Erinnerungen an Humberto Maturana: Heiko Kleve

Humberto R. Maturana – oder: die kompromisslosen Konsequenzen eines radikalen Biologen


Ich habe Humberto R. Maturana nur einmal, und zwar im Jahre 1996 auf dem Heidelberger Kongress Science-Fiction. Fundamentalismus und Beliebigkeit in Wissenschaft und Therapie erlebt, aber davor und danach immer wieder erneut mit Faszination gelesen. Mich beeindrucken seine Konzepte, die die theoretischen, praktischen und ethischen Perspektiven eines systemtheoretischen Denkens ähnlich, zugleich aber auch ganz anders ausbuchstabieren, als dies bei Niklas Luhmann geschieht. Die Lektüre von Maturana offenbart ein kompromissloses Denken der Konsequenzen einer radikalen Biologie, die es schafft, die Grundspannung der Existenz in beeindruckender Weise auf den unterschiedlichen Ebenen des Lebens zu veranschaulichen, nämlich die Spannung zwischen einerseits Trennung, Begrenzung, Differenzierung, Unabhängigkeit oder Autonomie und andererseits Verbindung, Überschreitung, Einheit, Abhängigkeit oder Heteronomie.


Maturanas Konzept baut auf einem bestimmten Verständnis von Praxis, im Sinne von Herstellung, Produktion, Verrichtung auf, das mit dem Begriff Autopoiese bezeichnet wird. Alle lebenden Organismen, angefangen von der Zelle bis zu komplexen Lebewesen, realisieren sich durch den Prozess der Autopoiese, also durch eine permanente Selbstherstellung. Dies geschieht durch grenzbildende Prozesse im Organismus, der in einem umgebenden Milieu eingebettet ist und mit diesem im energetisch-materiellen Austausch steht. Hinsichtlich seiner Kognition, seiner Informationsbildungsprozesse, die ihm die Orientierung im Milieu allererst ermöglichen, ist der Organismus jedoch abgegrenzt und geschlossen. Leben ist demnach grundsätzlich zweierlei: sowohl Austausch von Materie und Energie in der organismischen Strukturkopplung mit der Umwelt als auch Schließung durch organismische Grenzen und Informationsgenese innerhalb dieser.


Wer dieses Prinzip einmal verstanden hat, denkt über unsere lebende Welt anders als zuvor. Angesichts der Betrachtung der aktuellen Pandemie etwa sprengt das Autopoiese-Konzept klassische Kausalitätsvorstellungen von Ansteckungsprozessen. Auch wenn ein äußeres Agens, sprich: ein Virus in den Organismus eindringt, heißt dies noch nicht, dass damit determiniert ist, was dann geschieht. Denn das mit der Autopoiese einhergehende Konzept der Strukturdetermination verdeutlicht nämlich, dass sich Kausalitäten an den organismischen Grenzen brechen – oder pointierter: dass die internen Prozesse der jeweiligen Lebewesen und nicht deren Umwelt „bestimmen“ (im Sinne von determinieren), was äußere Einflüsse in diesen anzurichten vermögen. Wer mental in der Lage ist, diese radikale Sichtweise tatsächlich psycho-emotional zu internalisieren, dürfte auch immunologische Effekte spüren, eine Stärkung der eigenen Abwehr – zumindest lässt sich mit den Forschungsergebnissen der Psychoneuroimmunologie diese These aufstellen (siehe ausführlich dazu z.B. Christian Schubert/Magdalena Singer: Das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren: Gesundheit und Krankheit neu denken. Perspektiven der Psychoneuroimmunologie. Norderstedt, 2020).


In theoretischer Hinsicht geht das eminent praktische Konzept der Autopoiese mit der Idee des Beobachters einher, der die einzige Referenz ist für das, was wir über die uns umgebende Welt wissen können. Alles, was wir wissen, fühlen und tun, resultiert aus unseren Beobachtungen. Diese Beobachtungen werden durch die Welt um uns herum, durch die strukturelle Verkoppelung mit dieser angeregt. Aber die Informationen, die wir durch das Beobachten bilden, die uns zugänglich sind, konstruieren sich durch unsere eigenen Beobachtungsinstrumente, also durch die sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten im Zusammenwirken mit dem komplexen Nervensystem. Dieser Kern der konstruktivistischen Erkenntnis verweist wiederum auf Beides: einerseits auf die Verbindung mit der Welt, die die Beobachtung anregt sowie notwendig macht, und andererseits auf den individuellen Prozess der Beobachtung, der die Qualität von Informationen erst hervorbringt.


Aus einer ethischen Perspektive ist diese Welt, in der die Beobachtung stattfindet, und die Organismen leben lässt, eine soziale, die auf gegenseitige Akzeptanz und Achtung aufbaut – eine Welt also, in der sich eine Vielzahl von Organismen in Verbindung miteinander ihr Leben gegenseitig ermöglichen. Dies gilt freilich für menschliche Gemeinschaften und Gesellschaften, aber kann wohl auf die gesamte lebende Materie ausgedehnt werden. Alles Leben ist Grenzbildung (Autopoiese) und Verbindung (Strukturkopplung) zugleich.


Für Maturana folgt daraus eine Ethik, die sich abhebt von vielen eher nüchternen Betrachtungen der Systemtheorie (etwa Luhmanns) und die die Liebe ins Zentrum stellt. Da Leben bereits in seiner biologischen Basis ein Prozess ist, der Unterschiedliches und Individuelles hervorbringt, was sich jedoch nur in Verbundenheit und Bezogenheit reproduzieren und entwickeln kann, erscheinen die Anerkennung und Achtung vor diesem Prozess mit dem Begriff „Liebe“ konsequent und passgenau bezeichnet zu sein. Denn Liebe macht auch biologisch Sinn – in den Worten von Maturana und seinem Kollegen Francisco Varela (dies.: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern/München, 1987): „Wir haben nur die Welt, die wir zusammen mit anderen hervorbringen, und nur Liebe ermöglicht es uns, diese Welt hervorzubringen“ (ebd., S. 267). Damit „machen wir einzig und allein die Tatsache offenkundig, daß es, biologisch gesehen, ohne Liebe, ohne Annahme anderer, keinen sozialen Prozeß gibt“ (ebd., S. 266; Hervorhebungen im Original).