Systemische Therapie – Grundannahmen, Settings, Menschenbild

Im Jahr 2020 sprach Matthias Ohler mit Rüdiger Retzlaff zum Auftakt einer Gesprächsreihe über die Geschichte der Systemischen Therapie und ihrer sozialrechtlichen Anerkennung. Was zeichnet Systemische Therapie aus? Worin liegen die Stärken einer Integration systemischer Kompetenzen mit anderen Therapieverfahren? Was braucht es, um Systemische Therapie praxisorientiert zu unterrichten? Und was hat Rüdiger Retzlaff beeindruckt und beeinflusst auf dem Weg zur Systemischen Therapie bis hin zum neuen Standardwerk: Systemische Therapie – Fallkonzeption, Therapieplanung, Antragsverfahren.



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Transkription des Interviews


Ohler Mein Name ist Matthias Ohler, ich bin hier bei Rüdiger Retzlaff in seinen Praxisräumen zu Besuch und bin sehr beeindruckt von den Räumen und von den Möglichkeiten, die es hier gibt. Auch einen Schulungsraum gibt es, du bist ja, Rüdiger, auch sehr intensiv in der Schulung, Weiterbildung und Ausbildung beschäftigt. Du hast ein unheimlich breites Feld, du bist breit aufgestellt von deiner praktischen Erfahrung und von deinen – wenn ich das mal so löblich sagen darf, ich glaube du widersprichst nicht – von deinen erkenntnistheoretischen und methodischen Kenntnissen her, die du mitbringst und die du entwickelt hast. Und du bist auch einer, der, wenn ich das richtig sehe, sehr integrativ unterwegs ist. Das heißt, du interessierst dich für, und führst auch praktisch durch, Integration unterschiedlichster psychotherapeutischer Praxen und unterschiedlicher psychotherapeutischer Konzepte. Was ist daran so wichtig, dass man diese Integration auf dem Schirm hat?


Retzlaff Ich glaube, ich bin ein sehr neugieriger Mensch. Und wenn man Leuten helfen will und ein Verfahren gelernt hat, dann kommt man immer sehr schnell an den Punkt: Erstmal läuft das sehr gut, und dann gibt es immer wieder auch Klienten, wo man nicht weiterkommt und dann denkt: "Da will ich noch etwas dazulernen." Oder "Gibt es vielleicht noch eine andere Beschreibung?" Und diese Offenheit ist, glaube ich, dann nicht für den einzelnen Fall wichtig, sondern ich würde auch sagen, das ist so eine Grundhaltung, die ich jedem Therapeuten, aber vor allen Dingen auch jedem systemischen Therapeuten, sehr wünschen würde, dass man sich nicht vorschnell zufrieden gibt damit "Ah, ich weiß, wie es geht", sondern da gibt es immer noch etwas, was eigentlich auch spannend ist, was man aber für die Vielfalt von Menschen, die in so eine Praxis kommen, sicherlich unbedingt brauchen kann.


Ohler Du hast von den anderen Beschreibungen gesprochen, das ist ja schon mal eine Spur, die man wirklich geradezu aufnehmen muss. Es geht also nicht nur um methodische Orientierung "Was hab ich drauf, was kann ich, und dann forme ich mir den Klienten dahin", sondern: Was heißt andere Beschreibung? Woran machst du das fest?


Retzlaff Naja, ich muss ja unter Umständen in der Lage sein, auch eine ganz andere Sichtweise einzunehmen, oder an der Oberfläche zu kratzen. Oder die Möglichkeit des Andersseins, wie Watzlawick das mal gesagt hat, auch zuzulassen und mich nicht vorschnell mit einer Geschichte zufrieden zu geben, sondern vielleicht immer auch von der Seite und von jener Seite und so weiter ranzugehen.


Ohler Also auch so ein bisschen eine ericksonianische Sicht. Jeder, der kommt, ist praktisch ein Einzelfall. Oder wäre das übertrieben.


