Beharrlichkeit und Sportlichkeit für Systemische Therapie

Im Rahmen der Gesprächsreihe zur Anerkennung der Systemische Therapie in Deutschland trafen sich im März 2020 Ulrike Borst, Rüdiger Retzlaff und Matthias Ohler.
Ulrike Borst war viele Jahre Vorsitzende der Systemischen Gesellschaft, auch in Zeiten des Prozesses der sozialrechtlichen Anerkennung der Systemischen Therapie. Im Gespräch bringt Ulrike Borst auch ihre Erfahrungen aus ihrer jahrzehntelangen praktischen Arbeit in Psychotherapie und Weiterbildung in der Schweiz ein, wo andere kulturelle Kontexte eine Rolle spielten und spielen als in Deutschland. Wieviel Beharrlichkeit braucht es für ein Engagement zur Erreichung langfristiger Ziele? Was nutzt es hier, vieles eher sportlich als zu verbissen zu nehmen? Und welche Herausforderungen sind für die zukünftige Entwicklung Systemischer Therapie und die Approbationsausbildungen abzusehen und zu meistern?



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Transkription des Interviews


Ohler Herzlich willkommen, Ulrike Borst und Rüdiger Retzlaff, zum Gespräch hier auf Zoom. Wir treffen uns in der Videokonferenz. Man könnte das für normal halten, in den heutigen Zeiten ist es das auch. Aber der zeitliche Kontext ist, wie er ist, und wir werden vielleicht in einem halben Jahr anders drauf gucken. Toll, dass ihr euch die Zeit genommen habt, zu dem Gespräch zu kommen und ...


Borst ... ja, sehr gerne.


Ohler ... und wir werden uns mit einigen Fragen beschäftigen zur Entwicklung der Anerkennung der systemischen Therapie, und deswegen übergebe ich jetzt gleich mal zur Einstiegsfrage das Wort an Rüdiger Retzlaff.


Retzlaff Ja, liebe Ulrike, schön, dass du zu diesem Gespräch bereit bist. Wir haben ja inzwischen auch schon etliche Jahre zusammengearbeitet in Sachen wissenschaftliche und sozialrechtliche Anerkennung. Und vielleicht magst du nochmal sagen wie du eigentlich zu diesen Arbeiten, zu diesem Projekt, dazugekommen bist.


Borst Ja, wie ja sicher viele wissen, arbeite ich eigentlich schon mein ganzes Berufsleben lang in der Schweiz und habe aber von da aus immer mit großer Sorge gesehen, dass in Deutschland ein gewisser Sonderweg beschritten wurde mit diesen Richtlinienverfahren. Ich habe ja die Anfänge davon auch mitgekriegt. Dass ich in die Schweiz überhaupt gegangen bin, beruflich, hat auch ein bisschen damit zu tun. In der Schweiz ist die systemische Therapie fraglos anerkannt, so wie andere Verfahren auch, die ähnlich lange und gründliche Aus- und Weiterbildungen voraussetzen. Ja, dann wurde ich Ende 2012 gefragt, ob ich bereit wäre, den Vorsitz der systemischen Gesellschaft zu übernehmen. Und da hab ich plötzlich die Möglichkeit gesehen, mich noch mal ordentlich dafür einzusetzen, dass diese sozialrechtliche Anerkennung vorangeht. Ich muss das noch einmal erklären. Auch aus dem schweizer Blickwinkel war das besonders wichtig, weil in der Schweiz sehr viele deutsche Professorinnen und Professoren sind in der Psychologie, Psychotherapie. Und sehr viele Chefärzte, Chefärztinnen, die dann immer so das Gefühl haben, ja, systemische Therapie, die ist nicht so viel wert, ist doch nicht anerkannt. Das wollte ich ändern.


Retzlaff Ich erinnere mich noch, dass ganz zu Beginn des Projektes 2003 es deutlich umstritten war in der Systemischen Gesellschaft und auch in den systemischen Kreisen insgesamt, ob man überhaupt eine wissenschaftliche Anerkennung anstreben soll. Aber wie kam das, dass das für dich so gar keine Frage gewesen ist? War das ein schweizer Pragmatismus? Ich weiß nicht, was dich dazu bewogen hat.


