Worst Case Scenarien – Der sichere Weg, um Ziele zu erreichen.

Entscheidungen zu fällen, ist für viele nicht leicht. Dies bestätigt auch eine Umfrage unter 402 Executives und Führungskräften zum Thema „Welcher Entscheidungstyp bist Du?“, die ich in Kooperation mit Galileo durchgeführt habe. Das Ergebnis: 71 Prozent der Befragten tun sich mit professionellen, gerade mit Budget-Entscheidungen schwer. Und mehr noch: 52 Prozent geben offen zu, bei risikoreichen unternehmerischen Entscheidungssituationen überfordert zu sein, zumal wenn diese anders ausgehen als geplant. Darum schieben sie Entscheidungen lieber auf bzw. die Entscheidungen werden ausgesessen.


Prokrastination, besser bekannt als Aufschieberitis, ist ein bekanntes Phänomen, dem laut Eigenaussagen acht von zehn Bundesbürgerinnen und Bundesbürger erliegen: Von alltäglichen bis zu tatsächlich relevanten Dingen (Überweisung, Steuererklärung, Bankgeschäfte) wird alles aufgeschoben. Man scheitert an einem Zuviel an Informationen und einem Zuwenig an Zeit für liegengebliebene Aufgaben – dazu kommt dann das eigene schlechte Gewissen. Und das gibt uns den Rest: Stress und Demotivation.


Auch Organisationen haben dieses Problem. In der Corona-Pandemie hat sich beispielsweise gezeigt, wie wenige Unternehmen es tatsächlich wagen, trotz Existenzdrucks etablierte Geschäftsmodelle zu hinterfragen oder gar über Bord zu werfen.


Die Krise hat ein Phänomen verstärkt, das ich seit jeher beobachte: Im Management sitzen keine Entscheider."

Die Krise hat 82% der Firmen in eine Art Schockstarre versetzt: Ihre Angst vor Fehlentscheidungen führt oft dazu, dass gar nichts entschieden wird. Was meist folgt, sind der Konkurs oder die Übernahme. Diejenigen Firmen bilden die Ausnahme, die mehr oder minder „über Nacht“ innovative neue Projekte oder Business-Modelle ins Leben gerufen, sich zunächst mit pareto-optimalen Lösungen zufrieden gegeben, später nachgeschärft haben. Aber insgesamt hat die Krise ein Phänomen pointiert, das ich seit über 20 Jahren beobachte: fehlende Entschlusskraft gerade im Management deutscher Unternehmen.

Fehlerangst bremst Unternehmen aus

Was unterscheidet nun entscheidungskräftige Vorgesetzte von anderen? Wie kommunizieren, kollaborieren und kooperieren sie? Und wie sollten Unternehmen jetzt die Entschlusskraft im Management steigern, um Erfolgsfaktoren wie Initiative, Leistungsbereitschaft, Veränderungswillen, auch Optimismus zu stärken?


Tatsächlich fühlen sich 86 Prozent der Mitarbeitenden durch ihre Vorgesetzten überfordert. Sie beklagen den Umgangston, aber vor allem die intransparente Delegation sowie die Nichteinhaltung klarer Kommunikation. Trotz digitaler Möglichkeiten stecken viele Unternehmen hier noch in den Kinderschuhen, nutzen Services weder zur transparenten internen Arbeitserleichterung noch zur schnellen Abstimmung mit Kundinnen und Kunden.


Gleiches gilt in der Bewerberkommunikation: Während Kandidaten und Kandidatinnen in Auswahlprozessen oft über Monate auf ihre Bewerbungsgespräche warten, beklagt man seitens Unternehmen und Presse weiter den Fachkräftemangel. Die Personaldecke der Unternehmen wird vielerorts noch als zu komfortabel eingeschätzt, die eigene Führungsschwäche bleibt dagegen ein blinder Fleck.


„Führungskräfte wollen keine Verantwortung für Negativentwicklung."

