Wissenschaft und Diagnosen – Systemische Therapie im Kassensystem
Im Rahmen der Gesprächsreihe im Frühjahr 2020 trafen sich Rüdiger Retzlaff, Markus Haun und Matthias Ohler in Rüdiger Retzlaffs Praxisräumen.
Auch Markus Haun gehörte, wie Rüdiger Retzlaff, Kirsten von Sydow und andere, zu einer Expertise-Gruppe auf dem Weg zur wissenschaftlichen und sozialrechtlichen Anerkennung Systemischer Therapie. Markus Hauns Beitrag lag u. a. in der Kontextualiserung wissenschaftlicher Forschung mit therapeutischer Praxis, und darüber hinaus auch in der argumentativen Vertretung des systemischen Ansatzes beim Gemeinsamen Bundesausschuss GBA. Wie stellt sich das Verhältnis systemischer Praxis zu Wissenschaft dar? Wie ist das Verhältnis zu alternativen therapeutischen Methoden und Verfahrensweisen? Von welchem Wissenschaftsverständnis wird ausgegangen, und wo verstecken sich da noch positivistische Positionen, die eigentlich als obsolet sein gelten? Und welche Herausforderungen sind für die Entwicklung Systemischer Therapie in Praxis, Forschung und Finanzierung abzusehen und zu meistern?
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Transkription des Interviews
Ohler Wir sitzen hier zusammen in den Praxisräumen von Rüdiger Retzlaff, der auch selber dabei ist, Gott sei Dank, und die dankenswerterweise wieder geöffnet hat, und bei uns ist Markus Haun. Markus Haun ist auch eine der Personen, die in dem ganzen Prozess der Anerkennung der systemischen Therapie eine Rolle gespielt hat. Und deswegen möchten wir ihn noch ein bisschen befragen dazu. Du hast dich bereit erklärt, hier mit uns zu sprechen, und deswegen ...
Haun Sehr gerne.
Ohler ... gleich meine erste Frage an dich, die klassische Frage: Wie bist du eigentlich dazu gekommen, zu dieser Arbeit an dieser Expertise zur systemischen Therapie? Was hat dich da getrieben? Wie ist das passiert, dass du da dazu gekommen bist?
Haun Ja, ich habe irgendwann im Laufe des Medizinstudiums, so in der Mitte ungefähr, entdeckt, dass ich gerne im Bereich arbeiten will, wo ich mit psychosozialen Phänomenen zu tun habe. Hatte vorher auch schon mal ein Jahr Soziologie studiert und da tatsächlich auch was zu Luhmann gemacht. Das war sozusagen der früheste Berührungspunkt. Und habe dann bei Jochen Schweitzer promoviert in einem Sympa-Projekt und hatte auch einen HiWi-Job bei ihm und bin so ein bisschen da reingekommen in die Literaturrecherche-Arbeit für die ersten Artikel zu Kinder und Jugendlichen, die federführend ja der Rüdiger und Kirsten von Sydow gemacht hatten, und hab da erst mal im Wesentlichem Recherche gemacht, noch gar nicht so viel Methodik, allerdings auch schon. Und das hat sich dann mit dem Berufseinstieg hier an der Uniklinik intensiviert. Ich habe dann angefangen mit der Cochrane Collaboration damals – so hießen sie damals noch – zu arbeiten und selber Metaanalysen zu machen im frühpalliativen Bereich. Und da wird man ja so mit den höchsten Standards konfrontiert.Das lief so ein bisschen parallel. Und dann habe ich mich auch mehr mit methodischen Fragen beschäftigt.
Ohler Willst du grade noch etwas sagen zu dieser Cochrane Collabotion?