Retzlaff Ja, jeder ist ein Einzelfall, und ich glaube, gute Psychotherapie ist ja immer maßgeschneidert. Das haben eigentlich alle systemischen Therapeuten immer so gesehen. Ich habe gerade jetzt eine Mail von einem britischen Kollegen bekommen. Es gibt eher so eine Tendenz, auch in der systemischen Therapie, zur Manualisierung. Also, dass man sagt: "Schreiben wir doch mal zusammen, was sich bewährt hat. Was braucht man unbedingt an Herangehensweisen?" Das finde ich auch wertvoll, und das ist für mich eher so ein dialektisches Verhältnis. Also dass man sagt, es gibt so ein paar Essentials, die sollte man auch kennen, und dann aber trotzdem den frischen Blick auf jeden einzelnen Menschen, auf jedes neue Familiensystem haben. Beides gleichzeitig zu machen, das, glaube ich, ist ganz wertvoll und wesentlich.


Ohler Bei dir in der Praxis, du sprichst jetzt von Familiensystem, ist es ja wohl auch gang und gäbe, dass nicht immer einzelne Klienten zu einem einzelnen Therapeuten Rüdiger Retzlaff kommen, sondern auch unterschiedliche Settings herrschen. Mein Eindruck ist, dass in relativ vielen psychotherapeutischen Praxen doch diese Einzelsettings vorherrschen. Siehst du das auch so? Und wie drückt sich das aus in dem Bedarf, den die Leute an methodischen Kenntnisse haben?


Retzlaff Dazu gibts ja auch Erkenntnisse. Manfred Cierpka hat vor Jahren, und Jay Haley sogar noch vor längerer Zeit, Erhebungen gemacht, welche systemischen Therapeuten in welchem Setting arbeiten; und auch führende Systemiker aus den Verbänden arbeiten anscheinend doch eher im Einzeletting, weil es besser zu planen ist, ein bisschen weniger anstrengend ist und man auch nicht irgendwie besser honoriert wird in anderen Settings. Und die Verbände, und ich auch, wir setzen uns ja sehr dafür ein, wenn es jetzt eine systemische Kassenzulassung, zumindest für Erwachsene, gibt, dass dieses Mehrpersonensetting, wie das dann heißen wird, auch etwas besser honoriert wird, weil der Aufwand einfach größer ist. Es ist sehr viel effektiver, aber der Aufwand ist größer als in der Gruppentherapie. Und das wäre sehr zu wünschen, dass so eines der Kernmerkmale, wo die systemische Therapie herkommt, sich auch entsprechend auf der Ebene gut etablieren könnte.


Ohler Du sprichst von Mehrpersonensettings, von komplexeren Settings. Heißt das auch da und dort, dass es wünschenswert ist, dass nicht nur eine Therapeutin oder ein Therapeut da ist? Wenn das machbar ist? Oder ist dieser Unterschied nicht so wichtig? Kann man das kompensieren?


Retzlaff Also, ich habe eigentlich immer, wenn ich Kollegen oder Kolleginnen hatte, mit denen ich gut konnte, das geschätzt, sozusagen als Co-Team aufzutreten und zu arbeiten. Das ist natürlich ein hoher Aufwand und es wird nicht honoriert. Man hat dann eigentlich nur die Möglichkeit, es entweder in Ausbildungssettings zu machen. Die andere Möglichkeit ist in der Gruppentherapie, auch in der systemischen Gruppentherapie, die wir erfreulicherweise ja auch über den GBA jetzt haben ermöglichen können für die Versicherten. Da kann man sich auch Co-Therapien durchaus leisten. Und wir haben auch eine Möglichkeit, dass man sogar Multifamilienarbeit macht, indem man zwei Gruppen zusammentut mit zwei Therapeuten, die im Co-Team arbeiten können ... Das wird es geben. Das ist aber natürlich auch ein relativ großes, etwas sperriges Setting. Man braucht große Räume und solche Dinge. Aber ich glaube, für die eine oder andere Einrichtung oder Ambulanz, oder die eine oder andere Praxis, wird sich das sicherlich sehr lohnen, in diese Richtung zu gehen.


Ohler Wenn wir mal auf die Weiterbildung schauen, auf die Ausbildung von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten – du sprachst die Anerkennung der systemischen Therapie an, wo du ja unbestritten sehr große Verdienste hast, dass es überhaupt so weit gekommen ist, darüber reden wir aber ein anderes Mal, – wenn du auf die Weiterbildung schaust: Was hältst du für unverzichtbar, wenn jemand sich darauf vorbereitet Psychotherapeutin oder Psychotherapeut zu werden, oder ist es bereits und will sich weiterentwickeln?


