Systemische Therapie – Forschungsgeschichten
Im Rahmen einer Gesprächsreihe im Frühjahr 2020 trafen sich Rüdiger Retzlaff, Kirsten von Sydow und Matthias Ohler in den Räumen des Carl-Auer Verlages.
Auch Kirsten von Sydow gehörte, wie Rüdiger Retzlaff, Jochen Schweitzer und andere, zu einer Expertise-Gruppe, über deren Entstehung und dynamische Geschichte auch hier wieder bislang Unbekanntes und Spannendes zu erfahren ist. Welche Bedeutung hatten die Tagungen zu systemischer Forschung in Heidelberg seit 2004? Wie verträgt sich systemische Praxis mit empirischer Forschung, die sich auch aus anderen Quellen speist? Und was ist für die Entwicklung systemischer Therapie - neben der Anerkennung auch für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen – weiter zu wünschen und zu hoffen?
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Transkription des Interviews
Retzlaff Ja, vielen Dank, lieber Matthias. Ich glaub, letzte Woche war es. Da kam die Nachricht, dass jetzt auch das Bundesgesundheitsministerium das Ja-Wort gegeben hat für die Anerkennung. Für mich sind es damit gut 17 Jahre, dabei zu sein an diesem Prozess der Expertise. Und du hast ja zeitgleich oder ein bisschen früher begonnen. Ich wollte dich als erstes fragen: Wie bist du eigentlich zu der Arbeit an der Expertise, die uns beide in unterschiedlicher Weise ja sehr, sehr lange beschäftigt hat, wie bist du dazu gekommen?
von Sydow Also die Wurzeln sind: Ich bin ja nun einerseits Psychologin und war lange eine forschende Psychologin und bin jetzt auch immer noch forschen, mit akademischen Ambitionen, und war gleichzeitig auch auf dem Weg zur systemischen Therapeutin. Da habe ich den Abschluss an dem Institut in Weinheim 1997 gemacht und parallel dann auch an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Gießen eine Ausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie. Und da war es immer schon so, dass ich die Praxis der systemischen Therapie –oder damals hat man eher gesagt der Familientherapie – ungeheuer spannend fand., aber mit dem, was da in den Lehrbüchern, gerade in den deutschsprachigen Lehrbüchern, zur Theorie stand, nicht so ganz glücklich war. Und dann war sicher mein Einstieg in den Blick auf die empirische Forschung zur Wirksamkeit von systemischer Therapie, dass mein damaliger Chef, Professor Christian Reimer in Gießen, das erste deutschsprachige Lehrbuch über Psychotherapie, das verfahrensübergreifend war, herausgegeben hat, mit noch drei anderen Co-Autoren, und ich dort das entsprechende Kapitel schreiben durfte. Und da habe ich 1996 ein Kapitel über Familien- und Paartherapie geschrieben. In der zweiten Auflage war es dann schon das Kapitel zur systemischen Psychotherapie. Und da habe ich schon, das war auch vorgegeben, im ersten Aufsatz eine halbe Seite, in der zweiten Auflage dann schon vier Seiten über Wirksamkeitsforschung zusammengetragen. Das war noch nicht megaviel. Das war 1996 und 2000. 1999 wurde ja von den systemischen Dachverbänden direkt nach der Gründung des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie ein von Schiepek erstellter erster Antrag auf wissenschaftliche Anerkennung der systemischen Therapie eingereicht, von der damals relevanten Fachgesellschaft AGST. Und das wurde von dem wissenschaftlichen Beirat abgelehnt. Mit zwei Begründungen. Davon wurde immer nur eine zur Kenntnis genommen. Das eine war: Zu wenige Studien; die waren auch noch nicht ganz vollständig recherchiert. Das andere war aber, dass der Zusammenhang zwischen Theorie und klinischer Praxis nur unzureichend dargelegt worden sei. Das haben die so gesehen, was ein ziemlich hartes Urteil ist. Die Systemiker haben darauf, würde ich jetzt sagen, eher gekränkt als sportlich reagiert. Ich persönlich fand aber damals schon, und das hab ich glaub ich auch irgendwo geschrieben, diese Entscheidung durchaus nachvollziehbar, weil ich auch fand, dass dieser Zusammenhang zwischen Theorie und klinischer Praxis nicht so ganz überzeugend dargestellt war. Ja, und das mit den zu wenig Studien, das kann man ja eigentlich leicht ändern. Da war ich noch gar nicht beteiligt, das habe ich nur von Ferne mitbekommen. Das war dann unter den Systemikern hoch umstritten, ob es riskiert werden sollte, da einen zweiten Antrag zu stellen. Also für mich als empiriefreundliche Systemikerin war klar, dass es geschehen sollte, aber mich hat zu dem Zeitpunkt keiner gefragt. Ich bin dann mit ins offizielle Boot dazugekommen dadurch, dass 2004 Jochen Schweitzer mich eingeladen hatte, bei der Tagung Systemische Forschung an der Universität Heidelberg im Juli 2004 einen Vortrag zu halten zum Thema "Interventionen in der systemischen Psychotherapie – Ein systematischer Forschungsüberblick". Und das war etwas, das mich dann schon wirklich motiviert hat. Und ich glaube, ich habe noch nie für einen unbezahlten Vortrag so viel Arbeit reingesteckt, um das zu recherchieren, und habe da schon eine ganze Reihe von Studien zusammengetragen. Dort hat sich herausgestellt, dass Jochen Schweitzer gleichzeitig Stefan Beher als Diplomanden auch auf ein ganz ähnliches Thema angesetzt