Haun Genau, das ist die Cochrane Collaboration. Es gibt das Gleiche auch für den sozialwissenschaftlichen Bereich, die heißen Campell Collaboration, und das ist sozusagen eine Art von NGO-Zusammenschluss von Wissenschaftlern, die sich um möglichst exakte und robuste, also das heißt, belastbare Nachweise von medizinischen, aber auch psychosozialen Behandlungsansätzen kümmert. Also die machen auch so etwas wie "Hilft jetzt Zitone und Vitamin C bei Grippe wirklich?" Das ist halt ein sehr standardisierter Prozess, und man kommt mit interessanten Leuten in Kontakt und kriegt sehr viel darüber mit, wie Studien gemacht werden, was gute Studien ausmacht. Immer natürlich innerhalb dieses Evidence-Based-Medicine-Paradigmas. Davon habe ich sehr profitiert und konnte das dann glaube ich auch später nochmal an vielen anderen Stellen einbringen.
Ohler Du hast auch gesagt "standardisiert", also auch ein zuverlässiger Prozess wahrscheinlich.
Haun Ja, da gibt es Protokolle, die das ganz genau strukturieren. Da gibt´s auch Timelines, die einzuhalten sind. Also das ist sozusagen ein Prozedere, das vorgegeben ist. Und dadurch ist es auch didaktisch ganz gut erschließbar, weil man da so Schritt für Schritt mitgeht.
Retzlaff Du bist ja nach meiner Erinnerung zu unserer Heidelberg-Hamburger-Gruppe dazugekommen, als der Prozess der wissenschaftlichen Anerkennung beim WBP schon durch war, und dann gab es diese lange Zeit, wo scheinbar nicht so viel passiert ist, aber wir, damit das auch im amerikanischen Sprachraum verfügbar ist, an Artikeln für Family Process gearbeitet haben. Und da hattest du uns unterstützt mit diesen Recherchen, was ja ein relativ trockenes Brot ist. Du hattest erzählt, dass du dich für psychosoziale Phänomene interessierst als Mediziner. Und das war ja natürlich eine tolle Sache für uns, dass du da auf der Ebene nochmal eingestiegen bist. Ich kenne dich aber auch als jemanden, der sehr methodenkritisch ist. Also auf der einen Seite hast du so die Fahne der Wissenschaftlichkeit, und der Stringenz auch der Studien, sehr hochgehalten, und auf der anderen Seite hast du aber auch ein, wie ich finde, enormes Wissen über die Grenzen und die Unzulänglichkeit verschiedener Designs. Wie war das für dich, diese zwei Denkweisen so unter einen Hut zu bringen?
Haun Also ich glaube, es ist, würde ich sagen, eine generelle Tendenz, vielleicht auch Stärke von mir, dass ich mich für Dinge sehr intensiv interessieren kann und dann aber auch schnell dabei zu gucken, wie kann man da auch nochmal kritischer draufgucken. Ich glaube, das ist etwas, was mich schon an anderen Stellen begleitet hat. Und natürlich ist es so, dass dieses Evidence-Based-Medicine-Paradigma sehr hochgehalten wird und auch einfach nervig ist manchmal, weil man das Gefühl hat, das sind auch Standards, die können natürlich auch nur mit bestimmten Ressourcen bewerkstelligt werden. Und dann wird vieles einfach, sage ich mal, argumentativ wegrasiert, was nicht diesen Standards entspricht, und das hat bei mir dazu geführt, auch mal so ein bisschen zu gucken: Wie kann man da auch kritisch drauf gucken? Und da ist ja immer – ich will es jetzt nicht zu technisch machen – aber die Frage "Was ist intern valide?", also auf eine möglichst umschriebene Gruppe genau standardisiert hinsichtlich Wirksamkeit überprüfbar? Das kann ich mit dem Paradigma gut. Aber bringt es draußen was, können Praktiker was damit anfangen? Das geht damit nur begrenzt, und das war der Aspekt, der mich überwiegend mehr interessiert hat, und mittlerweile arbeite ich ja auch eher im versorgungsforscherischen Bereich, wo man sowieso mit ganz anderen Restriktionen auch zurechtkommen muss. Aber auch Chancen, denke ich. So würde ich das, glaube ich, sehen.
Retzlaff Du arbeitest ja auch in der psychosomatischen Uniklinik in Heidelberg.
Haun Genau.