Retzlaff Ich würde vielleicht erst mal was vom Setting her sagen. Ich glaube, dass dadurch, dass es für die systemische Therapie sehr lange Zeit, anders als bei den Richtlinienverfahren, nicht direkt eine Perspektive für eine Kassenpraxis gegeben hat, dadurch sind auch die Ausbildungen und Weiterbildungen bei uns eben nicht so praxisorientiert gewesen. Ich habe ja auch in Großbritannien hospitiert. Ich habe in den USA einen Teil meiner Ausbildung gemacht, und da ist es viel üblicher, dass man, wenn man lernt, auch sofort Fallarbeit macht unter Supervision, dass man Lehrambulanzen hat, dass man jemanden hinterm Spiegel hat oder hinter einer Videokamera, oder jemand im Raum sitzt. Also dieses bei den Medizinstudien heißt das bedside-teaching, also dass die direkt am Krankenbett stehen, und jemand steht daneben und zeigt ihnen einfach, wie es geht. In den Universitäten hat sich das ja durchgesetzt, und nicht nur Theorie. Ich fürchte, dass wir in der systemischen Therapie von der Unterrichtsweise her immer noch so ein bisschen theorielastig sind. Und es ist ein Unterschied, ob ich direkt mit Leuten zu tun habe, oder das erlebe. Das merke ich auch, wenn wir im Helm-Stierlin-Institut mal Fälle direkt einladen, oder wenn Leute hier in meiner Praxis sind, direkt an der Fallarbeit beteiligt sind oder zuschauen können. Das ist eine ganz andere Qualität, das ist viel dreidimensionaler. Da kriegt man die affektiven Prozesse mehr mit und hat einen ganz anderen Kontakt zu den Menschen, um die es geht. Das wäre von der Art des Lehrens und Lernens, glaub ich, wichtig.


Ohler Also, sozusagen, nicht theoretisch schwimmen lernen, und ins Wasser fällt man dann allein.


Retzlaff Trockenschwimmen, Trockenschwimmunterricht ... it´s not the real thing.


Ohler Du hast vorhin von systemischer Gruppentherapie gesprochen. Hättest du ein paar Sachen dazu zu sagen: Was unterscheidet eigentlich spezifisch systemische Gruppentherapie von anderen? Was fügt das hinzu? Gruppentherapie praktisch ohne so eine nähere Spezifizierung? Was ist systemische Gruppentherapie?


Retzlaff Ich glaube, der Kernunterschied für mich ist, dass das Menschenbild der systemischen Therapie sehr optimistisch ist. Manchmal ein bisschen übertrieben optimistisch, aber erstmal positiv und ermutigend und wertschätzend. Das haben andere Verfahren vielleicht auch, aber ich glaube, so ausgeprägt wie in der systemischen Therapie ist das kaum. In der Multifamilientherapie hat man natürlich ganz stark die Idee, dass auch verschiedene Menschen Netzwerke bilden und sich gegenseitig unterstützen können. Über die eigentliche Therapie hinaus. Also der Therapeut ist dann, in dem Setting zumindest, nicht mehr ganz so wichtig wie diese anderen Menschen und wie die Teilnehmenden, ja.


Ohler Gruppentherapie ist ja, wenn ich das richtig weiß, etwas, was häufiger in klinischen Kontexten angewendet wird. Wie schätzt du die Entwicklung systemischer Konzepte und systemischer Methodiken ein, und vielleicht auch des systemischen Menschenbildes in klinischen Kontexten? Wie wird sich das weiterentwickeln? Ist damit zu rechnen, dass da die Aufmerksamkeit steigt?


Retzlaff Du meinst in stationären Kontexten?


Ohler In stationären Kontexten, genau.