Eine Studie der Boston Consulting Group aus dem Jahr 2019 zeigt, dass neun von zehn Führungskräften in ihren Entscheidungen eher zögern. Die Ursachen dafür liegen in der Angst, mit einer falschen Entscheidung die Verantwortung für eine negative Unternehmensentwicklung tragen, an Status einbüssen oder gar den Job verlieren zu müssen. Das bedeutet eine Verdreifachung innerhalb von nur zehn Jahren: Im Jahr 2009 gaben nur 29 Prozent an, bei wichtigen Entscheidungen mit der Einschätzung möglicher Folgen überfordert zu sein, 2015 waren es bereits 73 Prozent.

Fehlende Vertrauenskultur als Ursache

Mehr denn je liegen die Ursachen für die fehlende Entscheidungsfreude in einer mangelnden Fehler- und Vertrauenskultur. Kaum eine Führungskraft ist willens, Verantwortung zu übernehmen: Jede Entscheidung soll optimal abgesichert sein, das Recherchevolumen im Vorfeld einer Entscheidung kann aus Angst vor dem Verpassen der besseren Option (Fear of better option, FOBO) schon mal antiproportional ansteigen. Am größten ist die Angst, etwas falsch zu machen. Zwar wird seitens vieler Unternehmen eine positive Fehlerkultur proklamiert. Im Alltag aber das Gegenteil gelebt. Die Folge: Bei möglichen Worst Case Scenarien werden Optionen nicht mehr erwogen, Prioritäten falsch gesetzt, Deadlines verpasst. Das kostet Zeit, Geld und Nerven.


Bereits die Delegation von Verantwortung fällt den meisten Chefs schwer. Sie trauen ihren Mitarbeitenden nur sehr bedingt eigenständige Entscheidungen zu, nach dem Motto „Vertrauen ist gut, Kontrolle besser“. Es löst fast Entsetzen aus, Informationen auf dem Weg zur Entscheidung zu verpassen (Fear of missing out, FOMO). Es fehlt das Vertrauen in die eigene Mannschaft, was die Email-Fülle in CC, BCC und die Tausende Stunden von Abstimmungsmeetings erklärt: im Mittel 7.000 Stunden pro Jahr und Kopf. Viele Chefs geben zwar vor, ihren Mitarbeitenden freie Hand zu lassen, in Wahrheit wollen sie aber doch alle Entscheidungen selbst treffen. Die allseits beklagte Komplexität und der angewachsene Handlungsdruck sind also vielfach hausgemacht, weswegen akute Krisensituationen dann umso schlechter bewältigt werden können.

Tagesgeschäft wird vorgeschoben

Das erklärt auch, warum Projekte initiiert, nicht aber zu Ende geführt, notwendige Change-­Prozesse gar nicht erst angestoßen, vakante Schlüsselpositionen nicht besetzt oder die anstehende Nachfolgepla­nung ausgesessen werden. Viele Unternehmen verschlafen buchstäblich wichtige Trends wie Digi­talisierung, E­-Mobilität oder Nachhaltigkeit, was im Extremfall zu Massenentlassungen oder Milliarden­-Verlusten führen kann.


Die jährlich durchgeführten Gallup­-Studien belegen: Mangelnde Entscheidungsfähigkeit führt außerdem zu hoher Demotivation in der gesamten Belegschaft. Und die Mitarbeitenden verlieren ihren Enthusiasmus, da ihre Initiativen nicht gewürdigt werden und in ihrem Unternehmen nichts voran­geht. Ein hoher Krankenstand, innere Kündigung und viel Fluktuation sind die Folge.


Die regelmäßig erscheinende Mittelstands­studie von Ernst & Young prognostizierte bereits 2018, dass innerhalb weniger Jahre 230.000 KMU schließen müssten, eben weil sie es versäumen wür­den, aufgrund des Tagesgeschäfts, einen ausrei­chenden Fokus auf die strategischen Ziele zu legen.