hatte, der auch recherchiert hat, was aber eigentlich dann eine ganz gute Kreuzvalidierung unserer Befunde war. Und bei dieser Tagung 2004 gab es dann auch die erste ad hoc-Taskforce zum Thema Systemische Wirksamkeitsforschung. Wie soll das forschungsstrategisch im deutschen Sprachraum weitergehen? Da waren unter anderem Friedhelm Kröger, Arist von Schlippe und ich beteiligt. Da wurde dann erbittert gestritten bei dieser Tagung, und auch danach bei den Tagungen, und auf Seiten der forschungsfreundlichen Systemiker waren Jochen Schweizer, Rüdiger Retzlaff, ich und manche andere. Die Gegner waren zahlreich und erbittert. Also eine bekannte systemische Lehr-Therapeutin stand dann auch mit gereckter Faust plötzlich vor mir, weil sie mitbekommen hatte, dass ich durchaus auch Anhängerin bin der allgemeinen Psychotherapie nach Grawe. Das fand sie ganz empörend. Gleichzeitig waren bei diesen Forschungstagungen immer auch ausländische Gäste, und zwar die allerwichtigsten und bekanntesten aus den USA, und aus anderen europäischen Ländern. Die haben gar nicht richtig kapiert, was da so auf Deutsch erbittert gestritten wurde, auch aus Sprachhemmnis, aber auch, weil es in den USA und in anderen europäischen Ländern 2004 schon längst überhaupt keine Frage war, ob man jetzt evidenzbasiert arbeitet und ob man Evidenzen heranschafft, denn das musste man einfach, weil man sonst nicht existieren konnte. Also insofern war für mich diese Tagung in Heidelberg 2004 ein Wendepunkt. Da bin ich ins Boot gekommen, und das Boot ist mit großen Turbulenzen dann auch gestartet. Wir haben unsere wissenschaftliche Zusammenarbeit angefangen – also mit Jochen Schweizer, Rüdiger Retzlaff, Stefan Beher und anderen –, und angefangen, eine Reihe von systematischen Reviews zu erstellen ...
Ohler Das wurde dann ja auch publiziert, 2007 glaube ich...
von Sydow Ja, nicht gleich. Wir haben erst einmal Überblicksarbeiten geschrieben. Die haben wir sozusagen voll aus Eigenleistung, auch unbezahlt, erstellt, die zum Teil zunächst auf Deutsch in "Der Psychotherapeut" erschienen sind – also Wirksamkeitsstudien für Erwachsenenpsychotherapie und für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie – und später dann auch in Family Process auf Englisch zwei oder drei wichtige Reviewarbeiten.
Retzlaff Vielleicht darf ich eine kleine Ergänzung zur Vorgeschichte machen. Ich hatte 2003 in den USA mitgekriegt, als ich in die AFTA aufgenommen wurde: Die Zahl der Studien ist da. Zeitgleich hatte ich eine Woche vorher in der Kammer von Dirk Revenstorf für die hypnotherapeutische Therpie einen Antrag für den Beirat gesehen, und hab gedacht: Das kriegen wir hin. Und dann hatte ich Jochen Schweitzer, der skeptisch war, ob wir genug Schulden haben, vorgeschlagen, ob wir nicht einen Diplomanden hätten; so haben wirStefa n Beher an Land gezogen. Sodass ich mich von der Seite her sozusagen als Protagonisten sehe, und die Unterstützung von Jochen waren natürlich klasse, und dass wir dann auf der Forschungstagung diese beiden Daten gepoolt haben oder auch die Man-Power und Woman-Power, das waren glaube ich sehr gute Umstände.
Ohler Das war ja auch hier die Zeit, wo überhaupt erst angefangen wurde, sowas zu machen wie Tagungen zum Schwerpunkt Systemische Forschung. Das gab es ja in dem Sinn vorher auch nicht, oder?
von Sydow Ja. Ich denke, das war auch ein ganz wichtiger Impuls, diese Heidelberger Tagungen. Ist auch ganz schade, dass sie jetzt nicht mehr stattfinden, weil das wirklich auch ...
Ohler Wer weiß, vielleicht nimmt sich jemand der Sache an.
von Sydow Okay. Wäre super... Also da frischen Wind reinzubringen. Auch durch diese ganzen ausländischen Referenten, die wirklich nochmal einen anderen Hintergrund hatten.
Retzlaff Die wir auch gezielt eingeladen hatten, weil ich wusste, dass zum Beispiel Detlef Kommer, der später Präsident der Bundeskammer wurde, sehr wissenschaftsorientiert war, und wenn man dann Leute wie Sapochnik da hat, und und und, das hat einfach unheimlich geholfen, die Akzeptanz auf der Ebene der Psychologenschaft zu stärken.
von Sydow Soll ich sagen, wie es dann weitergegangen ist aus meiner Sicht? – Also, da haben wir diese Reviews geschrieben, und ich bin gleichzeitig dann auch 2004 als stellvertretendes Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats berufen worden und war dann über drei Amtsperioden stellvertretendes Mitglied, und jetzt seit 2019 bin ich reguläres Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie. Und dann wurde unsere Arbeitsgruppe damit betraut, von den systemischen Dachgesellschaften, DGSF und SG, im Auftrag dieser beiden Gesellschaften eine Expertise zu erstellen. Da hatten wir also schon mehrere Reviews vorher publiziert, auf die wir dann aufgebaut haben. Und dann haben wir diese Expertise zu viert geschrieben. Und da drin dann 33 RCTs – also randomisierte kontrollierte Studien, abgekürzt RCT – zu Störungen im Erwachsenenalter und 50 RTCs zu Störungen im Kindes- und Jugendalter zusammengetragen. Und diese Expertise ist dann auch bei Hogrefe als Buch erschienen: "Die Wirksamkeit von systemischer Therapie/ Familientherapie."