Retzlaff Ich glaube, dass die systemische Therapie zum Beispiel in der Schweiz stärker in dem Bereich schon etabliert ist. Ich glaube, da ist Deutschland noch ein bisschen Schlusslicht, vermute ich mal. Ich denke, dass wir es eine Weile schwer haben werden, in diesen sehr etablierten Strukturen wirklich auch Fuß zu fassen. Es kann ja nicht nur darum gehen, dass man in eine vorhandene Struktur jetzt einfach ein paar Liter systemische Therapie füllt, sondern das ganze Gefäß müsste ja für systemisches Arbeiten in einer bestimmten Weise angepasst werden. Und ich vermute, dass das eher Einzelpersonen und Kliniken, die innovativ unterwegs sind – zum Beispiel dieses SYMPA-Projekt – geben wird, die sich das auf die Fahnen schreiben wollen, und dass die dann vielleicht so eine Art Vorreiterfunktion haben. Für mich ist das systemische Arbeiten eigentlich immer sehr stark ambulant orientiert, also so, dass man rausgeht in die Familie nach Möglichkeit. Ich habe auch an der Child-Guidance-Klinik in Philadelphia, die Salvador Minuchin ja bekannt gemacht hat, gelernt, und das war immer eine aufsuchende Arbeit. Und nicht, dass man irgendwo hockt in einer Klinik und die Leute kommen zu einem. Nur der Apparat von stationären Einrichtungen, der ist natürlich nicht primär so darauf maßgeschneidert, dass man ambulant arbeitet, oder in diesen sehr durchlässigen Settings. Ich glaube, da liegt noch ein ganz großes Stück Weges vor uns.


Ohler Wir sind quasi in Immobilien, und das drückt sich dann auch in der Immobilität aus. Kann man es so sagen?


Retzlaff Das kann man so sagen. Ich habe in der Öko-Psychologie gelernt, dass ein Behördenleiter in der Politik immer gemessen wird an der Größe des Gebäudes. Und wenn er ein tolles Netzwerk an Leuten hat, die durch die Stadt kurven und Leute betreuen, das sieht man nicht, das kann man nicht greifen. Das ist irgendwie ein bisschen archaisch. Aber ich glaube, da ist immer noch was dran. Eine schicke Hütte macht was her.


Ohler Du sprichst vom Behördenleiter. Das bringt mich auf die Frage von Organisation. Wenn man ein systemtheoretisches Modell oder systemische therapeutische Praxis, in welchem Setting auch immer, machen will, und das eben im stationären Kontext, oder auch in dem aufsuchenden ... Ist da eine Voraussetzung, dass auch auf der Leitungsebene, oder auf der Organisationsebene, mit systemischen Modellen oder den verwandten Modellen gearbeitet wird, oder dass die bekannt sind? Was braucht es da?


Retzlaff Also wenn es gut läuft, braucht man eine Einrichtung, die ein Modell hat oder eine Konzeption, wie man arbeitet. Und die kannst du nicht am Chef vorbei entwickeln, sondern da brauchst du mindestens eine Abteilung oder eine Leitung, die das sehr trägt und auch inhaltlich dahintersteht. Es ist ja nicht so ein Add-on – man macht noch ein bisschen Familientherapie – sondern man braucht ja von der Grundhaltung her eine Orientierung, und das ist schon extrem hilfreich, wenn die auch von der mittleren oder höheren Führungsebene getragen wird. Ich glaube, dass wir in den letzten Jahren, Jahrzehnten, sehr viele Leute in diesen Etagen ausgebildet haben. Und die kommen ja auch zu uns. Also da hoffe ich, dass das auch ein Stück weitergeht. Vielleicht durch den Kostendruck, der im Gesundheitssystem ja besteht, auch durch den Mangel an Ärzten, auch an Pflegekräften. Vielleicht, dass die Durchlässigkeit da doch ein bisschen größer wird und so innovative Konzepte auch stärker gefragt sein werden.


Ohler Ihr macht ja im Helm-Stierlin-Institut unter anderem auch Ausbildungen in Organisationsberatung, also mit dem Thema "Systemisches Arbeiten in Organisationen". Hast du den Eindruck, dass es da auch so zwischen den Ausbildungslinien – eher therapeutische Praxis und auf der anderen Seite Ausbildungslinien in der Organisationspraxis in Bezug auf Gesundheitsorganisationen – so etwas wie einen Transfer gibt, oder so eine Art von Aufeinander-Gucken?


Retzlaff Naja, also, die Personen, die das machen – also Jochen Schweitzer oder Julika und Mirko Zwack – die kommen ja auch aus dem Gesundheitsbereich. Die Organisationsformen, mit denen sie sich am besten auskennen, sind ja Kliniken und und und. Von daher, glaube ich, ist da auch durchaus ein Austausch gegeben.


Ohler Wenn die Weiterbildungsträger, also die Personen, die die Weiterbildung machen, die beide Welten kennen, ist die Qualität wahrscheinlich um einiges gesteigert.


