Therapie

engl. therapy, franz. thérapie f, von griech. therapeía = (a) »dienen, Bedienung, Hochachtung gegenüber Eltern« (Elternschaft) »bzw. Höhergestellten«, (b) »Dienerschaft, Gefolge«. Der Begriff bezeichnet in der Medizin Behandlung von Krankheiten und Verletzungen, in anderen Arbeitskontexten (Kontext) auch von Problemen, die nicht immer einer Störung von Krankheitswert zugeordnet werden. Ziel des Therapeuten ist Heilung bzw. Beschleunigung der Heilung, Beseitigung oder Linderung von Symptomen bzw. Wiederherstellung körperlicher (Körper) und psychischer (Psyche) Funktionen und/oder Reorganisation des Selbstkonzepts. Psychotherapie ist ein zumindest teilweise bewusster und geplanter interaktioneller (Interaktion) Prozess, innerhalb dessen psychisch oder psychosomatisch bedingte Krankheiten, Leidenszustände und/oder Verhaltensstörungen mittels verbaler und/oder nonverbaler Kommunikation in Richtung auf ein definiertes, möglichst gemeinsam erarbeitetes Ziel behandelt werden (Strotzka 1978).


Systemische Therapie kann als Schaffen von Bedingungen für die Möglichkeit selbstorganisierter (Selbstorganisation) Ordnungsübergänge in komplexen (Komplexität) biopsychosozialen (Sozialsystem) Systemen unter professionellen Bedingungen definiert werden (Schiepek 1999). Um Therapie spezifisch gestalten zu können, muss Diagnostik erfolgen. Auf der Basis der Ergebnisse werden Diagnosen bzw. Hypothesen (Hypothetisieren) erstellt. Therapie besteht aus Maßnahmen zur Behebung der Probleme bzw. Symptome, allerdings werden in der systemischen Therapie bereits Fragen als Intervention angesehen, sodass Diagnostik und Therapie gleichzeitig stattfinden.


Unterschiede zwischen Therapie und Beratung ergeben sich aus Kontext und Zielsetzung. Während in der Therapie die Behandlung einer Störung im Fokus steht, geht es in der Beratung eher um Vermittlung von Wissen. Beratung betont Problemlösungen (Lösung), Psychotherapie die Gestaltung der Beziehung und die Erforschung des Selbst (was aber z. B. für lösungsorientierte (Lösungsfokussierung) Therapie nur bedingt zutrifft, vgl. Steve de Shazer 2004). Dauer, Ausmaß der Vertiefung oder thematische Begrenzung sind ebenfalls Unterscheidungskriterien, die nicht für alle Therapieschulen gelten. Die Grenzen zwischen Therapie und Beratung können fließend sein. So meint Haja Molter (1999):


»Ich teile mit vielen Kolleginnen und Kollegen die Überzeugung, dass es nützlich sein kann, Ressourcen, die von außen kommen, an Klientensysteme heranzutragen. Ich habe kein Problem damit, wenn mich jemand fragt, wo bitte geht’s zum Bahnhof, ihm einen Stadtplan oder eine genaue Wegbeschreibung zu geben. Denn wir können nicht immer davon ausgehen, dass Klienten oder Hilfesysteme über genügend Ressourcen verfügen.«


Sowie (2005):


»Lösungen können auch Verordnungen oder Verschreibungen sein, diese können auch als Optionen angeboten werden. Es könnte ja sein, dass es unter Millionen von Kunden auch einige gibt, die nicht kundig sind und Therapie aufsuchen, weil sie sich kundig machen wollen.«


Zum Unterschied zwischen Therapie und Erziehung: Während in der Erziehung ein Erzieher die Ziele definiert und dementsprechend handelt, arbeitet ein Therapeut in Richtung der vom Klienten angestrebten Ziele (Rotthaus 1990). In Erziehungsberatungsstellen ist Verzahnung von Therapie und Erziehung ebenso praktizierter Alltag wie in der stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung, wo stets sowohl Therapeuten als auch Erzieher zum Behandlersystem gehören.