Ohler Genau, das ist das, was ich vorhin erwähnt habe ...
von Sydow Ich hatte natürlich ein bisschen einen Rollenkonflikt, weil ich gleichzeitig stellvertretendes Mitglied im wissenschaftlichen Beirat war und Erstautorin dieser Expertise. Ich habe damals im wissenschaftlichen Beirat angeboten, den Raum zu verlassen, wenn der systemische Antrag diskutiert wird. Da haben aber der damalige Vorsitzende Schulte und auch die anderen Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats darauf verzichtet. Und ich glaube, es war Schulte, der meinte, dass er sonst eigentlich, wenn die anderen Richtlinienverfahren diskutiert werden, sonst die Hälfte aller Leute den Raum verlassen müsste. Das könne man jetzt nicht verlangen. Aber es war klar – das ist mir auch wichtig, das zu betonen, für mich und auch für die wissenschaftlichen Beiratsmitglieder – dass ich nie über den systemischen Antrag abstimmen würde. In dieser Gefahr war ich auch nie, weil der Mann, dessen Vertreterin ich war, durchgängig beste Gesundheit gezeigt hat und größte Zuverlässigkeit. Er war in allen Sitzungen da.
Ohler Das sind schöne Geschichten.
von Sydow Also der Antrag auf die wissenschaftliche Anerkennung der systemischen Therapie wurde dann vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie sehr intensiv diskutiert und begutachtet – das waren auch sehr anstrengende Sitzungen, wo es auch wichtig war, dass ich da sehr, sehr gut in allen Details vorbereitet war – und wurde dann Ende 2008 – das hat ziemlich lange gedauert – endlich anerkannt. Damit wurde systemische Therapie wissenschaftlich anerkannt, sowohl als Verfahren der Erwachsenenpsychotherapie als auch als Verfahren der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Das heißt für alle Altersgruppen. Bisher gibt es sonst nur ein anderes Verfahren, das wissenschaftlich für alle Altersgruppen anerkannt ist, das ist Verhaltenstherapie. Die Psychodynamiker sind bisher nur für Erwachsenentherapie anerkannt, wissenschaftlich. Das war so ein wichtiger Zwischenpunkt, diese wissenschaftliche Anerkennung, die ja die Voraussetzung dafür war, dass man dann in die zweite Prüfungsrunde gehen konnte für die sozialrechtliche Anerkennung.
Ohler Im Moment ist es ja so, dass die sozialrechtliche Anerkennung auf Erwachsene beschränkt ist, aber da kann man ja sagen: Die Hoffnungen sind ja durchaus berechtigt, dass das auch für Kinder und Jugendliche irgendwann – ich sage es mal mit meinen Worten – nachgeholt wird bzw. dass auch dieser Schritt irgendwann kommen wird, oder?
von Sydow Ja, es ist ja jetzt letztes Jahr angekündigt worden, dass dieses Verfahren starten soll für Kinder und Jugendliche. Ich finde es erschütternd, dass es jetzt mehr als zehn Jahre nach der wissenschaftlichen Anerkennung noch immer nicht angefangen hat, aber jetzt wird es losgehen, und ich bin da sehr zuversichtlich, dass es auch anerkannt wird. Es gibt nämlich – und das ist erstaunlich, das ist einzigartig in der systemischen Therapie, sonst gibt es immer mehr Studien für die Erwachsenenpsychotherapie, in der Verhaltenstherapie oder psychodynamischen Therapie – aber bei der systemischen Therapie gibt es eigentlich mehr randomisierte, kontrollierte Studien zur Kinder- und Jugendlichentherapie. Deswegen ist es umso schockierender, dass dieses Verfahren noch nicht eröffnet wurde.
Retzlaff Es gibt etwa doppelt so viele Studien zum Kinder- und Jugendbereich. Das sieht man in unseren Artikeln in Family Process. Wwir haben zwei über Kinder und Jugendliche geschrieben und einen über Erwachsene. Da wird das Zahlenverhältnis sehr deutlich.
Ohler Offenbar muss man einen langen Atem haben, wenn man sich an Systeme koppeln muss, sozusagen.
Retzlaff Mir ist ein Spruch eingefallen, den ich von Minuchin habe: "You have to be in to be up." Wenn man irgendwie mitbestimmen will, dann muss man drin sein. Und dadurch, dass du im wissenschaftlichen Beirat mit drin warst, ist das auch auf der Kontaktebene sicherlich ganz anders gelaufen. Was für Hindernisse und Hürden gab es denn für dich, aus deiner Sicht?
von Sydow Also ich würde sagen, das größte Hindernis war die empiriedistante Haltung vieler Systemikerinnen und Systemiker und auch vieler systemischer Verbandsfunktionärinnen und -funktionäre. Da haben sicher Jochen Schweizer, Rüdiger Retzlaff und viele andere mit viel interaktionellem Geschick viel bewirkt. Da war ich jetzt nicht so dran beteiligt. Aber ich glaube, das waren extrem wichtige Prozesse, überhaupt die verbandsinterne Auseinandersetzung. Ansonsten war es schlicht sehr viel Arbeit, und nur ein sehr kleiner Teil davon wurde finanziell honoriert. Zum größten Teil habe ich und haben wir alle unbezahlt geforscht.