Retzlaff Und auch in einem Bereich, den ich auch gut kenne von einer langjährigen Mitarbeit her als einer, der doch auch sehr stark psychodynamisch geprägt ist. War es nicht auch eine Herausforderung, auf der einen Seite jetzt mit daran zu wirken den Nachweis, dass ein Verfahren wie die systemische Therapie auch wissenschaftlich gut ist, zu führen, und auf der anderen Seite eben auch zu merken, dass andere Verfahren auch ihre Stärken haben, auch ihre Berechtigung haben?
Haun Naja, von konzeptioneller oder theoretischer Seite habe ich mich früh auch mit so Leuten wie Wampold beschäftigt. Da wird, glaube ich, auch schon selber versucht, ein Stück weit integrativer zu denken. Ich habe es ein Stück weit so verstanden, dass es auch ein gewisser forschungspolitischer Diskurs ist, in dem auch die Abgrenzung von Orientierung ihre Berechtigung hat. Aber insgesamt hatte ich vom inhaltlichen Arbeiten eher das Gefühl, da kann man vieles, zumindest auf praktischer Ebene, auch zusammenbringen. Und dann hat mir so ein bisschen, glaube ich, ganz praktisch – in Anführungszeichen –geholfen, dass ich die ersten Jahre meine internistische Weiterbildung gemacht habe, und danach gar nicht so viel mit tiefenpsychologischer Ausbildung zu tun hatte, und parallel zur internistischen Weiterbildung aber schon die Ausbildung oder die Weiterbildung am Helm-Stierlin-Institut gemacht habe. Und dann war ich, im Anschluss an die Zeit in der Inneren Medizin, auch erstmal in der Psychiatrie, in der Soteria in Bern, und habe da auch systemisch gearbeitet, aber das war auch nochmal ... da hatte man ein bisschen eine andere Ecke. Einen anderen Aspekt, weil da viel einfach auch akut zu klären war. Das inhaltliche Aufeinanderprallen hat sich, für mich jetzt, eigentlich erst in den letzten beiden Jahren gezeigt, wo ich auch mehr in der klinischen Arbeit auch tatsächlich tiefenpsychologisch arbeite. Und ich sehe, aus meiner Sicht, Chancen, auch – wenn man so will – auf beiden Seiten, wenn man diesen Unterschied so einführen will, und ich sehe aber auch ein Stück weit – aus meiner Sicht – manchmal blinde Flecken oder Eigenlogiken, wo ich denke, da kann eine Irritation von außen nicht so falsch sein.
Ohler Ich denke mal, dass es in dieser ganzen Arbeit, in den Auseinandersetzungen, wie du es beschrieben hast, verschiedene Forschungs-Designs, verschiedene Methodiken, die da sozusagen in dir und auch in der Praxis aufeinander treffen gibt. Da gibt's ja sicher, wenn man sich dann einem Projekt verschreibt, mitverschreibt, wie so einem Beforschungs- und Anerkennungsverfahren für systemische Therapie, ein bisschen Gegenwind da oder dort. Oder auch Hürden und Hindernisse, und vielleicht auch ein paar Highlights, wo man sagt "Yeah! Das ist ja ganz toll", und dann wieder so nach dem Motto "Puh! Das war aber wirklich heftig". Was waren da so die herausragendsten Erfahrungen, sowohl was Hindernisse betrifft, als auch vielleicht was besonders Höhepunkte betrifft.