Nach Klaus Grawe (2005) lassen sich therapieschulenübergreifend als Wirkfaktoren der Psychotherapie nachweisen:


• therapeutischeBeziehung, Ressourcenaktivierung


• Problemaktualisierung (z. B. durch Aufsuchen oder Herstellen realer Situationen, in denen die Probleme auftreten, Einbeziehen von Personen in die Therapie, die an den Problemen beteiligt sind; oder therapeutische Techniken wie intensives Erzählen, Imaginationsübungen, Rollenspiele)


• motivationale Klärung (Ursprünge, Hintergründe, aufrechterhaltende Faktoren des problematischen Erlebens und Verhaltens)


• Problembewältigung (aktive Unterstützung darin, positive Bewältigungserfahrungen im Umgang mit seinen Problemen zu machen).


Kurt Ludewig (1987) schlägt für die praktische Gestaltung des systemischen Therapieprozesses folgende Leitsätze und -fragen vor:


A) Erzeugung eines therapeutischen Systems


1) Definiere dich als Therapeut! – Übernehme ich Verantwortung Erzeugung eines therapeutischen Systems als Therapeut?


2) Sieh dich positiv! – Stehe ich zu meinen Möglichkeiten?


B) Erhaltung eines therapeutischen Systems


3) Orientiere dich am Klienten! – Gehe ich von meinen Klienten


4) Werte positiv! – Suche ich nach Positivem?


5) Beschränke dich! – Konzentriere ich mich auf das Nötigste?


6) Sei bescheiden! – Erkenne ich Lösungen als ihre (= der Patienten bzw. Klienten) Leistung an?


C) Verwirklichung von Therapie im Sinne der Anregung zu signifikanten Veränderungen


7) Bleibe beweglich! – Wechsele ich meine Perspektiven?


8) Frage konstruktiv! – Stelle ich Fragen, die weiterführen?


9) Interveniere sparsam! – »Verstöre« ich behutsam?


D) Auflösung des therapeutischen Systems


10) Beende rechtzeitig! – Kann ich schon beenden?


... und + 1: Befolge nie blind Leitsätze! – Habe ich sie auf mich im Rahmen dieses therapeutischen Kontextes bezogen?


Die »Reflexionsliste zur systemischen Prozessgestaltung« von Jochen Schweitzer, Elisabeth Nicolai und Nadja Hirschenberger (2005) erfasst systemisches Arbeiten auf den Ebenen »Klinische Praxis mit Klienten und Bezugspersonen«, »Interne Kooperation, d. h. Umgang mit und zwischen den Mitarbeitern«, »Organisations- und Leitungskultur« (Organisation) sowie »Umgang mit der relevanten Umwelt, d. h. Überweisern, Kostenträgern, anderen Facheinrichtungen«. Eine Modifikation bezüglich schriftlicher Kommunikation habe ich vorgeschlagen (Spitczok von Brisinski 2006).


Mit einem oder zwei Therapeuten wird heute systemische Therapie als Einzeltherapie (Boscolo u. Bertrando 2000), Gruppentherapie (Molter u. Hargens 2006; Vogt u. Caby 2010), Familientherapie, Multifamilientherapie (Asen u. Scholz 2009) oder Therapie mit größeren Systemen (Imber-Black 2006) durchgeführt. Weitere Personen auf der Behandlerseite können beim reflektierenden Team (Reflektierendes Team) beteiligt sein. Im Rahmen stationärer systemischer Behandlung besteht die therapeutische Gemeinschaft (Rotthaus 1990) sowohl aus Professionellen (Ärzten, Psychologen, Pflege- und Erziehungskräften, Fachtherapeuten, Sozialarbeitern usw.) als auch aus der Gruppe der Mitpatienten, die sich gegenseitig in ihrem Therapieprozess unterstützen (Milieutherapie). Ein systemisches Therapieverständnis ist nicht über eine bestimmte Intervention definiert, sondern über die Frage, ob die Intervention vor dem Hintergrund eines Verständnisses von Systemzusammenhängen erfolgt. Daher können auch pharmakotherapeutische Verfahren als systemische Therapien bezeichnet werden (Spitczok von Brisinski 2003).