Borst Ja, schweizer Pragmatismus. Das ist ein gutes Stichwort. Das war sicher ein Punkt. Meine allerersten Zeiten in der Berufswelt mit der Psychologie waren in der Wissenschaft. Das war damals noch Grundlagenforschung, Psychopathologie. Ich habe da einen Draht zur Wissenschaft, hab allerdings immer schon auch mit großer Sorge gesehen, dass die Evidenzbasierung in der Psychotherapie auch seltsame Blüten getrieben hat. Das habe ich immer kritisch gesehen, wie sehr da auf bestimmte Studiendesigns abgehoben wurde. Aber jetzt weiß ich gar nicht genau, war das die Frage? Also wie ich jetzt zu Wirksamkeitsstudien stehe? War das die Frage?


Retzlaff Ja, ich kann es nochmal anders sagen. Ich habe dich ja erlebt als jemanden, oder erlebe dich als jemanden, die durchaus auch für so einen verstehenden narrativen Ansatz in der systemischen Therapie steht oder damit sehr vertraut ist auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite habe ich immer geschätzt, dass du auch, was empirische Forschung und Evidenzbasierierung im Sinne der APA und so weiter angeht, dich sehr vertraut gemacht hast. Das ist ja ein Spagat, den du aber irgendiwe hinbekommen hast, und andere sehen das als einen Widerspruch, den man nicht gut lösen kann. Aber das war für dich offensichtlich durchaus auch kompatibel.


Borst Ist es sehr. Ich lese viel und gerne und bin das sowieso gewöhnt, mir in der Literatur Sachen auszusuchen, von denen ich denke, das scheint sich bewährt zu haben, und dann probiere ich das selber auch aus. Und was zu mir passt in meiner Arbeitsweise, das verwende ich dann auch, und wenn das nebenbei auch noch wissenschaftlich belegt ist, dann ist das umso besser. Andersherum gibt es Dinge, wo sich durch Wissenschaft und Forschung irgendwann ergibt, dass man das kritisch sehen muss, und dieses Wissen verwende ich dann auch in meiner täglichen Arbeit. Also zum Beispiel Debriefing, die ganze Forschung zu Debriefing. Ich habe Debriefing gelernt, aber dann habe ich irgendwann die Studien gelesen, was man da alles beachten muss. In der Regel nützt nämlich Debriefing durch Professionelle nichts, und dann habe ich das auch in der Praxis anders verwendet.


Retzlaff Es gab ja eine interessante Begegnung, die wir auf der Tagung der AFTA hatten, der American Family Therapie Association in Chicago, und ich hatte damals unsere Ergebnisse, soweit wir sie hatten, vorgestellt, und wir hatten ein paar sehr nette Begegnungen in dem sozialen Rahmenprogramm. Und ich glaube – ich habe es dir noch nicht erzählt – das war im Juni und später wieder, bin ich dann von den Kollegen angemailt worden, die haben gefragt "Na, habt ihr jetzt endlich die Anerkennung?” Und ich hätte im Leben nicht gedacht, dass es nochmal 15 Jahre dauern würde so ungefähr, bzw. 14 Jahre, glaube ich. Also die Uhren ticken dort offensichtlich doch ganz anders als bei uns. So gesehen war es auch ein ziemlicher Marathon, den wir da hinbekommen haben, und ich glaube, es war auch wirklich entscheidend, dass die Fachgesellschaften irgendwann sich dann so stark engagiert haben für diesen Prozess. Ich glaube, dieser Wechsel von der rein wissenschaftlichen Arbeit ... Gut, wir haben uns auch im politischen Feld getummelt und vorgearbeitet am Anfang. Aber ich glaube, es war ganz wichtig, dass die SG und DGSF mitgetragen haben.


Borst Ja, das glaube ich auch, dass wir da nochmal eine Schubkraft entwickelt haben. Auch durch die Zusammenarbeit der beiden großen Verbände ist das sehr gut gelungen. Ich denke aber auch, dass wir in einem guten Moment noch mal politisch aktiv geworden sind. Also wissenschaftlich aktiv, das ist ja durch die Expertise geschehen, durch dieses Buch. Schon das war ja eine sehr gute Zusammenarbeit der beiden Fachverbände, dass das überhaupt zustande kam, und natürlich von euch vier Autorinnen, Autoren. Aber der Moment war dann jetzt einfach günstig. Aber sehr, sehr spät. Das stimmt. Wir haben eine ganze Generation sozusagen verloren zwischen 1999 - 2019. Das ist quasi eine Generation von Berufsleuten.