Retzlaff Sicherlich.


Ohler Das Helm-Stierlin-Institut, um da mal hinzuschauen, entwickelt sich – wenn du die Frage nicht beantworten willst, bist du frei – entwickelt sich und erweitert sich jetzt insbesondere auch gerade durch die Anerkennung, aber auch in Bezug auf eine Qualität, die es in den langen Jahren, die es das Institut schon gibt, entwickelt hat. Es gibt auch – um das Thema Integration nochmal zu nehmen – integrative Ideen. Das heißt, dass man wirklich in der Ausbildung nicht nur sagt "Okay, systemisch von vorne bis hinten", sondern irgendwo gibt es auch einen Blick auf die anderen Methoden. Und wenn jemand anfängt, die Ausbildung zu machen und die Ausbildung am Ende verlässt, kann er oder sie sagen "Ich bin gut ausgestattet und breit aufgestellt". Wie sieht das aus?


Retzlaff Naja, ich hatte ja vorhin gesagt, Neugierde wäre eine Qualität von guten Systemikerinnen und Systemikern. Das betrifft natürlich absolut auch die Ausbildung und die Weiterbildung. Ich glaube, dass etwa 80, 90 Prozent der Psychotherapeuten mehr als ein Verfahren drauf haben. Das heißt, die hören nicht auf. Wenn sie eine Ausbildung haben, dann interessieren sie sich noch für eine Traumatherapieausbildung, Hypnotherapie, Gruppen, was auch immer. Und das finde ich eigentlich ganz gut. Wenn wir jetzt diese Approbationsausbildung anbieten werden für Therapie mit Erwachsenen, dann müssen wir nach den Vorgaben, die es eben auch von dem Gesetz her gibt, alle wissenschaftlich anerkannten Verfahren unterrichten. Das heißt zumindest partiell, also nicht in der Tiefe, aber die müssen auch drinnen sein. Und das finde ich eigentlich sehr in Ordnung, dass man sozusagen nicht nur die Welt mit einer Linse oder einer Brille betrachtet, sondern eine Multiperspektivität hat. Und dadurch, dass viele von unseren Lehrtherapeuten im Team, mich inbegriffen, ja auch eine ganze Palette von anderen Verfahren kennen und schätzen, wird das sicherlich eine sehr gute Chance sein, integrativ zu unterrichten, und dann aber das Ganze innerhalb eines systemischen Rahmens oder Frameworks aufzufassen. Ich glaube, man braucht schon einen Rahmen. Was nicht funktioniert, ist: Man haut alle Zutaten rein. Das ist vielleicht auch nahrhaft. Aber ich glaube nicht, dass das einen guten Geschmack gibt. Ich glaube, dass man bestimmte Linien hat, oder Heurismen, wie man kombiniert; das ist schon sehr wesentlich. Da ist für mich natürlich so eine wertschätzende, ressourcenorientierte Perspektive, wie sie die systemische Therapie anbietet, als Fundament sehr hilfreich. Und die anderen Verfahren haben auch eine Menge zu bieten, zum Beispiel die Fähigkeit, gut zuzuhören. Aus der Gesprächstherapie. Das ist etwas, das sollte eigentlich kein Therapeut verpassen, oder? Das ist so naheliegend. Oder, was die analytischen Kollegen ja auch wirklich gut drauf haben, in die Tiefe von Familiengeschichten zu gehen oder auch für innere Konflikte, diese ganzen Dramen, die Menschen ja auch mit sich herumschleppen können, ein Gespür zu haben. Auch sehr wertvoll.


Ohler Das braucht ja auch einen guten Staff von Leuten. Wie habt ihr das geschafft, so viele kompetente und multikompetente Leute, ich sage es mal so krude, ans HSI zu binden, dass das HSI sagt, wir haben einfach gute Leute. Ich will jetzt keine Werbung machen, aber das ist ja so.


Retzlaff [Das kann ich dir eigentlich nicht sagen. Ich kann nur sagen, ich bin total gerne in diesem tollen Haus. Und wenn Leute als Gastdozenten da sind, die sind alle immer sehr begeistert. Die kommen einfach gerne, und vielleicht ist es auch so der gute Ort oder so.


Ohler Der Ort ist ja wirklich sehr attraktiv. Auch wenn er manchmal nicht so leicht zu erreichen ist, aber wenn man dort ist, ist es fantastisch.