•Unternehmen sind nicht vollumfänglich mittels Mediennutzung positioniert, erliegen im Wettbewerb der Unsichtbarkeit.
•Sie haben keine wettbewerbsorientierte Mitarbeiterstrategie bzw. keine interne Personalentwicklung.
•Sie verfügen über keine Nachfolgeregelung, weder für Geschäftsführung noch für kritische Positionen.


All diese Versäumnisse sind Konsequenzen nicht getroffener Entscheidungen, die seit dem ers­ten Aufruf zum „War for Talent“ 1997 systematisch ausgeblendet wurden.

Sechs Schritte für eine bessere Entscheidungskultur

Entscheidungskompetenz hat sich gerade in einem immer agiler und globaler werdenden Wettbewerbsumfeld als Schlüsselfaktor herausgestellt. Entschei­dungsfreude zu etablieren, setzt einen Change­-Prozess im Unternehmen voraus hin zu einer Kultur, die auf Vertrauen basiert, Fehler als Learnings betrach­tet, Scheitern zulässt und in der die Mitarbeitenden angstfrei agieren können. In meinem Buch „Die Entscheidungs-Matrix“ (Springer, Heidelberg 2021) empfehle ich sechs Schritte, die Entscheidungen er­leichtern und deren Qualität erhöhen.


1. Ziele klar, konkret und kompromisslos setzen
Gene­rische Jahres-­ und Umsatzziele sind in vielen Unternehmen an der Tagesordnung, man diskutiert über Konditionen bezüglich deren Erreichbarkeit. Weder stärkt das Motivation noch Glaubwürdigkeit. OKR Management ist dann gut, wenn sich Mitarbei­tende in den Zielen wiederfinden, sich dafür verantwortlich und bereits in die Erarbeitung des Zielehorizonts eingebunden fühlen. Nur so entsteht eine gemeinsame Vision.


2. Worst-Case-Szenario designen
Schluss mit dem Euphemismus! Was kann bei Verzöge­rungen, bei Nicht­erreichen von Zielen, beim Fort­bestehen unternehmerischer Engpässe schlimms­tenfalls passieren? Und welche Folgen hat dies schlimmstenfalls für Kunden, Belegschaft, die Stellung des Wettbewerbers? Wenn auch unpopulär, so lohnt es sich doch, gemeinsam mit den Führungskräften Notfallpläne, Krisenpläne und Backups zu entwickeln, um fokus­siert die Zielerreichung anzustreben, Einwände von Kunden und Investoren auszuhebeln und sich vor Augen zu führen, dass Nicht-Handeln keine Option ist.


3. Recherche- und Entscheidungszeit verkürzen
Ein ambitioniertes Timing, maximal 30-40% der üblichen Recherche und Entscheidungsfindung soll­te vorgegeben sein, das vereinfacht den Entscheidungsprozess und er­laubt im Anschluss mehr Zeit für die Umsetzung. Verkürzte Meetings, Ausschlussverfahren und Thinktanks sowie das Vertrauen auf „gut ist gut genug“ unterstützen Entscheidungsprozesse. Ein Tipp: Meetings im Stehen abhalten und auch Remote die Rollen für Moderation, Protokolle etc. rotieren.


4. Nur tatsächliche Handlungsoptionen berücksichtigen
Entscheidungen können beschleunigt werden, in­dem allzu ähnliche Optionen aussortiert und nur klare Zuordnungen wie „gut/schlecht“ bzw. „ja/nein“ zugelassen werden. Einmal aussortierte Alternativen werden auch im Nachgang nicht mehr zugelassen. Hier hilft die Einführung und Wahrung strikter Spielregeln. Führungskräfte können Vor-Entscheidungen sehr gut delegieren und auch in Meetings ihre Teams die besten Optionen präsentieren lassen. Im Nachgang wird dann nur noch abgestimmt.


