Risikokompetenz agil - oder: Gebt uns das Risiko zurück!

Risikokompetenz ist die Fähigkeit, auch in Situationen, in denen nicht alle Risiken bekannt sind und berechnet werden können, urteilsfähig zu sein. Organisationen haben für den bewussten Umgang mit Risiko bewährte Strukturen geschaffen. Wie ist das in Ihrer Organisation geregelt? Sind dort auch Business Development, der Vertrieb, das Marketing für das Erkennen und Gestalten der Chancen und Gelegenheiten am Markt zuständig? Und im Gegenzug das Controlling, das Risk Management für das Berechnen und Beherrschen der Gefahren? Geht Ihre Organisation sogar noch weiter und gründet für die „Innovationen“ ein eigenständiges Start-up? Während das Brot- und Buttergeschäft im tradierten Unternehmen verbleibt?


Die strukturelle Trennung von Chancen und Gefahren in Organisationen hat gute Gründe.


Jedes Versicherungsunternehmen, jedes Unternehmen für Kraftwerksbau weiß genau, warum es die beiden Seiten von Risiko – Chancen und Gefahren – trennt. Es nutzt die Methoden und entwickelt Programme, um so gut wie möglich die Gefahren zu berechnen bzw. auf Basis dieser Berechnungen dann die Entscheidungen für den Bau eines Kraftwerks, für das Ausgestalten von Versicherungsleistungen etc. zu treffen. Die „Gefahrenabteilungen“ liefern wertvollen Input, um möglichst weit in die Zukunft schauen zu können. Materialkennzahlen, demographische Einflüsse usw. zu bewerten, um daraus Eintrittswahrscheinlichkeiten auf neue Produkte abschätzen zu können, sind sehr sinnvolle Vorgehensweisen der jeweiligen Organisationen. Auch in eher klassischen Unternehmen, die den Fokus auf Produkt- und Prozessverbesserungen oder auch Kundenzufriedenheit legen, ist es durchaus zweckmäßig, die einen die Verbesserungen machen zu lassen und die anderen die daraus resultierenden Ergebnisverbesserungen, Einsparpotenziale bzw. Kundenbindung messen zu lassen. Über diese vergleichbaren Kennzahlen kann das Management das Unternehmen besser steuern und strategische Zielsetzungen ableiten – eben im klassischen hierarchischen Sinne.


Wann stößt diese Trennung an ihre Grenzen?


Die Frage können Sie sich jetzt wahrscheinlich selbst schon beantworten: Immer dann, wenn das Gespenst der „Agilität“ in den Raum kommt. Plötzlich soll alles viel schneller gehen, soll die Volatilität von Märkten, gesetzlichen und politischen Anforderungen direkt in den dafür zuständigen Teams verarbeitet werden. Entscheidungs- und Verantwortungskompetenz soll dort angesiedelt werden, wo sie gebraucht wird, also direkt in den Teams und nicht in der Hierarchie, und schon gar nicht getrennt in den eigentlich dafür zuständigen Bereichen. Sie können sich sicherlich lebhaft vorstellen, was diese Trennung bedeutet! Sie lähmt und führt zu Silodenken und Siloverhalten. Agilität kann nicht stattfinden. Organisationen reagieren darauf. Sie beginnen, agile Teamstrukturen zu bauen und diesen die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Damit wird das partizipative, eigenverantwortliche Agieren innerhalb der Teams zur Schlüsselkompetenz.


In den agilen Strukturen sollen plötzlich das Bewerten von Risiken – also das Abwägen von Chancen und Gefahren und der dynamische Umgang mit diesen Einschätzungen – zum täglichen Geschäft werden. Die jahrelange organisatorische Trennung wird aufgehoben. Plötzlich sollen Teams und deren Mitglieder etwas anwenden, was in ihrer Organisation bewusst verlernt worden ist. Denn um Produkte, Prozesse, Services etc. gut zu optimieren, ist die arbeitsteilige Trennung von „Chancen- und Gefahren-Arbeit“ eine extrem erfolgreiche Strategie und wird nach wie vor gebraucht. Agile Strukturen brauchen jedoch das Gesamtbild des Risikos zurück und die Teammitglieder brauchen eine neue Kompetenz – nämlich die Kompetenz, Risiken als janusköpfig zu sehen und diese auch so behandeln zu können. Das bedeutet, sich eben weniger auf Regeln und Abläufe zu berufen bzw. zu verlassen, sondern vielmehr das partizipative Entscheiden und Verantworten zu stärken. Oder anders formuliert: das Risiko dorthin zurückzugeben, wo es für agiles Arbeiten notwendig ist – nämlich in die Teams, Projekte oder Netzwerke.


Das ist kein Hexenwerk!


Es kann mit entsprechenden Werkzeugen gelernt und in der Organisation verankert werden. Sei es, in den morgendlichen Standups der agilen Teams den Blick auf die unterschiedliche Risikoeinschätzung der Teilnehmer zu lenken. In funktionalen Teams die explizite Erlaubnis zu geben, die jeweils andere Perspektive (Chance/Gefahr) zu integrieren. Neben dem hierarchischen Führen und dem Führen in agilen Einheiten das befähigende, also zwischen den beiden Arbeitsweisen vermittelnde Führen als Aufgabe zu verankern. Sei es, eine gemeinsame Sprache für partizipatives Entscheiden und Verantworten zu etablieren usw. Optionen für diesen Kompetenzaufbau für die gesamte Organisation gibt es genügend. Damit beide Seiten voneinander profitieren können – zum Wohle aller.