Retzlaff Der Weg lohnt sich.


Ohler Er ist nicht das Ziel, er lohnt sich. Rüdiger, wenn du jetzt an potenzielle Hörerinnen und Hörer denkst, die uns jetzt im Gespräch zuhören und vielleicht nochmal überlegen, was hätte der Rüdiger sozusagen als Tipp für das nächste Jahr, wir haben ja jetzt die Twenties begonnen. Ich komme gleich noch auf soziale Arbeit kurz, aber wir denken jetzt an die Professionellen, die anfangen, ihre Ausbildungen zu machen, reinzugehen oder auch schon eine ganze Weile drin sind. Wenn du sagen würdest "Okay, ich gebe euch zwei Tipps mit auf den Weg, die ihr nicht vergessen solltet, wie allgemein die auch immer sein mögen, für eure Profession als Psychotherapeuten, vielleicht auch Sozialpädagogen, ihr seid in helfenden Berufen tätig, denkt an Folgendes oder vergesst Folgendes nie".


Retzlaff Ich würde sagen "Schau dir das Umfeld an." Das ist, glaube ich, absolut essentiell. Der Mensch ist ein soziales Wesen, und selbst unser Gehirn ist geformt oder überformt durch soziale Erfahrungen. Ich glaube, das ist ganz wesentlich. Ein anderer Aspekt, den ich auch gerne rüberbringen würde, ist: Ich finde Nachdenken unheimlich wichtig, Kognition, was im Kopf zu haben. Ich glaube, man muss auch genau hinschauen, aber Menschen entwickeln sich auch durch Erfahrungen. Und wenn man an den alten Piaget zurückdenkt, also eigentlich für mich den ersten Konstruktivisten in der Psychologieszene, der hat beschrieben und erkannt, dass sich der Geist entwickelt aus Erfahrungen, durch ein Begreifen der Welt. Ich finde, das ist immer noch auch für Systemiker unheimlich wesentlich. Leute, die eine gute Erfahrung machen, oder andere korrigierende Erfahrungen, entwickeln sich ganz anders, als wenn man nur darüber redet, wie es wäre, wenn man anders denken oder schauen täte. Das ist etwas zu abstrakt. Das wäre die Botschaft: Nnutzt auch so einen erfahrungsorientierten Zugang, es geht so viel leichter. Das hat auch ganz viel mit meiner Grundüberzeugung zu tun: Spielen ist gleich Lernen. Und wenn man spielt, erfährt man die Welt auch ganz anders. Dann kommen Denken, Fühlen, Handeln und Interaktion auch, glaub ich, besser ins Lot, als wenn man immer nur auf der reinen Ebene des Redens bleibt.


Ohler Nicht umsonst heißt dein großes Lehrbuch zu systemischer Kinder- und Jugendlichentherapie auch "Spielräume". Ich würde gern noch kurz auf ein Thema gucken. In einem Gespräch, das ich vor einer Weile hatte, ging es um die Abgrenzung von Psychotherapie und Sozialer Arbeit. Also zum Teil um Abgrenzung, zum Teil um Beziehungen dieser beiden zueinander. Wie viel Kompetenz in Sozialer Arbeit und dem, was da gebraucht wird, braucht jemand, der Psychotherapie macht? Was muss man da auf dem Schirm haben?


Retzlaff Von der Geschichte der Sozialen Arbeit her weiß ich, dass die schon sehr viel früher in Netzwerken und Systemen gedacht hatten, ohne dass das vielleicht so bezeichnet wurde. Und ich glaube, diese Idee ist immer noch extrem wertvoll. Salvador Minuchin – das ist vielleicht nicht mehr so ganz bekannt – wurde mal in einer Diskussion von Mara Selvini gescholten, er habe eine Familientherapie für Soziale Arbeit entwickelt. Ich fand, es war eher ein Lob.


Ohler Das hat sie aber nicht so gemeint.