Haun Es war immer klar, dass es sozusagen eine Art von Hobby ist. Es war immer klar, dass berufliche Dinge andere als das sind, was ich inhaltlich mache. Insofern war es einfach eine Mehrbelastung. Es sind viele, viele Abende dafür draufgegangen. Andererseits sind Publikationen entstanden. Aber es hat auch Spaß gemacht. Ich glaube, sonst hätte ich es auch nicht gemacht. Naja, was mir begegnet ist, sind, so sage ich mal, sehr vereinfachte Wahrnehmungen von Familientherapie. Mein Eindruck war immer so, die stammen aus Zeiten, wo es besonders wichtig war, Unterschiede zu ziehen, und wo ich so dachte, so arbeiten doch systemisch orientierte Familientherapeuten aus meiner Sicht gar nicht. Aber auch umgekehrt so ein Stück weit eine sehr starke Ablehnung vor allen Dingen gegenüber der Analyse, die ja heutzutage gar nicht mehr so präsent ist, insbesondere was jetzt die Arbeit in der Klinik angeht, wo ich so dachte, ... es ist viel geöffnet, und das ist mir begegnet. Also ein wirkliches Highlight war natürlich die Stellungnahme, mündliche Stellungnahme, in der Sitzung vom GBA. 2018 war das, glaube ich, im November. Das war super aufgeregt. Man kommt in den Raum, und die haben da wahnsinnig viele Leute, das war mir gar nicht so bewusst. Man kann kaum die Gesichtszüge des Anderen erkennen. Ich hatte mir da schon auch eine gewisse Argumentation zurechtgelegt und konnte die dann, glaube ich, auch ganz gut rüberbringen. Und so war für mich einfach mal ein wahnsinnig spannendes Erlebnis, weil ich denke, das hat ... wird man nicht so oft in seinem Leben jetzt haben. Und ein dauerwährendes Highlight für mich war einfach die Zusammenarbeit in der Gruppe, weil ich das Gefühl hatte, es gibt schon auch vieel Unterschiedlichkeiten. Also es gab auch mal deutliche Äußerungen, dass es irgendwie jetzt anders gesehen wird, und ich glaube, genau so was braucht es bei dem Prozess, habe uns aber immer so erlebt, dass wir immer so die Vision im Blick hatten und das war für mich auch – weil es eben gerade nicht in einem akademischen Kontext war, wo man irgendwie per se in einer kompetitiveren Konstellation ist –total total angenehm, das zu erleben. Und natürlich auch inhaltlich viel mitzunehmen von dir, Rüdiger, und auch von Kirsten, von Menschen, die einfach schon lange in dem Bereich unterwegs sind und auch viel klinische Erfahrung haben.
Retzlaff Die Grundidee des ganzen Projektes ist ja eigentlich rüberzubringen "Wir können Wissenschaft", auch als Systemiker, und viele andere sind da auch wissenschaftlich in diesem – wie immer man Wissenschaft definiert – in diesem Mainstream unterwegs. Und bei dieser besagten Anhörung, glaube ich, warst du mit derjenige, der das am deutlichsten rübergebracht hat, dass wir da richtig gut mitargumentieren können, und das finde ich bemerkenswert, auch gerade bei deinen klinischen Interessen. Das ist ja ein Spannungsfeld eigentlich. Viele Systemiker sagen "Och, Wissenschaft ist doof. Das ist alles nur eine Konstruktion", und ich glaube, damit wären wir überhaupt nicht so weit gekommen, wie wir jetzt gekommen sind. Kannst du Praktikern irgendwie Mut machen, dass einen Wissenschaft auch beflügeln kann, oder auch einen Stellenwert hat, ohne dass man die jetzt vergöttert oder ein Götzenbild daraus macht?
Haun Also ich denke, ich habe Sachen mitgebracht, da muss man einfach sehen, wie man dazu steht. Ich beschäftige mich gerne mit Zahlen. Ich programmiere auch mal eine Analyse oder so. Da gibt es einfach Leute, die sagen "Das liegt mir nicht so". Das ist glaube ich was, das mir sehr geholfen hat. Ich würde immer dafür plädieren, auch sich um eine wissenschaftliche Kontextualisierung dessen zu bemühen, wo man sich bewegt, nicht so sehr unter dem Aspekt von "Was ist Wahrheit?", denn auch im Wissenschaftsbetrieb ändert sich das sehr schnell, sondern eher unter dem Aspekt sozusagen, "Was ist der rote Faden?". Was findet man immer wieder? ... Mich hat es in meiner eigenen Arbeit, würde ich sagen, auch ein bisschen demütig gemacht, zu verstehen, dass man eben manchmal eher begleitend unterwegs ist und nicht irgendwie gleich die große Deutung parat haben muss, oder das Ruder herumreißen muss, sondern es ein Begleitungsprozess ist. Ja, das, denke ich, ist wichtig. Und es gibt ja auch innerhalb der Wissenschaft Bestrebungen, auch wissenschaftliche Ergebnisse für Praktiker oder sogar Laien verständlich aufzubereiten. Es gibt eine Bewegung – wir machen das jetzt gerade in der Studiengruppe – Patienten von vornherein mit einzubeziehen in die Planung ...