Retzlaff Nachtschichten.
von Sydow Mit Nachtschichten und Wochenendschichten. Also das war für mich eine sehr sinnvolle und erfüllende Arbeit. Aber ökonomisch war es jetzt nicht gerade optimal, wie das gelaufen ist. Ich war immer überzeugt davon, dass sich gute Forschung durchsetzt, und ich denke, das zeigt das jetzt auch, dass diese Überzeugung nicht ganz verkehrt ist. Im wissenschaftlichen Beirat war es vermutlich hilfreich, dass ich den Forschungsstand sehr gut kannte und so die meisten forschungsmethodischen Zweifel an den Outcome-Studien relativ gut parieren konnte. Und ein bisschen von dieser forschungsmethodischen Expertise von mir und von den anderen Mitstreitern und auch von Markus Haun, den man noch nennen muss, floss auch mit ein in die Auseinandersetzung mit dem IQWiG nach dem ersten Zwischenbericht. Ja, das waren Hindernisse, Hürden. Höhepunkte waren für mich sicherlich diese wissenschaftliche Anerkennung und natürlich auch die sozialrechtliche Anerkennung. Und es war ja so, dass, als dann endlich das Verfahren für die sozialrechtliche Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss eröffnet wurde, dass das IQWiG damit beauftragt wurde und wir alle auch ein bisschen Sorgen hatten, was das jetzt bedeutet, weil das IQWiG hatte zuvor noch niemals ein Psychotherapieverfahren evaluiert, immer nur Pharmastudien ...
Ohler Sag nochmal, was IQWiG ist, für die, die das nicht wissen.
von Sydow Ja, das ist das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Und die haben das dann aber gemacht, und die haben das Ganze nochmal völlig neu geprüft. Haben neue Recherchen gemacht und neue Metaanalysen gerechnet, und dann erst einen Zwischenbericht 2015 vorgelegt, und 2017 den Abschlussbericht. Da gab es auch noch mal Konsultationen, wo wir auch nochmal mit eingeschaltet waren.
Retzlaff Zwei Anhörungen, bei denen ich bei beiden dabei war, du warst einmal dabei ...
von Sydow Also, wo wir auch ein paar kritische Sachen angemerkt haben. Aber ich muss sagen, das war sozusagen Kritik im Detail. Ich finde, dass die eine großartige Arbeit geleistet haben, natürlich auch mit einer ganz anderen Manpower dahinter. Da haben mehrere Mitarbeiter jahrelang dran gesessen, an diesen Recherchen und den Metaanalysen.
Retzlaff Fast 20 Personen.
von Sydow Waren das so viele?
Retzlaff Bis zu 20 Personen, glaube ich, und die haben bezahlt und tags gearbeitet, und nicht nachts und unbezahlt ...
Ohler Ich meine man kann ja sagen, Entwicklung lebt von Widersprüchen, und wichtig ist, dass Leute sich drum kümmern, auch ein bisschen um den Diskurs. Das war sicher sehr anstrengend, sowohl mit den Systemen, die man dazu bewegen will, die Anerkennung zu machen, als auch mit denen, die den eigenen Weg, den man da geht, gar nicht so mit besonders freundlichen Augen beobachten, was du vorhin erzählt hast über die Verbände. Dass man diesen Diskurs auch aushält und mit organisiert.
von Sydow Ich war dann wirklich beeindruckt davon, von der Arbeit des IQWiG. Das kann man auch im Internet nachlesen, diese Berichte. Sie sind nur sehr dick. Der Abschlussbericht hat ungefähr 700 Seiten, das haben, glaub ich, nicht so sehr viele Leute gelesen. Diese große Arbeit.
Ohler War aber wichtig, offensichtlich.
von Sydow Das war sehr wichtig. Bedeutsam sind für mich auch die Publikationen, die entstanden sind, unsere Artikel, das Hogrefe-Buch, und auch Lehrbücher, die ich danach noch geschrieben habe, ein kleines für 2015 und dann auch dieses große Lehrbuch, was ich mit Ulrike Borst, zusammen herausgegeben habe, 2018 "Systemische Therapie in der Praxis". Auch durch die Kontakte, die ich unter anderem durch die Heidelberger Konferenzen und Ulrike natürlich auch hat, ist uns auch gelungen, fast alle wichtigen Begründer wichtiger Manuale, auch systemisch-integrativer Therapiemanuale, mit unterzubringen, die oft auch von ihren Begründerinnen und Begründern dargestellt wurden. Das ist auch etwas, was ich denke, was wichtig ist, auch für die Lehre in systemischer Therapie.
Retzlaff Wie hast du denn die Zusammenarbeit mit den Mitstreitern, Mitstreiterinnen erlebt. Wir waren ja am Anfang eine kleine Gruppe, später hat sich das ausgeweitet. Noch sehr viel später kam in einem, wie ich meine, zweiten Abschnitt dann ja die Kollegen und Kolleginnen von den Verbänden dazu, die sich auch auf der politischen Ebene sehr eingesetzt haben, was wir am Anfang ja mitgemanaged haben, über die Kammern und bis hin in die Parteien hinein, die ich mal eingeladen hatte und so. Aber wie hast du die Zusammenarbeit als Gruppe erlebt?