5. Intuition ist (nur) eine Stimme
Bauchgefühl kann richtig sein, muss aber nicht. Wenn die Fakten mit der Intuition übereinstim­men, stehen die Chancen für die Umsetzung ei­ner Entscheidung am besten. Optimal ist es, auch den inneren Kompass zu hinterfragen, da dadurch frühere Ereignisse und subjektives Empfinden ebenso wie negative Erfahrungen in bestimmten Situationen fehlgeleitet werden können. Gerade in Team-Entscheidungen sollten „innere“ Stimmen ruhig kommuniziert, aber nicht für allzu bare Münze genommen werden, da sie ursächlich meist eine private Historie haben.


6. Entscheidungsfindung gezielt trainieren
Entscheidungskompetenz kann zum festen Be­standteil der Personalentwicklung gehören: Ob in Development-­Centern, in der Nachwuchs­-Entwicklung oder zuvorderst im Leadership­Training: Entscheiden kann man lernen, spielerisch mit fikti­ven Szenarien oder auch echten Projekten. Es empfiehlt sich, das Thema in bestehende Programme zu integrieren, um auf allen Ebenen dynamische Fortschritte zu erzielen und diese im Vergütungs­system auch zu honorieren.

Klare interne Kommunikation als Startschuss

Wie in allen Veränderungen ist es ratsam, beim Change den Fokus auf Umsetzung zu legen – getreu dem Motto „Sage, was du machst, mache, was du sagst“. Denn Entschlusskraft bringt dann Dynamik und Freude, wenn man erst einmal die Angst vor Risiken wie etwa Fehlentscheidungen überwunden und dafür die positiven Seiten an Ver­antwortung schätzen gelernt hat.


Eine klare interne Kommunikation wirkt wie ein Startschuss, ein Zurückrudern fällt dann deut­lich schwerer. Entscheidungsfreudige Unternehmen haben gute Chancen, besonders qualifizierte Mitarbeitende anzuziehen und sie langfristig ans Unter­nehmen zu binden. Agilität, Dynamik und Innovati­onsgeist können sich erst dann angstfrei entfalten, wenn Fehler als wertvolle Learnings, als Experi­mente auf dem Weg zum Erfolg gewertet werden.


„Eine klare interne Kommunikation wirkt wie ein Startschuss, ein Zurückrudern fällt dann deutlich schwerer."

In einer PwC­Studie von 2016 hatten CEOs weltweit bekräftigt, dass sich Delegation von Verantwortung insbesondere bei kom­plexen Entscheidungssituationen positiv auf das Organisationsklima und die Betriebsergebnisse auswirkt. Insbesondere aufgrund einer gestiegenen Leistungsbereitschaft und Effizienz, der Bereit­schaft zu Optimierung und Veränderung sowie den Erfolgen im Recruiting und der Reduzierung der Fluktuation leiteten die Führungskräfte dies ab.


Aktuelle Studien zeigen den Vorsprung, den internationale Entscheiderinnen und Entscheider gegenüber denen in deutschen Unternehmen haben: Deutlich geringer ausgeprägt ist die Tendenz über­mäßigen Recherchierens, Aufschiebens und Aussit­zens von Entscheidungen zugunsten intuitiver und schneller Entscheidungen. Wahrscheinlich fehlt hierzulande noch das Bewusstsein, dass Zeit Geld und gleichzeitig eine Währung ist, mit der wir nicht (mehr) alles kaufen können.


 


Johanna Dahn
Dr. Johanna Dahm

ist Beraterin, Referentin und Keynote-Speakerin zum Thema Entscheidung. Seit 1999 begleitet sie internationale Unternehmen, Personalverantwortliche und auch Behörden in Fragen von Führung, Entwicklung und Veränderung. Sie ist außerdem Buchautorin. Im März erschien von ihr im Verlag Springer „Die Entscheidungs-Matrix: Besser fühlen – klar denken – erfolgreich entscheiden“. www.drjohannadahm.com