Sozialsystem

engl. social system, franz. système m sociale, ist ein System der sachlichen Ausdifferenzierung und zeitlichen Reproduktion des Sozialen. Es unterscheidet sich damit von organischen Systemen, psychischen Systemen (Psyche) und artifiziellen Systemen, die es gleichwohl in seiner Umwelt vorfindet und mit deren Dynamik es sich seinerseits auseinandersetzt. Das Sozialsystem lebt nicht, denkt nicht und ist auch keine Maschine im technischen Sinne. Stattdessen wird im Sozialsystem gehandelt oder kommuniziert (Kommunikation). Radikalere Formulierungen, die die Selbstreferenz des Systems betonen, sagen sogar, das Sozialsystem handele oder kommuniziere »selbst«. Das soll heißen: Es reproduziert Handlungen oder Kommunikationen, deren Selektivität und Komplexität sich aus der Sicherheit ergibt, mit der das Sozialsystem sich ausdifferenziert und reproduziert. Das Stichwort der »Sicherheit« impliziert hier Fehlerfreundlichkeit, Überraschungsreichtum und Unvorhersehbarkeit, mit wissenschaftlichen Worten: Nichtlinearität und Nichttrivialität. Menschen und andere Organismen sowie Maschinen in der Umwelt des Sozialsystems können in unterschiedlichem Ausmaß geneigt sein, sich die Handlungen und Kommunikationen selber zuzurechnen, die im Sozialsystem ausdifferenziert und reproduziert werden. Man benötigt den theoretisch gewappneten Blick, um die sich aufeinander beziehenden und miteinander verwechselnden Systemreferenzen voneinander zu trennen.


Der Sinn des Begriffs des Sozialsystem liegt nicht darin, den Begriff des Systems ein weiteres Mal anzuwenden und zu bestätigen, sondern darin, das Soziale im Unterschied zu Leben, Bewusstsein und Technik als eine eigene und eigensinnige Emergenzebene beobachtbar zu machen. Das Soziale kann man definieren als eine Form der Abhängigkeit, auf die sich unabhängige Organismen einlassen, solange ihre Unabhängigkeit nicht grundsätzlich gefährdet ist (Luhmann 2002). In verschiedenen Sozialsystemen wie Familien, Organisationen, in der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst oder Religion kann man beobachten, dass neue Unabhängigkeiten gewonnen und gesteigert werden können, weil die Elemente des Sozialsystems (Handlungen, Kommunikationen) unter die Bedingung scharfer Einschränkungen gesetzt werden. Jede einzelne Handlung oder Kommunikation gewinnt eine größere Reichweite etwa der Bestätigung von Liebe, der Koordination von Arbeit, der verbindlichen Entscheidung, des Zugriffs auf Güter und Dienstleistungen und so weiter unter immer unwahrscheinlicheren Bedingungen. Je nachdem, ob und wie die Umwelt mitspielt, kann jedoch auch das Gegenteil der Fall sein, dass die einmal gesetzten Einschränkungen sich immer weniger bewähren und das Sozialsystem immer rigider auf seinen eigenen Strukturen beharrt. Die beiden anspruchsvollsten Versionen eines Begriffs des Sozialsystems stammen von Talcott Parsons und Niklas Luhmann. Für Talcott Parsons ist das Sozialsystem eines von vier Subsystemen des sogenannten allgemeinen Handlungssystems. Seine Funktion besteht darin, Handlungen, die zugleich körperlich vollzogen, persönlich beabsichtigt und kulturell bewertet werden, untereinander zu integrieren, das heißt so voneinander zu unterscheiden und aufeinander abzustimmen, dass das körperliche Verhalten, die persönliche Zielsetzung und die kulturelle Bewertung jeweils ihr Spiel und ihre Orientierung finden (Parsons 1951, 1978). Parsons hat damit Fragestellungen aufgeworfen, die heute in den sogenannten Kognitionswissenschaften wieder eine Rolle spielen. Niklas Luhmann hat das Vierfunktionenschema von Parsons verworfen, jedoch die beiden Bedingungen der sachlichen Ausdifferenzierung und zeitlichen Reproduktion beibehalten (Luhmann 1980). Sein Begriff des Sozialsystems unterscheidet drei Fälle von Sozialsystem, die Interaktion als Kommunikation unter Anwesenden, die Organisation als Kommunikation unter Mitgliedern und die Gesellschaft als Kommunikation unter Abwesenden (Luhmann 1984). Jede dieser drei Formen von Kommunikation ist unwahrscheinlich. Anwesende können sich zurückziehen, Mitglieder können sich nicht angesprochen fühlen, und Abwesende können prinzipiell nicht kontrolliert werden. Die Theorie von Sozialsystemen untersucht daher vornehmlich die Bedingungen, unter denen diese Unwahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit transformiert werden kann, etwa Respekt und Takt in Interaktionssystemen, Hierarchie und Zweckmäßigkeit in Organisationssystemen und Information und Faszination im Sozialsystem Gesellschaft.


Die Theorie von Sozialsystemen wird ihrerseits in einem Sozialsystem formuliert und ausgearbeitet: im Sozialsystem der Wissenschaft. Das heißt zum einen, dass auch für sie gelten können muss, was sie über ihren Gegenstand sagt. Und es heißt zum anderen, dass sich die Theorie die besonderen Bedingungen der Ausdifferenzierung und Reproduktion im Sozialsystem der Wissenschaft klarmachen muss. Diese Bedingungen führen unter anderem dazu, dass die Theorie von Sozialsystemen die Sozialsysteme anders beschreibt, als sie sich selbst beschreiben. Damit werden nicht unbedingt kritische, aber doch abweichende Bedingungen der Beschreibung in die Gesellschaft eingeführt, die daraus ein erweitertes Potenzial der Selbstbeobachtung und daraus neue Handlungsmöglichkeiten schöpft.


Verwendete Literatur


Luhmann, Niklas (1980): Talcott Parsons – Zur Zukunft eines Theorieprogramms. Zeitschrift für Soziologie 9: 5–17.


Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Luhmann, Niklas (2002): Einführung in die Systemtheorie. (Hrsg. v. Dirk Baecker) Heidelberg (Carl-Auer), 6. Aufl. 2011.


Parsons, Talcott (1951): The social system. New York (The Free Press).


Parsons, Talcott (1978): A paradigm of the human condition. In: Talcott Parsons: Action theory and the human condition. New York (The Free Press), pp. 352–433.


Weiterführende Literatur


Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).