von Sydow Also erst mal jetzt die Zusammenarbeit mit der Kerngruppe, also uns vieren, die da angefangen haben ... Also, ich war erstmal Einzelkind und habe einen sieben Jahre jüngeren Bruder, also ich neige erst einmal zum Einzelkämpfertum. Das war für mich erst mal echt eine Umstellung, das jetzt zu viert zu machen. Und manches fand ich auch anstrengend, aber im Grunde fand ich das eine sehr positive Erfahrung, und ich denke, wir haben uns wirklich ganz gut ergänzt und da ziemlich gut zusammengearbeitet; und ich hab da auf dem Weg auch viel gelernt von euch. Und ... ja... was, glaube ich, viele systemische Therapeuten nicht so sehen wie ich, sage ich mal, dass am kniffligsten nicht ide Zusammenstellung der Primärstudien war – das war einfach viel Arbeit, das war auch viel Fleißarbeit, aber auch viel wissenschaftliche Sorgfaltsarbeit, das zu machen – aber ich denke, das kontroverseste, auch unter uns vieren, war erst mal die Einigung darüber, was die Definition von systemischer Therapie ist, die wir da zugrunde legen? Was sind die grundlegenden theoretischen Konzepte? Das unter uns erstmal, und dann aber auch mit den Verbänden. Da waren ja noch viele andere Leute, die das mit abgesprochen haben. Das abzugleichen und da wissenschaftlich tragfähige Aussagen zu entwickeln, was dann nachher auch vom wissenschaftlichen Beirat ebenso wie auch vom IQWiG und vom Gemeinsamen Bundesausschuss voll übernommen worden ist; diese Definitionen und Grundlagen. Das, denke ich, ist sozusagen eine wichtige Arbeit, denn das darf man nicht unterschätzen, dass das auch ein wichtiger Grund war, dass der erste Antrag rausgeflogen ist, dass das eben nicht für Außenstehende eine nachvollziehbare, klinische Konzeptualisierung dieser Therapierichtung war.
Ohler Und auch des definitorischen Rahmens, wenn man so will ...
Retzlaff Ja. Es war ja ganz wesentlich, dass wir, übrigens auch unter Mitwirkung von Arist von Schlippe, der auch immer diskutiert hat, und auch Wilhelm Rotthaus hat mitdiskutiert ...
von Sydow Ja. Ja. ... das war sehr hilfreich, sehr konstruktiv. Und ich glaube, Jürgen Kriz hat auch mitdiskutiert, wenn ich das richtig erinnere ... Wir haben ja im Grunde genommen eine sehr breite Verfahrensdefinition gewählt, dass dieser Begriff "systemische Familientherapie" eigentlich gut gefasst war, und nur dadurch haben wir natürlich auch die Breite der Studien erfassen können. Und es gab ja auch immer diese Diskussion: Systemische Therapie breit? Oder nur im Sinne von Mailänder Schule, konstruktivistisch-narrativ? Und ich glaube, nur mit dieser breiten Verfahrensdiskussion hatten wir überhaupt eine Chance; so wie zum Beispiel die humanistischen Verfahren sich jetzt auch breit definieren, und, wenn man so will, auch die Verhaltenstherapie oder die Tiefenpsychologie definieren sich als ein riesenbreites Feld.
Ohler Haben ein bisschen gelernt, kann man so sagen.?
Retzlaff Ja, es war einfach Taktik, und das war ganz wesentlich, dass wir das so gemacht haben.
von Sydow Das war im Wesentlichen breit. Aber das ist jetzt gerade auch ein Problem, denke ich, bei den Humanisten gewesen, dass es so breit war, dass nicht mehr so klar erkennbar ist, was ist jetzt das Gemeinsame. Also man muss schon breit aufstellen, aber man muss auch herausarbeiten, was das Gemeinsame ist ...
Ohler Und Unterschiedsbildung, oder?
von Sydow Vor allen Dingen der Blick auf den Kontext, ja, Blick auf Ressourcen, Blick auf interaktionelle Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Das ist ja zentral in unserer Definition. was noch vielleicht wichtig ist, als Ergänzung: Der Antrag wurde ja für Systemische Therapie/Familientherapie gestellt. Da hat damals der Wissenschaftliche Beirat gesagt, Familientherapie geht nicht, weil Familientherapie ein Setting ist, das auch andere machen, obwohl die anderen es de facto nur selten machen, äußerst selten. Aber deswegen heißt es dann jetzt offiziell Systemische Therapie. So kam es dazu.
Ohler Ist auch eine interessante Sache, dass man sdas bedenkt: Was wird als Setting verstanden, was wird als größerer definitorischer Rahmen verstanden?
Retzlaff Ich glaube dadurch, dass wir eine breite Definition in Abstimmung mit den genannten Kollegen gewählt haben, waren und sind wir auch anschlussfähig an das breite Feld der systemischen Therapie in Europa, in den USA, die sich eigentlich immer viel breiter definiert haben, und damit hat man eben auch Zugang zu wertvollen Grundlagen der Familientherapie, die natürlich auch da reingehören, oder zur Bindungstheorie, oder zu vielen anderen Ansätzen. Ich glaube, das muss man auch sein: Die Idee einer partikularen, exklusiven oder sonst was Wissenschaft – das wäre das Ende gewesen.
Ohler Viele Beiträge, die zur Entwicklung, zur Konzeptentwicklung, auch erkenntnistheoretischen Entwicklung geführt haben, kamen ja auch aus anderen Wissenschaften. Wird ja manchmal vergessen.
von Sydow Also was noch wichtig war: Ich denke, bei dem ursprünglichen Antrag, in dem theoretischen Teil, haben wir uns auch orientiert am gemäßigten Konstruktivismus und nicht am radikalen Konstruktivismus. Das ist eine Unterscheidung, die meines Wissens auf Helm Stierlin zurückgeht. Ich denke, bei ihm habe ich da mal was dazugelernt, also vielleicht nicht auf ihn zurückgeht, aber ich habe es bei ihm gelesen unter anderem. Also radikaler Konstruktivismus heißt: Alles ist sozusagen eine Frage des Blickpunkt und der Sichtweise. Gemäßigter Konstruktivismus heißt: Es gibt sozusagen objektiv feststellbare Daten. Also ob ein Mensch lebt oder tot ist. Wie hoch die Temperatur im Raum ist, wie viel jemand verdient und so weiter. Auch wie viele Leukozyten in einem Körper gerade unterwegs sind. Das lässt sich alles objektiv feststellen.
