Erinnerungen an Humberto Maturana: Fritz B. Simon

Einige persönliche Erinnerungen an Humberto Maturana (sicher kein Nachruf)


Humberto Maturana ist gestorben, sein Organismus hat seine Autopoiese beendet. Eine der vielen Ironien des menschlichen Lebens besteht darin, dass auch ein Mensch, der sich maßgebend mit der Frage beschäftigt, wie „Leben“ zu erklären ist, irgendwann stirbt und damit noch ein letztes Mal seine Konzepte bestätigt.


Humberto Maturana und Francisco Varela gelten als die Schöpfer des Autopoiese-Konzepts, und obwohl zwischen ihnen nach längerer Zusammenarbeit massive Konflikte ausgebrochen waren, müsste man eigentlich immer über beide schreiben, wenn über die Entstehung des Autopoiese-Modells geschrieben wird. Dies vorausgeschickt, will ich mich dennoch hier – aus Anlass seines Todes – allein mit Maturana beschäftigen. Und da ich nicht viel über den Privatmann Maturana sagen kann, weil ich ihm nur in fachlichen Kontexten getroffen habe, und viele andere Leute über seine fachlichen Verdienste wahrscheinlich auch weit mehr sagen können, will ich – ganz egozentrisch – über mein (ziemlich einseitiges) Verhältnis zu Maturana, vor allem aber zum Konzept der Autopoiese schreiben.


Ich muss gestehen, dass ich zunächst, wie meine Heidelberger Kollegen, dem Modell sehr skeptisch gegenüberstand. Es schien mir schlicht überflüssig, denn wenn man sich die Kommunikationsmuster von Familien anschaut, dann braucht man nicht wirklich ein solches Konzept, um die Wechselbeziehungen zwischen psychischen Prozessen und Kommunikationsprozessen zu sehen und entsprechend intervenieren zu können. Ins Feld der Familientherapie wurde damals – in der ersten Hälfte der 80er Jahre – die Idee der Autopoiese (nach meiner Wahrnehmung) von Karl Tomm aus Calgary („Die Fragen des Beobachters“) und Kurt Ludewig („Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie“) aus Hamburg eingeführt. Dass zwischen uns in Heidelberg und den Hamburger Kollegen eine gewisse Rivalität bestand, war wohl ein weiterer Grund, sich nicht näher mit der Autopoiese auseinander zu setzen.


Für mich persönlich änderte sich das erst, als ich Anfang 1984 für mehrere Wochen aus familiären Gründen in Madras/Indien (heute: Chennai) festsaß. Inmitten des Trubels indischer Großstädte wohnten wir in einer Art Gegenwelt: Freunde hatten uns in einer der Wohnungen des Madras-Clubs, eines ursprünglich mal britischen Herrenclubs, einquartiert. Seit der Zeit der britischen Kolonialherrschaft hatte sich dort offenbar nichts geändert, außer dass ein komfortabler Swimming-Pool gebaut worden war. Die Verhaltensregeln und Konventionen waren geblieben: Frauen durfte dort nur in Begleitung eines/ihres Mannes länger verweilen, zum Betreten des Speisesaals oder der Bar musste man eine Krawatte tragen, zur Feier irgendeines schottischen Feiertags trug man (d.h. in erster Linie Inder, neben ein paar aus der Kolonialzeit übrig gebliebenen, in Gin-Soda konservierten Engländern) einen Kilt (ehrlich!), morgens wurde der Early Morning Tea mit einer Banane und dem „Indian Express“ von den weit über 70jährigen „Boys“ in makelloser weißer Uniform – aber barfuß – serviert. Und ich las Maturana. Diese Assoziation wird mir immer bleiben, und die hat meine weitere Beziehung zum Autopoiese-Konzept sicher irgendwie mitgeprägt. Denn die Autopoiese der Clubregeln war für mich offensichtlich (wobei ich damit schon Maturanas Konzept in einer Weise nutzte, die ihm nicht gefallen hätte). Nicht nur der Innen-Außen-Kontrast zwischen dem Alltagsleben auf den indischen Straßen und dem Leben im Club (als „Temporary Member“), sondern auch die Beständigkeit der Regeln des Clublebens, die sich wahrscheinlich seit 1832, dem Gründungsjahr, erhalten hatten, bildeten den Kontext meiner Maturana-Lektüre und Anschauungsmaterial für mein Autopoiese-Verstehen.


Madras wurde sozusagen mein Damaskus (blöde Metapher, ich gebe es zu). Aber, obwohl ich zunächst große Probleme hatte, Maturanas und Varelas Gedankengängen zu folgen (und das nicht nur, weil ich die Lektüre mit Widerständen begonnen hatte), so hatten die Texte doch eine hypnotische Wirkung auf mich. Ich vermute mal, dass es anderen Leuten auch so geht/ging. Wenn man sich erst einmal auf die Begrifflichkeit eingelassen hat und die Prämissen verstanden hat, dann ist das Autopoiese-Konzept ungemein plausibel, und seine praktischen Konsequenzen sind radikal. Das Problem für viele Leser ist und war, dass Maturana oft Begriffe mit einer gegenüber dem Alltagsgebrauch abweichenden Bedeutung verwendet. So hat er den Leser am Haken. Der ist zunächst empört und wirft das Buch entweder in die Ecke, oder er bleibt dran und wird damit in die Sprache und die Gedankenwelt Maturanas hineingezogen. So mag sich auch erklären, dass heute die systemtheoretische und systemische Szene gespalten erscheint: entweder ganz für oder ganz gegen das Autopoiese-Konzept.