Retzlaff Es gab ja vielleicht eine Phase, die nach außen hin eher ein bisschen ruhig gewirkt haben mag, aber in der Zeit, als der GBA noch nicht geprüft hat, sind ja wichtige Artikel für Family Process erschienen, die dann auch wieder – das haben mir auch schweizer Kollegen zurückgemeldet, auch aus anderen Ländern – extrem wichtig dafür waren, dass nicht nur in Deutschland das Verfahren als wissenschaftlich fundiert angesehen wurde, sondern insgesamt haben wir eigentlich ja auch das geschafft, dass in anderen Ländern im Gesundheitssystem die systemische Therapie ganz anders dasteht. Was sich dann wieder in Deutschland gut ausgewirkt hat. Ich habe also immer wieder dich zitiert, dass in der Schweiz und so weiter das Verfahren schon lange etabliert ist. So hat man dann über die Bande spielen müssen. Was waren für dich Höhepunkte in diesem Prozess? Was hat dir am meisten Spaß gemacht, und was fandest du vielleicht auch am nervigsten?


Borst Ich fange mal mit dem Nervigsten an. Ich habe Jahre gebraucht ... eigentlich, würde ich mal sagen, mindestens die Hälfte der Zeit, meiner Zeit als erste Vorsitzende der SG – diese ganzen Abkürzungen zu verstehen, diese ganzen Regularien zu verstehen. Ich weiß gar nicht, ob ich das schon komplett geschafft habe. Jetzt, nach sieben Jahren. siebeneinhalb Jahren. Ja, das fand ich schon nervig. Und auch die Art zu politisieren im Gesundheitswesen war ich so nicht gewöhnt aus der Schweiz ... Lobbyarbeit gibt es in der Schweiz auch, aber diese Art von Lobbyarbeit, die war mir fremd. Das hat natürlich auch mit der Größe des Landes zu tun und mit der Zahl der Leute, die da überhaupt beschäftigt sind. Föderalismus, den es zwar in der Schweiz auch gibt ... Ja, das war ein bisschen seltsam, oder nervig. Aber was mir großen Spaß gemacht hat, das war schon auch die Auseinandersetzung zum Beispiel beim IQWiG, bei den Anhörungen. Das hat mir, bei aller Nervosität, die das verursacht hat im Vorfeld, richtig Spaß gemacht, zu merken, da sind Leute, die bemühen sich wirklich zu verstehen, was ist das Besondere am systemischen Denken. Auch mit denen nochmal zu diskutieren Wie schwierig ist das eigentlich zu sagen, welche Techniken gehören denn zu welchem Verfahren? Das finde ich ja ziemlich schwierig bis unmöglich. Das haben wir den Fachleuten vom IQWiG eigentlich auch ganz gut erklären können. Und ich denke mal, dass das Ergebnis des IQWiG, also dieser relativ mittel bis positive Bericht, auch damit zusammenhängt, dass die verstanden haben. Das hat Spaß gemacht. Spaß gemacht hat immer wieder die Zusammenarbeit der beiden Verbände, zu merken, wir werden gehört. Das hat Spaß gemacht.


Ohler Ich greif das jetzt mal auf... Ich finde es sehr schön, dass der Rüdiger diese beiden Aspekte bringt, denn es wird ja weitergehen. Es gibt ja weitere Prozesse, die anstehen, mit Kindern und Jugendlichen und so. Wenn ihr als die Erfahrenen, die so lange Prozesse hinter sich gebracht haben und du auch vom Spaß sprichst, also gerade dieses "die Leute haben verstanden", das ist ja etwas, wo der Spaß, wenn ich das richtig verstehe, auch mit der Begegnung zu tun hat und mit der Art, wie man sich begegnet. Es werden sicher auch noch viele Leute kommen, die das weitertragen, weitere Prozesse machen. Habt ihr einen ganz spezifischen Rat, wie man diese Ausdauer hat, die ihr offensichtlich hattet? Kann man das in einen Rat bringen oder sowas ähnliches?


Borst Soll ich mal anfangen? Ich bin dafür berühmt berüchtigt, das ist so ... ich sage manchmal, das ist mein Westfalen-Schädel. Bin wahnsinnig stur oder, positiv gesagt, beharrlich. Das liegt in meiner Natur. Ich weiß nicht, ob ich das sonst geschafft hätte.


Ohler Beharrlichkeit.