Retzlaff Oder ob 200.000 oder nur 2.000 Leute bei einer Einweihungsfeier eines Präsidenten waren ...
von Sydow Exakt. Exakt, ja. Genau das. – Es gibt natürlich unterschiedliche Sichtweisen; also zum Beispiel wann man ein Paar hat, das sich streitet, dann werden sie sicherlich sehr unterschiedliche Geschichten darüber erzählen können, wie es zu dem Streit kam, und wer schuld ist, und was das Problem ist. Aber ob jetzt einer den anderen dabei totgeschlagen hat, lässt sich objektiv feststellen. Und insofern ist es wichtig, da beide Seiten zu berücksichtigen, sowohl die objektiven Tatsachen, als auch die subjektiv immer unterschiedlichen Sichtweisen.
Ohler Das finde ich eine hochinteressante Geschichte. Das erinnert mich gerade an eine Debatte, wie sie aktuell in der Philosophie geführt wird, über den neuen Realismus, Markus Gabriel, den wir am Samstag in Mainz treffen. Ich nehme mal für mich die Einladung mit, das in meine Diskussion zu bringen. Denn es ist verwandt, er kommt von woanders her, aber ist eine sehr spannende Geschichte.
Retzlaff Der Helm hat ja diese Unterscheidung eingeführt zwischen der harten Ebene der Wirklichkeitskonstruktion und der weichen, also das passt eigentlich auch.
von Sydow Ja, genau das ist es ja.
Retzlaff Na ja, und dann ist es aus meiner Sicht so: Es gibt ja bestimmte Vorgaben, die einfach in den Gesetzen zu Psychotherapierichtlinien und so drinstehen. Man kann sagen, das ist alles blöd, oder man kann es anders sehen. Oder ich kann mich auch mit einem radikalen Konstruktivismus durchaus auch auseinandersetzen. Aber wenn ich in einen Club rein will, dann muss ich ein bisschen auch schauen, wie sind die Regeln, die innerhalb des Clubs gelten, und nicht gleich sagen "Eure Regeln passen mir nicht, ich will ganz andere Regeln haben" ... Das heißt aber nicht, dass ich die nun immer 100 Prozent verabsolutieren würde.
von Sydow Na, du hast ja eben schon Trump angedeutet. Also ich meine, Trump ist definitiv radikaler Konstruktivist. Und ich finde, dass man ...
Ohler Ich höre manche Hörer schon den Atem fest einziehen, aber das finde ich ja gerade spannend, wenn Diskussionen angeregt werden.
von Sydow ... das finde ich ... also dem, denke ich, muss man schon was entgegenstellen.
Retzlaff Ja, er macht sich die Wirklichkeit so wie sie ihm gefällt.
von Sydow Er bastelt es so, wie es ihm gefällt.
Ohler Das scheint überhaupt am Begriff des Konstruktivismus ein bisschen ein Zündstoff zu sein. Kann man auch nochmal drüber diskutieren.
von Sydow Ja.Ich meine Alternative Facts, was da seine Pressesprecherin ... Das heißt ja, man kann es so oder so sehen. Aber ich denke, das kann man in vielem, aber eben nicht in allem.
Retzlaff Was hat Dir denn am meisten Spaß gemacht eigentlich an dem ganzen Prozess, wenn du das so sagen kannst?
von Sydow Das Recherchieren hat mich schon auch sportlich herausgefordert, mal zu gucken, was wir da so alles finden können. Und ich bin auch, und arbeite auch, gerne systematisch. Das zusammenzufassen hat auch Spaß gemacht. Und ja, auch die Auseinandersetzung. Ich sehe das auch sportlich. Mir haben auch die Auseinandersetzungen im wissenschaftlichen Beirat jetzt nicht immer Spaß gemacht, aber ich sehe das eher sportlich, wenn es sozusagen eine gemeinsame Meta-Ebene gibt – und die gab es da ja, das ist die empirische Forschung – und dann kann man sich eigentlich über alles ganz gut einigen. Damit komme ich besser klar, als wenn es dann so ganz ... wenn Leute erbittert sind, weil ich vielleicht wissenschaftlich orientiert bin.
Retzlaff Die anderen Verfahren sind jetzt ja knapp 20 Jahre am Markt, haben sich sehr gut etablieren können, auch nach diesen ganzen gesetzlichen Regelungen. Welche Herausforderungen siehst du denn jetzt für das Feld der Systemischen Therapie in Deutschland nach der sozialrechtlichen Anerkennung? Das ist ja logistisch und im Hinblick auf Ausbildung und so weiter eine riesen Arbeitsleistung, die da zu stemmen ist. Welche Herausforderung siehst du als besonders gewichtig an?