Maturana selbst habe ich erst kennengelernt, nachdem Francisco Varela schon bei uns gewesen war. Im Frühjahr 1986 veranstalteten meine Heidelberger Kollegen eine Tagung mit dem Titel „Lebende Systeme“ (gibt es immer noch als Buch), zu der wir beide, d.h. Maturana und Varela, zusammen mit Heinz von Foerster und Niklas Luhmann einladen wollten. Relativ schnell wurde klar: Entweder der eine kommt oder der andere. Beide lehnten es ab, miteinander aufzutreten. Aus terminlichen Gründen wurde es Varela.


Maturana kam dann kurze Zeit später, und danach ziemlich oft: zu einer Veranstaltung mit ihm allein, später zu diversen Kongressen, die wir organisierten. Und alle, alle kamen. Sogar der bereits über 100 Jahre alte Hans-Georg Gadamer, Heidelberger Philosophen-Fürst, ließ sich Maturana nicht entgehen. Stets wurde Maturana von einer – wenn auch immer einer anderen – Dame bei seinen Heidelberg-Besuchen begleitet, wobei man über seine Beziehung zu ihnen nur spekulieren konnte. Verehrerinnen, Kolleginnen, Freundinnen? Wahrscheinlich eine Mischung aus ihnen. Zu der Zeit entwickelt er seine „Matristischen“ Modelle, die wohl in der engen Beziehung zu seiner Mutter ihre Wurzeln hatten, für die er aber bei uns und im deutschsprachigen Raum wenig Anhänger fand. Bei den Veranstaltungen trug er meist einen langen Wollschal, bestand immer darauf, dass ihm eine Tafel und Kreide zur Verfügung gestellt wurden, nie nutzte er Flip-Charts, Projektoren oder Computer (aber das war eh noch in einer Zeit vor PowerPoint). Seine nonverbale Kommunikation charakterisierte einmal jemand, wie ich finde ganz passend, als „stolzer Spanier“, stets aufrecht und erhobenen Hauptes (vielleicht ja nur, weil er kein Riese war) – auch im übertragenen Sinn.


In der Diskussion zeigte er sich von einer freundlichen, aber vollkommen unnachgiebigen Rigidität. Ein wenig in Wallung schien er nur zu geraten, wenn sein Autopoiese-Konzept auf nicht-biologische Phänomenbereiche übertragen wurde – wie dies ja nicht nur von Niklas Luhmann (und uns in Heidelberg) getan wurde. So erzählte er mir einmal, dass er bei einer Tagung in Kassel zur Selbstorganisation von ... (ich weiß nicht mehr was) sich vor Erich Jantsch, den Organisator der Tagung und u. a. Autor eines Buches über die Selbstorganisation des Universums, gekniet und ihn angefleht habe, für das, was er da beschreibt, „bitte, bitte“ nicht den Begriff Autopoiese zu verwenden.


Es half ihm nicht: Er teilt das Schicksal von Eltern, die Kinder in die Welt setzen und dann sehen müssen, wie die ein Eigenleben entwickeln. Das Autopoiese-Konzept wurde auf andere Bereiche übertragen, erwies sich dort als extrem nützlich, Maturana konnte das nicht verhindern.


Obwohl er Humor hatte, nahm er das nicht mit Humor. Er haderte damit. Jedesmal, wenn man ihn traf: Seine Einstellung blieb dieselbe. Jeder Versuch ihn zu überzeugen blieb witzlos.


Sein Humor zeigte sich aber, als Gunthard Weber und ich ihn anschrieben und baten, uns doch von seiner Begegnung mit Carl Auer, dem Namensgeber des von uns gerade in der Gründung befindlichen Verlages, zu berichten. Er lieferte einen aufschlussreichen Text, der über Humberto Maturana wahrscheinlich mehr sagt, als seine fachlichen Texte – nachzulesen in: „Carl Auer – Geist or Ghost“ (hier schreibt er u.a. über seine Mutter). Eine weitere Vignette, die mir in den Sinn kommt: Wir saßen bei einem seiner Heidelberg-Besuche auf der Terrasse der Molkenkur, eines Tagungshotels auf einem Berg oberhalb der Stadt, und ich erklärte ihm, ich hätte immer gedacht, Autopoiese heiße, ein Mensch schreibt Gedichte über sein Kraftfahrzeug. Er lachte schallend, offenbar überrascht von der aus meiner Sicht vollkommen logischen und naheliegenden Assoziation.


Was mich persönlich an Maturana am meisten beeindruckte, war die Radikalität, mit der er die Verantwortung des Beobachters betonte. Er sei verantwortlich für die ganze Welt, nicht nur für seine Beobachtung.