Borst Rüdiger, bei dir hat das einen ganz anderen Hintergrund. Ich habe mich da völlig freiwillig reinbegeben. Habe auch meine gute Stelle oder meine gute Arbeit in der Schweiz gehabt. ... habe das also nicht unbedingt gebraucht. Aber ja, ich setze mich auch gerne für etwas ein, das ich für sinnvoll halte. Und dann bin ich wahnsinnig stur und beharrlich.


Ohler Sportlich - Beharrlich. Das nehme ich jetzt mit. Danke. Ok.


Retzlaff Und dann gibt es ja auch so Situationen ... Ich fand übrigens diese Situation bei IQWiG schon auch ziemlich dramatisch. Matthias, du weißt das gar nicht, aber wir hatten in dieser Behörde in Köln eine ganz wichtige Anhörung, Ulrike und ich. Ich bin sehr früh losgefahren mit einem großen Zeitpuffer, und es sind nacheinander dann zwei ICEs auf dem Weg nach Köln mit Getriebeschaden liegengeblieben, sodass ich ungefähr 20 vor 1 am Hauptbahnhof ankam. Bin in ein Taxi gesprungen, das mich hinbringen sollte, und das ist an einer Gewerkschaftsdemonstration hängengeblieben nach 50 Metern. Dann bin herausgesprungen, habe mich durch diese Demonstration einen Weg gebahnt, ein neues Taxi erwischt und bin praktisch eine Minute vor 1 Uhr da aufgelaufen. Und dann habe ich die Ulrike da angetroffenen, und ich fand, wir hatten da eine unheimlich gute, kompatible, komplementäre Argumentationslinie gefunden. Und das war so diese ganze Aufregung, also das war irgendwie das perfekte Timing, und ich fand auch, dass die Fachleute dort super sachlich gewesen sind, und das war irgendwie eine gute Sache. Und dass man da auch punktet, hat mich ermutigt, dann entsprechend noch eine ganze Weile weiterzumachen.


Ohler Das steht ja fast paradigmatisch, diese Anreisegeschichte, zu dem ganzen Prozess. Also ich bin sehr froh, dass diese Geschichte erzählt wird hier gerade. Das sind Dinge, die auch lange übrig bleiben als Bild.


Borst Ich muss aber auch noch einmal sagen Es ging dann ja noch viel weiter, und ich war auch beim GBA dabei. Da wurden wir nicht mehr gehört... nur bei der Anhörung, aber dann später bei der Schlussfassung durften wir nichts mehr sagen. Und das war unglaublich spannend, also ich habe bei keinem Krimi so gebibbert, ob das wirklich gut geht. Und das ist schon so eine ... diese ganze Abstimmungsarithmetik, das fand ich schon auch etwas seltsam, wen man da vorher ansprechen musste, und die Vorstandsbeauftragen – Kerstin Dittrich und Sebastian Bauman – die haben da unglaublich viel gute Arbeit geleistet, indem sie die richtigen Leute im richtigen Moment angesprochen haben. Die haben da ein sehr gutes Gespür dafür gehabt. Das griff so gut ineinander, das fachliche Vertreten der systemischen Therapie und das politische Agieren. Das lief sehr gut.


Retzlaff Ich glaube, dass wir da vielleicht auch noch einen Vorteil auf unserer Seite haben, den man zunächst mal gar nicht so bemerkt. Ich glaube, also so wie du gesagt hast, dass in der Schweiz ein bisschen die Atmosphäre anders ist, vielleicht auch etwas sachlicher, was die Wissenschaftlichkeit der systemischen Therapie angeht . Ich glaube, das hat sich im Laufe der Jahre auch in Deutschland doch ganz schön gewandelt. Wir haben auf vielen Ebenen erreicht, dass bei vielen Kollegen, die auch aus anderen Richtlinienverfahren kommen, eine Wertschätzung da ist. Dass viele Chefärzte, viele ärztliche Kollegen, viele Psychologen, viele Sozialberufler das Verfahren schätzen. Und ich glaube, das hat sich auch bis in die Politik herumgesprochen. Und ich glaube, dass wir da mehr und mehr dann ... vielleicht nicht direkt Rückenwind gehabt haben, aber einfach ein besseres Klima für uns. Und das ist sicherlich durch viele einzelne Beiträge gekommen, aber das hat es sicherlich auch leichter gemacht, dass wir diesen Erfolg dann letzten Endes erreichen konnten.


