren hat ist er aufgebrochen: quer durch Afghanistan in den Iran, von dort weiter in den Irak, Türkei, Griechenland, Bulgarien, Serbien, Ungarn, Österreich, Schweiz. Sein Ziel war London.
Säntis, Berg in der Ostschweiz, 2502m über dem Meer, im Alpstein, einem Vorboten der Alpen, eine gute Stunde östlich von Zürich. Der Name Säntis ist vom früh-rätoromanischen Eigennamen «Sambatinus» (der am Samstag Geborene) abgeleitet. Vom Säntisgipfel aus blickt man in ein grünes, weites Tal und in die gegenüberliegenden österreichischen Voralpengipfel. Im Tal wird Weinbau betrieben, es ist bekannt für seinen besonderen Mais und Obstbau. Es gibt zahlreiche Schlösser und Burgruinen. Das Tal wird vom Rhein aufgeschüttet, der nur ca. 150km flussaufwärts in den Bündner Alpen entspringt. Einen grossen Teil seiner Gesamtlänge von 1232 km ist er innereuropäischer Grenzfluss.
Sadegh lebt seit 5 Jahren in der Ostschweiz und beginnt, sich hier ein neues Leben aufzubauen. Inzwischen verdient er gut, hat eine eigene Wohnung, ein Auto. Aber noch immer kaum Bildung, er ist entwurzelt und ohne kulturelle Orientierung, ohne Onkel und Tanten. Mit wenigen Freunden. Dafür mit ungeahnten Möglichkeiten und inzwischen zwei amtlich geführten Geburtsdaten. Heimsuchung, Heimat, Heimweh - alles ist durcheinandergeraten. «Sobald Frieden ist, gehe ich wieder nach Hause», sagt Sadegh, «auch wenn es hier sehr schön ist.
Foto: Sadegh Yadegari, Berggasthaus Säntis, 2021
Dozentin, Sozialpädagogin, Bildungsmanagerin, tätig in analog, Mitwirkende in nature&healing, Ko-Initiantin der Natur-Dialog Bewegung. Gelegentlich Schreibende, Hobby-Schneiderin, Ritualtänzerin und immer wieder neugierige Reisende.
ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.