von Sydow Ich finde es jetzt extrem wichtig, dass Systemische Therapie an die staatlichen Hochschulen kommt _ wenige Systemiker sind, wenn überhaupt, an Fachhochschulen – an die staatlichen Hochschulen, und auch in die Bereiche Klinische Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie, Erwachsenenpsychiatrie, Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie, und so weiter. Also da, wo eben auch Psychotherapeuten, Psychiater ausgebildet werden und damit auch das systemische Therapeuten auch mit dabei sind bei der Entwicklung des neuen Masterstudiums Psychotherapie. Und zwar nicht nur irgendwie als Lehrkräfte, sondern an maßgeblicher Stelle. Dass Professuren ausgeschrieben werden, dass Qualifikationsstellen ausgeschrieben werden, dass Forschungsprojekte möglich werden. Das ist was, wo ich erschüttert darüber bin, wie wenig die systemischen Dachverbände – also die sagen schon "Wir wollen das"– aber ich finde, sich viel zu wenig dafür einsetzen. Es gibt derzeit meines Wissens in der klinischen Psychologie 60 Professuren, 59 sind besetzt von Verhaltenstherapeuten, eine ist von einem Psychodynamiker besetzt. So kann es nicht bleiben. Da muss wirklich was geschehen. Aber ich finde, dass auch, weil die Ausbildungsinstitute, die bisher private Institute sind, hauptsächlich auf die Dachverbände orientiert sind, es nicht so eine starke Lobby unter den Systemikern gibt, sich da einzusetzen. Es gibt eine Gruppe psychodynamischer Hochschullehrer, die sich auch jetzt beim Psychotherapie-Master-Studium sehr eingesetzt haben. Die sind viel besser, schlagkräftiger organisiert. Da ist bei den Systemikern noch wenig, finde ich. Dann ist natürlich ein ganz wichtiger Schritt, dass für die Systemische Therapie als Verfahren der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie möglichst schnell endlich das Verfahren eröffnet wird und es möglichst sehr zügig durchgezogen wird. Und ich hoffe natürlich auch auf ein positives Ergebnis. Was ich auch noch einen wichtigen Punkt finde sind die Stundenkontingente in der Systemischen Kassentherapie in Zukunft. Dass es nicht nur so wenig Stunden sind, denn es gibt einfach schwer belastete Menschen und schwer belastete Familien, die jetzt nicht mit 30 oder 40 Stunden fertig sind, auch wenn Systemische Therapie wirksam ist und oft schnell wirksam ist. Das heißt nicht, dass alle schwer traumatisierten Leute dann schnell fertig sind. Und das, finde ich, muss noch viel stärker berücksichtigt werden. Dann, denke ich, ist es jetzt spannend mit den systemischen Therapieapprobationsausbildungen. Da muss – also das ist natürlich auch schon dabei – auch einiges rein an Inhalten, die bisher in systemischen Ausbildungen nur eine ganz randständige oder gar keine Rolle spielen, wie zum Beispiel standardisierte Diagnostik, Fragebögen, sowas. Forschungsmethodik, auch verfahrensübergreifende Grundlagen, und so weiter, was es alles gibt. Ich denke, das ist auf dem Weg, weil das auch einfach gesetzlich vorgeschrieben ist. Das andere ist natürlich auch, dass im Psychotherapiestudium, was kommen wird, auch die systemischen Kompetenzen und systemische Sichtweisen viel stärker verankert werden sollten. Dazu ist es aber wieder nötig, dass es auch die Leute gibt an den Hochschulen, die dann auch dafür sorgen, dass das getan wird. Auch in der Praxis, zum Beispiel. Wie führe ich ein Familiengespräch, wie führe ich ein Paargespräch? Das ist etwas, worin die nach bisherigen Richtlinien arbeitenden Therapeuten, in der allergrößten Mehrheit, überhaupt nicht ausgebildet sind ...
Ohler Ich würde gern etwas zur DGPPN fragen. Das ist mir gerade direkt eingefallen, weil das ja ein ganz großer Dachverband ist, der jährlich einen Riesenkongress macht mit 9000 Teilnehmenden, wo ich des Öfteren schon mal war. Das hat sich so entwickelt in den letzten 20 Jahren. Könnte so eine Kopplung sein, oder ein Versuch, auch dort eine stärkere Präsenz von Systemikerinnen und Systemikern zu haben, zum Beispiel über den universitären Kontext, und auch einen Nutzen haben für die Wahrnehmung Systemischer Therapie im Professionsbereich Psychiatrie, gerade, weil du eben von Psychiatrie gesprochen hast.
von Sydow Das wäre sicherlich sinnvoll. Ja, ich war da schon mal, aber das wäre natürlich gut, das regelmäßig da zu verankern. Und es gibt ganz viele weitere. Also auch DKPM. Auch da waren wir schon. Aber das regelmäßig zu machen, das ist einfach auch eine Frage der Menschen und der Arbeitszeiten. Ich habe ja jetzt nun an dieser privaten Hochschule, an der ich gearbeitet hatte, gekündigt, bin also primär in der Praxis und in der Aus- und Weiterbildung tätig. Das ist auch eine Frage, Kongressbesuche zu finanzieren, wenn man eben keine reguläre Stelle an der Hochschule hat.
Retzlaff Ich glaube, dass das auch ein wichtiges Stichwort ist für das Engagement der Verbände, die sich tatsächlich sehr engagieren, dass mehr Systemiker in diese neuen Psychotherapiestudiengänge reinkommen, aber wenn man nicht so viele Leute hat, die habilitiert sind oder schon eine Stelle im universitären Bereich haben, dann fehlt noch die Manpower, um das zu verwirklichen. Das ist ein längerer Prozess.
von Sydow Das ist ein längerer Prozess, aber es ist sicher auch ein Problem, dass wirklich sozusagen der Nachwuchs fehlt. Und wo soll der Nachwuchs herkommen, wenn es keine Professuren gibt, die Masterarbeiten, Promotionen, Habilitationen und so weiter betreuen können? Und es ist ja jetzt so – jedenfalls in der klinischen Psychologie, da kenne ich mich am besten aus –: Es wird oft ausgeschrieben, klinische Psychologie und Psychotherapie – ja, da könnte man sich auch bewerben als Systemiker. Es ist aber in aller Regel gekoppelt mit der Leitung einer Hochschulambulanz in Verhaltenstherapie, und jede Bewerbung, in der man nicht Lehrtherapeut für Verhaltenstherapie ist, fliegt raus. Und das ist was, wo die Verbände sagen müssen: "Okay, das können wir nicht so weiter machen. Das muss sich ändern."