Ohler Das ist vielleicht auch nochmal ein Punkt, das will ich nochmal einbringen. Die Frage habe ich immer wieder gestellt Wenn man so lange miteinander arbeitet und am gleichen Ziel arbeitet, und natürlich jeder auch noch sonstige Herausforderungen hat in Beruf, Weiterbildung, Lehre, praktischer therapeutischer Arbeit, und man sich immer wieder begegnet und neue Termine wahrnehmen muss, was ist das Wesentliche, das einen da zusammenhält? Also im Sinne ... ich will da jetzt keine Heldenstory erfragen, sondern es gibt da sicher auch schwierige und anstrengende Phasen. Was muss man beherzigen über deine Beharrlichkeit hinaus, was du sagtest, oder über das Sportliche, was Rüdiger sagte, in der Zusammenarbeit? Was ist da wesentlich, dass man über so lange Prozesse so gut zusammenarbeitet, und so erfolgreich?


Borst Also ich war immer sehr dankbar, dass wir unsere Narzissmen irgendwie sehr gut zurückgestellt haben, soweit wir die überhaupt haben. Also wir sind alle nicht die Obernarzissten, das auf keinen Fall, und wir haben das immer sehr gut geschafft, uns auch gegenseitig das Wort zu überlassen, Raum zu lassen, haben das immer auch anerkannt, was der andere und die andere so gebracht hat. Das war total wichtig. Das geht nicht mit allen Personen.


Ohler Stimmst du zu, Rüdiger? Ist das ein wesentliches ...?


Retzlaff ... ja, ja, ich glaube, das ist ganz wichtig, und ich glaube dann auch so etwas wie ... Ich würde das Bezogenheit nennen. Also, dass man irgendwie ein Sachziel gemeinsam befolgt, aber irgendwo auch eine Wertschätzung für die andere Person. Ich glaube, das braucht man einfach, und das war durchaus gegeben, ganz bestimmt.


Borst Wir wissen voneinander auch eigentlich ganz gut, wie wir arbeiten. Jetzt Rüdiger und ich auf jeden Fall. Und auch viele von den anderen, die beteiligt waren, habe ich schon arbeiten gesehen und habe da großes Vertrauen “Sind die Leute gut?” Das ist sicher auch nützlich.


Retzlaff Eine Frage, die uns ja manchmal gestellt wird, die ich jetzt vielleicht noch einmal aufwerfe Die wissenschaftliche und die sozialrechtliche Anerkennung hat viele Vorteile, ist aber natürlich auch eine ganz schöne Herausforderung für die Lehre, für die Praxis der systemischen Therapie, für die Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen ... Was, glaubst du, wird aus seiner Sicht, Ulrike, denn da auf uns zukommen, oder was wird zu leisten sein?


Borst Ich fände am allertrauigsten, wenn wir nicht mehr interdisziplinär lernen dürften. Das wird sicher sehr viel schwieriger in den Approbationsausbildungen. Das ist was, wofür ich bei unserem Institut in Zürich immer sehr gekämpft habe, dass wir weiterhin Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter, Sozialpädagogen ausbilden dürfen in gemeinsamen Gruppen. Wir wurden mehrfach schon fast genötigt, das zu ändern und so eine Art Monokultur nur für die Psychologen herzustellen, und da habe ich mich immer standhaft geweigert. Das hat auch geklappt. Aber da frage ich mich, wie das in Deutschland weitergeht.


Ohler Also interdisziplinär und, wenn ich es so für mich übersetze, auch interprofessionell, von der Professionalität ...


Borst ... Ja, ist das richtigere Wort. Also das muss ich schon sagen, dass bei uns am Institut z. B. die Psychiater von den Sozialarbeitern so viel lernen können, und umgekehrt natürlich auch. Und wir sind jetzt aber gezwungen, unsere Curricula sehr viel störungsspezifischer auszurichten, sehr viel klinischer zu werden in den Curricula. Und da bin ich gespannt, ob das noch gelingen kann, dieses interdisziplinäre Lernen zu gewährleisten.


Ohler Hast du schon eine Idee oder habt ihr eine Idee? Wenn das da oder dort nicht so ganz gelingen sollte, dass sozusagen die Vorgaben schärfer werden, wie man das kompensieren kann? Ich meine, Systemikerinnen und Systemiker sind ja bekannt dafür, dass sie – der Rüdiger hat vorhin erzählt vom Über-die-Bande-spielen – dass sie neue Ideen haben, wie man damit umgehen kann? Wird sicher nicht einfach.