Ohler In die Planung?
Haun Ja ... Von Studien mit allen Schwierigkeiten, die das auch mit sich bringt. Aber ich sehe da auch schon sozusagen eine größere Diffusion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, wenn man es mal so hochheben wollte. Was mir schon noch aufgefallen ist, vielleicht so ein bisschen kritisch im Hinblick auf das eigene Feld, ist, dass ich manchmal das Gefühl hatte, dass von Systemikern so ein Bild von einem sehr positivistischen Wissenschaftsverständnis gezeichnet wurde, was, glaube ich, so viele nicht mehr teilen; dass da sozusagen so eine Art Schattenboxen auch stattfindet, und dass es, sozusagen abseits davon jetzt, wo es um Berufs- und Gesundheitspolitik geht, schon viel Bewusstsein auch für Relativität von Erkenntnis gibt. Das hat mich immer ein bisschen gestört, dass da nicht nochmal ein zweites Mal hingeguckt wird. Aber da ist natürlich auch vieles vermengt: Berufspolitik, Gesundheitspolitik und Wissenschaft, gerade jetzt bei dem Prozess, denke ich.
Ohler Systemtheoretisch hochinteressant. Du hast einen wunderschönen Begriff gesagt: wissenschaftliche Kontextualisierung. Das habe ich jetzt in der Form zum ersten Mal gehört. Das hat mir ganz gut gefallen, weil eben da auch so ... da ist nichts Hierarchisches drin. Aber was sehr Aufmerksames, sozusagen, in welchen Kontext man sich begibt. Nun ist es ja so, dass die systemische Therapie nach der wissenschaftlichen und der sozialrechtlichen Anerkennung eine Zukunft haben wird. Was werden die großen Herausforderungen sein? Vielleicht auch in der weiteren Kontextualisierung mit Wissenschaft und Beobachtung, und vielleicht auch in der weiteren Kontextualisierung mit den anderen Verfahren, mit Ausbildung? Es gibt wirklich zu viel jetzt zu erfragen, aber was sind die größten Herausforderungen?
Haun Ich denke, wenn man in dieser Logik drin ist, dann gibt es bestimmte Begriffe, die sozusagen als Entitäten gelten. "Diagnose", sowas. Also das ist einfach ... damit wird operiert. Wenn man sich sehr schwertut mit Diagnosen, ist das, glaube ich, was, womit man sich einfach auseinandersetzen muss; wie man sich zum Diagnose-Begriff positioniert. Ich finde Diagnosen insbesondere zum Austausch unter Professionellen oft auch sehr hilfreich. Sie engen auch was ein, das sehe ich auch. Aber ich glaube, das ist eine wesentliche Herausforderung, und dann auch alles Weitere, was Standardisierung angeht. Einerseits, denke ich, ist es eine spezifische Herausforderung für systemische Therapie, andererseits ist es eine generelle Herausforderung für Therapie allgemein, also Psychotherapien im Allgemeinen, weil die wirtschaftlichen Logiken so sehr in den Behandlungsprozess eingreifen – sei es nur dadurch, dass man manchmal das Gefühl hat, die Dokumentation ist eigentlich die Behandlung, wird zur Behandlung, im Sinne dessen, dass, wenn die sozusagen (?) ausgeübt wird, kaum noch Zeit für wirkliche Behandlung übrigbleibt. Dann ist das was, womit, glaube ich, alle konfrontiert sind. Und ansonsten, denke ich, ist es vielleicht auch ein bisschen eine Generationenfrage. Ich erlebe viele Leute durchaus auch integrativ, sehe aber auch, dass so lange sozusagen sozialrechtliche Regularien, was ambulante Psychotherapie in Deutschland angeht, so eben strukturiert sind, wie sie strukturiert sind, dass man sich mit dem Verfahrensbegriff irgendwie auseinandersetzen muss ... Meine Tendenz wäre erstmal zu sagen "Systemische Therapie ist das, und wir stehen für etwas ganz Spezifisches", und daneben, oder darüber hinaus, gibt es natürlich auch allgemeine Wirkfaktoren; also schon auch das eigene, denke ic,h ein Stück weit auch hervorzuheben. Und ...