Retzlaff Nein, sie hat das eher, finde ich, etwas abwertend gemeint Also ich glaube, man kann nicht ein guter systemischer Therapeut sein, ohne zumindest ansatzweise in diese Richtung zu denken, dass man auch die sozialen Benachteiligungen erkennt oder die Lebenswelten von Menschen zur Kenntnis nimmt und sich praktisch in sie hinein begibt ... Wenn ich Supervision mache, werde ich immer ganz unruhig, wenn ich frage "Weißt du, ob der Vater Unterhalt zahlt? Haben die Schulden? Wie geht's da?" Also das ist für mich das Basale, dass man sich die soziale Situation anschaut, die Wohnsituation, die Arbeitssituation und und und. Wenn man das nicht macht, dann ist man nicht so viel anders als vielleicht in einer Einzeltherapie klassischer Prägung, die auch toll sein kann, aber die, glaube ich, große Bereiche menschlichen Lebens eher ausblendet.


Ohler Ich finde ja sehr beeindruckend, wie du jetzt auch in dieser Kritik noch ein leichtes Wertschätzendes reingebracht hast. Vergangene Woche hatten wir ein Gespräch, meine Kollegin Connie Lorenz und ich, mit Markus Gabriel. Ein Philosoph, der diesen Ansatz des Neuen Realismus, Denken als Sinn, sehr stark favorisiert. Ihm habe ich zum Schluss eine Frage gestellt. Zwei Fragen eigentlich. Das eine ist, angeregt durch dein Plädoyer auch für das Kognitive und das Denken: "Es gab mal einen Kollegen von mir, der gesagt hat, Decartes habe sich geirrt. Er hat gesagt ´Cogito, ergo sum.´ Ich denke, also bin ich. Man könnte sagen, ´Sum, ergo cogito´; wenn ich schon mal da bin sollte ich nachdenken." Würdest du das unterschreiben?


Retzlaff Naja, ich glaube, dass Kopf und Herz und Verstand und Gefühl eigentlich ein gutes Team sein sollten. Das eine ohne das andere wäre wahrscheinlich nicht sinnvoll.


Ohler Und du hattest vorhin – auch da musst du natürlich nicht antworten – unterschiedliche Leute erwähnet, die dich geprägt haben, mit denen du dich beschäftigt hast, aus deren Konzepten du gelernt hast und die mit anderen verbunden und Neues daraus gemacht hast. Angenommen, du müsstest hier entscheiden – die typische Inselfrage: Was nimmt man mit auf die Insel? Wer oder welches Konzept oder wer als Therapeutin oder Therapeut, Lehrerin und Lehrer war absolut unverzichtbar?


Retzlaff Das ist eine ganze lange Reihe.


Ohler Da hast du jetzt geschickt geantwortet. Okay dann lassen wir unsere Hörer eben raten, wer das wohl sein könnte, und lösen Suchprozesse bei ihnen aus.


Retzlaff Es gibt so einen Vortrag von Salvador Minuchin, der heißt "My many voices", "Meine vielen Stimmen". Und er hat mal erzählt, wenn er eine Therapie macht – ich glaube, das hat er auf der ersten Evolution-of-Psycholtherapy-Conference in Phoenix erzählt, wo ich damals teilnehmen konnte zusammen mit Bernhard Trenkle – er könne nicht mehr das Schalkhafte von Gianfranco Cecchin loswerden; er hört ihn einfach, wenn er mit einer Familie arbeitet. Und er hört Whittaker und Selvini. So begleitet mich eine ganze Reihe von Stimmen auch. Die Stimme von der ältesten Tochter von Milton Erickson, bei der ich meine Lehrtherapie gemacht habe, und auch gute Freunde, die vielleicht Therapeuten sind oder auch nicht. Es sind viele Stimmen, glaube ich, also ein ganzer Chor an wichtigen Personen.


Ohler Rüdiger, ich danke dir sehr für deine Zeit. Ich freue mich, wenn wir uns wiedertreffen. Wir werden uns wieder treffen und so ein bisschen auf die Geschichte der Anerkennung der systemischen Therapie schauen, deine Rolle drin, die Gruppenprozesse, die da liefen. Darauf freue ich mich jetzt schon sehr. Und auch ein paar kleine Gespräche, die wir auch noch vorhaben. Für heute, glaube ich, haben unsere Hörerinnen und Hörer Stoff genug und wir freuen uns jetzt an der Sonne. Wir gucken ja wunderbar in die Rheinebene von der Praxis. Und ich bin froh, hier gewesen zu sein. Vielen Dank auch im Namen des Carl-Auer Verlags.


Retzlaff Ja, danke für das Gespräch.