Retzlaff Dazu erscheint gerade eine Stellungnahme, die einige von uns für die Deutsche Gesellschaft für Psychologie, für den Fachtag, geschrieben haben, wo es genau um solche Themen geht und die jetzt gerade im Netz erscheint. Kirsten, du bist ja nicht nur Hochschullehrerin und Forscherin in Sachen Systemischer Therapie, du bist ja auch Praktikerin. Kannst du etwas dazu sagen, das ermutigt, dass eine gute empirisch-basierte Systemische Therapie und eine gute systemische Praxisarbeit, therapeutische Arbeit, kein Widerspruch ist, sondern sich wunderbar ergänzen können eigentlich? Das ist so mein Ding. Das eine kann das andere ja auch befruchten, ganz klar.
von Sydow Also ich denke auf jeden Fall, dass Psychotherapieforschung sehr nützlich für die Praxis ist und auch praktische Erfahrungen wieder zurückwirken auf die Forschungsinteressen. Ich denke, dass sich das gegenseitig sehr befruchtet. Ich muss ja jetzt sagen, ich habe ja eine Kassenpraxis für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und mache noch für Selbstzahler systemische Paartherapie, ab und zu auch mal Familientherapie für Selbstzahler, das ist aber nicht so viel. Ich wollte nur sagen: Es ist ein unterschiedliches Klientel. Also Leute, die in eine Paartherapie kommen, die haben oft sehr gravierende Probleme mit ihrer Partnerschaft. Die können aber zumindest die nicht so geringen Honorare zahlen, die sie zahlen müssen. Das ist schon eine extreme Selektion. Die Leute, die ich in Kassenpsychotherapie sehe, , das sind andere Leute, also zum Teil. Natürlich sind auch die dabei, die auch sonst da kommen. Aber es sind auch eben Leute, alleinerziehende Mütter mit Hartz IV und vielleicht drei Kindern von drei verschiedenen Vätern, die auch alle irgendwelche psychischen Belastungen haben ... Das ist ein anderes Klientel, bei manchen mit viel geringeren ökonomischen, manchmal aber auch viel geringeren sozialen Ressourcen. Und ich denke, dass bei Systemikern wirklich eine Kluft gibt von Leuten, wie Rüdiger oder mir, die auch im Kassensystem schon länger arbeiten, mit anderen Richtlinienverfahren, und die diese schwerer belasteten Klienten kennen, und anderen, die dann vielleicht Coaching machen mit Führungskräften oder eben Paartherapien mit Leuten, die zumindest das Geld für die Paartherapie haben. Die kennen das nicht so. Mir liegt das sehr am Herzen, dass es auch in der systemischen Therapie möglich sein muss, schwer belastete, schwer traumatisierte sozioökonomisch schwache Menschen zu therapieren. Und das geht nicht immer alles in 20, 30 Stunden.
Retzlaff Und was dazukommt, und das hat mich auch immer beflügelt: Abgesehen von dem Gedanken der Wissenschaftlichkeit gibt es ja auch die Überlegung, dass Patienten oder Klienten die Möglichkeit haben sollen, Zugang zu kriegen zu einem Verfahren, das wir wirksam finden und sehr hilfreich, und neben den Interessen von den systemischen Therapeuten oder den Verbänden und so weiter gibt es ja auch das Interesse, das Menschen haben, dass sie gut versorgt werden. Und Heinz von Foerster hat ja mal so als Maxime systemischen Handels gesagt, die Wahlfreiheit, die Möglichkeit der Optionen, zu erhöhen. Und ich finde, Patienten sollten mitentscheiden über die Verfahren, die sie wählen wollen, die zu ihnen passen auch, und so gesehen ist das für mich ein großes Anliegen, auch in einem politischen, sozialpolitischen Sinne, dass man Bürger und Bürgerinnen diese Möglichkeiten verschafft ... Ich hoffe, dass das für Kinder und Jugendliche bald auch der Fall sein wird.
Ohler Mir ist gerade noch was eingefallen. Ich weiß nicht, ob ihr noch eine Frage habt, aber vielleicht als Abschlussstory. Ich habe gerade eine Graphic Novel gelesen, die auf den Bestsellerlisten steht, über Alexander von Humboldt und seine Reise nach Süd- und Mittelamerika. Und ich habe mir das, was ihr erzählt habt, über die Geschichte und über eure Gruppe, wie sie sich erweitert hat und all die Dinge, fast als Graphic Novel vorgestellt. Ich bin relativ sicher, wenn die Geschichten, die ihr zu erzählen habt, gehört werden, dass auch, hoffentlich nicht erst in 200 Jahren, die eine andere Geschichte über den Prozess der Anerkennung sich ein bisschen verändert, und vielleicht auch über die Zukunft. Ganz knapp und kurz vielleicht noch: "Was hast du – außer dem, was ihr jetzt schon gesagt habt, was der Rüdiger am Schluss gesagt hat über die sozialpolitischen Fragen – was hast du für einen Wunsch für die nächsten fünf Jahre, was passieren wird über die Anerkennung der systemischen Therapie für Kinder und Jugendliche hinaus? Was wünschst du dir für die Szene?
von Sydow Mehr Neugier auf Wissenschaft und empirische Forschung wünsche ich mir für die Systemiker. Also Systemiker sind ja so offen für alle Sichtweisen, aber nicht immer für empirische Forschung, vor allen Dingen, wenn sie aus anderen Bereichen kommt. Und da wünsche ich mir auch da eine größere Offenheit noch.