Ohler Unterschiede.
Haun ... eigentlich eine Flexibilität herzustellen im Umgang. In meinem Fall: Sind es dann jetzt, im Sprachgebrauch, Patienten oder Klienten? Hier braucht es vielleicht eher eine Fokussierung auf Kommunikation, oder da braucht es eher eine Fokussierung auf Emotionen. Beispielsweise. Ja, das denke ich, ist was, was ich mir wünschen würde.
Ohler Höre ich da ein Plädoyer dafür, "Klienten" und "Patienten" zu nutzen? Pluralität von Kenntnissen, Möglichkeiten, methodischem Wissen, sich nicht in ein Kielwasser zu begeben, sozusagen?
Haun Richtig. Und andererseits denke ich, dass es schon auch richtig ist, sich selber konzeptionell zu verorten. Aber ich würde immer dafür plädieren, das im direkten Kontakt mit dem Klienten auch ein Stück weit hintenanzustellen. Ich erlebe es als eine Art innere Blaupause, die irgendwie mitläuft. Aber ich sehe auch, wenn vielleicht ... ich habe manchmal das Gefühl, jetzt, sozusagen, nimmt die Hypothese fast schon eine Deutung an, und denke mir, vielleicht ist das jetzt auch gerade das, was gebraucht ist. Vielleicht da ein Stück weit eklektizistisch sein, aber ... es ist eine Herausforderung, denn ich glaube, theoretisch ist das nicht so einfach.
Retzlaff Es war von Kontexten die Rede. Ein Kontext ist ja auch der zeitliche oder der historische. Und ich glaube, wir bewegen uns in einer Zeit, in der mehr Wirksamkeitsnachweise und Effektivität und Evidenz und so gefordert wird – auf der einen Seite. Und ich habe die Arbeit an der Expertise eigentlich immer so verstanden, dass wir versuchen nachzuweisen, dass wir mithalten können auf der wissenschaftlichen Ebene, dass das notwendig ist. Aber dass eine rein manualisierte Form der Therapie eigentlich nicht das ist, was in der Praxis angesagt ist. Und so sind eigentlich auch die ganzen Psychotherapie-Richtlinien, dass man immer maßgeschneidert auf den einzelnen Menschen, auf den einzelnen Patienten eingehen sollte. Ich habe aber bei den Diskussionen auch im gesundheitspolitischen Kontext den Eindruck gewonnen, dass diese Idee etwas verloren geht. Das wäre sehr bedauerlich, wenn jetzt der Eindruck entstünde, als ob das, was wir zusammengetragen haben gemeinsam, bedeutete "Thats the way you have to do it". Und in diese Richtung ging es eigentlich schon. Siehst du diese Gefahr ähnlich, oder wie stehst du dazu?
Haun Ich sehe es nicht ganz so dramatisch. Also ich mache ja auch selber Studien und erlebe die Therapeuten, insbesondere im Versorgungskontext, als sehr autonom. Und ich denke, eine Gefahr besteht, wenn man dieses manualisierte Vorgehen irgendwie an Vergütung knüpft. Es gibt ja solche Überlegungen – Stichwort "Value-based Care" – also man wird bezahlt für das Outcome des Patienten oder des Klienten, und dann braucht es auch eine gewisseStandardisierung für den gesamten Prozess. Aber nicht nur eine gewisse, sondern eine sehr starke Standardisierung, und das würde ich als problematisch bezeichnen. Ich glaube, solange das entkoppelt ist, hätte ich eigentlich immer ein großes Vertrauen, dass Praktiker für sich selber gut entscheiden können, was sie da irgendwie rausziehen und was sie vielleicht irgendwie sagen. Das kann man irgendwie im akademischen Kontext machen.