Borst Ich bin zwar auch gegen das modulare Lernen – also wenn man es übertreibt jedenfalls – aber man könnte sich ja so ein paar Zusatzmodule oder viele Zusatzmodule vorstellen, wo man doch eben zusammen lernt. Einen Kernbestand irgendwie, Psychopathologie oder störungsspezifisches Wissen im Bereich der Psychologen anbietet, und viele viele Zusatzmodule, wo die verschiedenen Berufsgruppen zusammen lernen. Sowas könnte ich mir vorstellen.


Retzlaff Zum einen hatte ich lange Zeit ja immer gedacht, Trends, die es in den USA sozialpolitisch gibt, die schwappen nach fünf bis zehn Jahren auch zu uns rüber. Die haben so einen Mangel an Ärzten bzw. die sind so teuer, dass die inzwischen ja doch sehr viel stärker auch Polikliniken haben, in denen andere Berufsgruppen als Ärzte und Psychologen immer auch bestimmte Aufgaben übernehmen. Mit dem neuen Psychotherapeutengesetz bei uns sieht es aus, als ob das eine ganz andere Richtung geht. Aber ich frage mich, ob das denn wirklich auch so bleiben wird. Vielleicht gibt es da eine Bewegung und es gibt ja auch Überlegungen. Diese Weiterbildung nach dem neuen Psychotherapeutengesetz sieht ja unter Umständen auch im Kinder- und Jugendlichen-Bereich vor, dass da auch irgendwann in einem Kinder- und Jugendhilfe-Bereich eine Kooperation entstehen soll. Und ob das dann diese alte, bewährte Form der Zusammenarbeit ein Stück aufwiegt, da bin ich noch skeptisch. Aber es wäre zumindest ein Ansatz.


Borst Da würde es noch eher gehen, ne? Ja, also die wahnsinnig kreativen Ideen fehlen mir da noch.


Ohler Hmm.. Gut, da gibt es auch noch andere Leute, du hast schon so viele kreative Ideen gehabt ... Deswegen ist es ja wichtig, dass du das jetzt angesprochen hast, weil auf die Weise Leute vielleicht auf was schauen, was ihnen noch gar nicht so aufgefallen ist, und dann wirklich Ideen haben. Das ist doch prima. Also bei aller Besorgnis, die man hat ... Wenn sie einmal geäußert ist, merken Leute, dass man auf Ideen kommen muss.


Ohler Rüdiger, hast du noch eine abschließende Frage vielleicht oder ...? Ansonsten ...


Retzlaff Och, Ich glaube, das war schon jetzt eine ganz runde Sache. Am meisten würde ich mich freuen, wenn es eine Begegnung gäbe, sozusagen nicht nur virtuell, sondern wenn wir eine Gelegenheit hätten, in Person, also real zu feiern, noch einmal anzustoßen. Dieses Jahr ist das Jahr, in dem sich das ganz offiziell materialisiert. Ich glaube, irgendwann finden wir schon eine Gelegenheit, und wenn die DGSF-Tagung im September dann doch sein sollte, wunderbar. Und wenn nicht, dann finden wir irgendwie eine andere Chance dafür.


Borst Das fände ich auch toll. Jetzt bin ich aber erstmal froh, dass wir alle jetzt technisch einen Sprung nach vorne machen, glaube ich. Also, weil diese Reiserei, das wollte ich zum Schluss noch sagen, apropos nervig, das war schon auch ... Ich habe keine Flugscham entwickelt, aber ich hätte sie eigentlich entwickeln müssen. Bin so oft nach Berlin geflogen, das war ganz schrecklich. Und vieles davon hätte man vielleicht mit diesen technischen Mitteln auch machen können.


Ohler Mit diesem Reframing, das du anbietest, dass wir was Neues lernen und Sprünge machen in Zeiten, die das von uns fordern, glaube ich, können wir sagen "Danke, dass wir die Zeit füreinander hatten und dass die Technik uns das zur Verfügung gestellt hat, miteinander zu sprechen." Trotzdem würde ich mir ein Bier, einen Sekt oder von mir aus Kaffee live mit euch wünschen. Und zwar möglichst bald.


Retzlaff Danke für eure Zeit!