Verwendete Literatur


Asen, Eia u. Michael Scholz (2009): Praxis der Multifamilientherapie. Heidelberg (Carl-Auer).


Boscolo, Luigi u. Paolo Bertrando (2000): Systemische Einzeltherapie. Heidelberg (Carl-Auer), 2., korr. Aufl.


de Shazer, Steve (2004): Das Spiel mit Unterschieden. Wie therapeutische Lösungen lösen. Heidelberg (Carl-Auer), 4., korr. Aufl.


de Shazer, Steve (2010): Der Dreh. Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie. Heidelberg (Carl-Auer), 11. Aufl.


Grawe, Klaus (2005): (Wie) kann Psychotherapie durch empirische Validierung wirksamer werden? Psychotherapeutenjournal 1: 4–11.


Imber-Black, Evan (2006): Familien und größere Systeme. Im Gestrüpp der Institutionen. Heidelberg (Carl-Auer), 5. Aufl.


Ludewig, Kurt (1987): 10 + 1 Leitsätze bzw. Leitfragen. Grundzüge einer systemisch begründeten klinischen Theorie im psychosozialen Bereich. Zeitschrift für systemische Therapie 5: 178–191.


Molter, Haja (1999): Weise in Beziehungen oder »Beziehungswaisen«. Systemische Therapeutinnen und Therapeuten im Spannungsfeld von Neutralität und Affekt. Systhema 13 (1): 41–49.


Molter, Haja (2005): Verordnen, Lösungsorientierung und Kundendienst. In: Ingo Spitczok von Brisinski: Systemisches Gedankenregister. Verfügbar unter: http://www.systemisch.net/gedankenregister/verordnen.htm [09.01.2012].


Molter, Haja u. Jürgen Hargens (2006): Ich, du, wir und wer sonst noch dazugehört. Systemisches Arbeiten mit und in Gruppen. Dortmund (Borgmann), 2. Aufl.


Nemetschek, Peter (2006): Systemische Familientherapie. Lebensfluss-Modelle und analoge Methoden für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Eltern. Stuttgart (Klett-Cotta).


Rotthaus, Wilhelm (1990): Stationäre systemische Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dortmund (Modernes Lernen).


Schiepek, Günter (1999): Die Grundlagen der Systemischen Therapie. Theorie – Praxis – Forschung. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).


Schweitzer, Jochen, Elisabeth Nicolai, Nadja Hirschenberger (2005): Wenn Krankenhäuser Stimmen hören. Lernprozesse in psychiatrischen Organisationen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).


Spitczok von Brisinski, Ingo (2003): Systemische und lösungsorientierte Ansätze in der Psychopharmakotherapie des Kindes- und Jugendalters. Zeitschrift für systemische Therapie 21: 157–167.


Spitczok von Brisinski, Ingo (2006): Systemische Narrative, Qualitätsmanagement, Psychiatrie & Krankenkassen: Eine Reflexionsliste zur systemischen Berichtgestaltung. Kontext 3: 275–296.


Strotzka, Hans (1978): Psychotherapie: Grundlagen, Verfahren, Indikationen. München/Wien/Baltimore (Urban und Schwarzenberg), 2., überarb. u. erw. Aufl.


Vogt, Manfred u. Filip Caby (Hrsg.) (2010): Ressourcenorientierte Gruppentherapie mit Kindern und Jugendlichen. Dortmund (Borgmann), 2., verb. Aufl.


Weiterführende Literatur


Kriz, Jürgen (2007): Grundkonzepte der Psychotherapie. Weinheim (Beltz), 6., überarb. Aufl.


Retzlaff, Rüdiger (2009): Spiel-Räume. Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Stuttgart (Klett-Cotta), 3. Aufl.


Schlippe, Arist von u. Jochen Schweitzer (1996): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Bd. 1. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), 10. Aufl. 2007.


Schlippe, Arist von u. Jochen Schweitzer (2009): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Bd. 2: Das störungsspezifische Wissen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), 3. Aufl.