Retzlaff Das bedeutet eigentlich, dass die Systemiker in der Kassenzulassung dann mit den anderen Kollegen anderer Richtungen auch in einem Boot sitzen.
Ohler Ja, klar.
Retzlaff Dass man nicht so begeistert wäre, wenn jetzt meinetwegen Therapiekontingente abhängig von Diagnosen verteilt werden. Ich glaube, da haben wir sehr ähnliche Interessen, auch im Sinne unserer Patienten.
Haun Ja. Das ging mir während des ganzen Prozesses schon auch oft so, dass ich so dachte, einerseits ist man konfrontiert mit diesen Schulen und diesem Denken in therapeutischen Orientierungen, und andererseits gibt es eine, aus meiner Sicht, vielleicht viel größere Gefahr, dass der Zugang zur Therapie, welcher Art auch immer, sukzessive runtergefahren wird oder dass der Legitimationsdruck einfach unheimlich ansteigt. Und da denke ich schon, wäre es gut, sich auch ein bisschen als in einem Boot sitzend zu empfinden. Und gleichzeitig unterminieren das aber bestimmte andere regulative Logiken des Gesamtsystems. Aber in der Klinik spürt man das sehr sehr sehr stark. Die ganzen Diskussionen um Upcoding, schwerere Diagnosen, als man vielleicht jetzt initial ... oder die man nicht vertreten könnte; aber wenn sozusagen Diagnosen eine Schwelle sind, wird sich eher für die schwere entschieden, so ist es korrekter gesagt. Und solche Dinge, wo es ja eigentlich hauptsächlich es erstmal darum geht, dass abgesichert wird, dass eine Therapie überhaupt finanziert wird.
Retzlaff Damit sind wir eigentlich auch bei einem Punkt oder einem Aspekt, den wir bei den Wirksamkeitsnachweisen gar nicht haben miterfassen können, nämlich, dass die systemische Therapie, anders als andere Verfahren, sehr viel stärker solche sozialpolitischen oder gesundheitspolitischen Kontexte mitberücksichtigt und mitdenkt, und zwar von Anfang an; und die sind aber ganz wesentlich für das, was wir inhaltlich machen können. Ich glaube, dass das eine der Stärke des systemischen Modells, die wir mit in das Versorgungssystem einbringen, und ich glaube, das ist ein ganz entscheidender zusätzlicher Nutzen dann auch für alle Psychotherapeuten.
Ohler Ich erlaube mir mal zu sagen: Das ist ein tolles Schlusswort. Das hat auch einen appellativen Charakter, sozusagen aufzupassen, was da passiert, und dafür Sorge zu tragen, dass diese Chancen auch Früchte tragen können. Markus, gibt es irgendeine Frage – das ist so ein Klassiker bei uns – eine Frage, wo du sagen würdest "Die stellen sie mir bestimmt" und sie kam nicht? Wenn nicht, auch gut.
Haun Ich glaube nicht. Bei mir ist einfach das Gefühl entstanden, wir hätten jetzt noch ziemlich weitersprechen können, ich fand es sehr angenehm und auch nochmal spannend, so einen Überflug über diese doch vielen Jahre zu wagen. Und mit welchen unterschiedlichen Aspekten man da auch innerlich konfrontiert war, das ist mir jetzt nochmal bewusst geworden.
Ohler Hättest du mit diesem Zaunpfahl nicht gewunken, hätte ich es gemacht. Ich glaube nicht, dass das die letzte Begegnung war. Ich hoffe das zumindest. Du hast vorhin von einer Blaupause gesprochen, du siehst auf ein wunderschönes blaues Bild, das Rüdiger hier hängen hat. Nehmen wir es als Blaupause für unsere zukünftigen Treffen. Vielen Dank, Rüdiger Retzlaff, für die Räume, für dein Dabeisein, deine Fragen. Danke Marcus Haun.
Haun Vielen Dank.
Ohler Ich hoffe, wir werden uns wieder sehen. Und ich bin sicher, mir geht es so und vielen anderen wird es so gehen, wenn sie das hören: A lot of News. Sehr interessante Sachen. Dankeschön.
Retzlaff Ja, danke zurück.