Von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen individuellen und organisationalen Entscheidungsstrategien.

Wie Menschen entscheiden, welche individuellen Strategien zu guten Entscheidungen führen, diese Frage beschäftigt die psychologische Forschung seit geraumer Zeit. Das Fazit ist unbestritten: Reine Logik, komplexe mathematische Verfahren haben mit der Psychologik des Entscheidens wenig zu tun. Intuition, Bauchgefühl und individuelle Faustregeln sind maßgeblich für schnelle Entschlüsse und eine nachhaltige Umsetzung. Die Hirnforschung bestätigt dies: Entscheiden beginnt in den emotionalen Hirnregionen. Die rationalen Hirnregionen dienen meistens nur als Ergänzung, das gefühlte „Mag ich“ bzw. „Mag ich nicht“ zu bestätigen. Danach folgt die Handlung. Das erklärt auch, warum unsere guten, vernünftigen Vorsätze in der Umsetzung oft scheitern: Was haben Sie sich letztes Jahr an Sylvester vorgenommen? Mehr Sport, weniger Süßigkeiten … Und haben Sie Ihre Ziele umgesetzt? Nein? Dann sind Sie in bester Gesellschaft. Eine rationale Absichtserklärung ist eben keine emotional getragene Entscheidung. Und das braucht es mindestens, damit Entscheidungen verantwortet und umgesetzt werden.


Was heißt das? Können wir uns jetzt getrost vom Verstand verabschieden und uns auf unsere Intuition verlassen?


Ein klares Nein. Wie so oft kommt es auf die Situation an. Wie so oft ist die Mischung entscheidend. Individuelle Faustregeln, unser im Unbewussten abgelegtes Erfahrungswissen führt im Alltag meistens zu guten Entscheidungen. Unser limbisches System ist unschlagbar schnell und absolut energiesparend. Aber Vorsicht: nicht unfehlbar und auch nicht immer dienlich. Die Risikobilanzierung bei wenig bedeutsamen Alltagsentscheidungen ist dabei eindeutig: Hier kann nichts Schlimmes passieren. Welches Müsli oder welchen Joghurt ich kaufe, ist selten lebenskritisch. Die Strategie, das Unbewusste walten zu lassen, ist also sehr klug und die einzige Möglichkeit, mit der Vielfalt unserer kleinen Alltagsentscheidungen umzugehen. Selbst, wenn uns dabei mehrere Wahrnehmungs- und Denkfehler unterlaufen.


Anders sieht das bei Entscheidungen aus, von denen viel abhängt, das persönlich eingeschätzte Risiko hoch ist: „Gehe ich für eine längere Zeit ins Ausland? Nehme ich den neuen Job an, obwohl ich eigentlich ganz zufrieden im jetzigen bin? Welchen Ausbildungsweg wähle ich? Ist es Zeit, dass ich meinen Partner verlasse?“ Allesamt Entscheidungen, die das Leben massiv verändern. Ein vernünftiges Abwägen von Pro- und Contra-Argumenten ist hier selbstverständlich, führt aber oft nicht weiter.


Wesentlich für eine tragfähige Entscheidung sind die inneren Bedürfnisse und Motive.


Diese gilt es zunächst einmal ans Licht zu holen und zu verstehen, was und wieviel diese bedeuten. Die Auseinandersetzung damit – ob alleine oder mit Unterstützung – lohnt sich auf alle Fälle: Denn nur die Integration aus Ratio und Bauch führt zu guten, nachhaltig getragenen und umgesetzten Entscheidungen. Und sich selbst zu verstehen ist eben nicht immer selbstverständlich. Wie sehr die Wahl zur Qual wird, hängt zum einen mit dem Ausmaß der Ungewissheit zusammen, die die Entscheidung mit sich bringt. Je unbekannter das Terrain, je unbekannter die neue Zukunft, umso weniger weiß ich, wie sich die Entscheidung auswirkt. Das Bedürfnis nach Maximierung, der Wunsch, die „beste“ aller Entscheidungen zu treffen, lässt viele von uns in solchen Entscheidungssituationen in der Ambivalenz verharren. Da es die „beste Entscheidung“ selbst nach rationalen Kriterien selten gibt, ist es sinnvoller, diese gar nicht anzustreben. Und damit auch mehr Mut zu haben, Neues zu wagen, ohne die Gewissheit zu haben, das Beste zu tun. Psychologen bezeichnen diese Eigenschaft als „Satisficer“ und raten dazu, mit 80%-Lösungen zufrieden zu sein.


Was heißt das jetzt für die Entscheidungsprozesse in Organisationen? Gibt es hier Übertragungsmöglichkeiten?


Organisationen haben kein Gehirn, kein limbisches System und kein Unbewusstes. Effizienz, Schnelligkeit und energiesparende Routinen sind aber sehr wohl notwendige wirtschaftliche Erfolgsparameter. Damit das operative Geschäft reibungslos und energiesparend funktioniert, werden Regeln und Standards aufgestellt, die für Schnelligkeit, Effizienz und Einheitlichkeit im täglichen Entscheiden von Teams, Netzwerken und Personen sorgen. Hohe Fach- und Erfahrungskompetenzen werden aufgebaut, auf die sich die Organisation im operativen Geschäft mehr oder weniger „blind“ verlassen kann. Entscheidungsprämissen sind in Strukturen, Strategien, Verfahren und kodifizierten Abläufen niedergelegt: Geschäftsprozesse, Mitgliedschaftsregeln, Stellenbeschreibungen, Mitarbeitergesprächsleitfäden, Führungsleitlinien etc. – sie alle beschreiben, wie in der Organisation miteinander entschieden und zusammengearbeitet wird. Wir nennen das den Autopiloten des Entscheidens in Organisationen.


Inwieweit sich die Menschen in der Organisation an die Ablaufregeln halten, ist eine zweite Frage. Hier wird meistens nach der Faustregel agiert: Was Sinn macht und nützlich ist, wird befolgt. Mit dem „unsinnigen“ Rest kann unterschiedlich umgegangen werden. Oft werden „blöde“ Regeln klammheimlich geschickt umgangen, es wird pragmatisch einfach entschieden. Oder Mitarbeiter fügen sich den Abläufen und ärgern sich immer wieder über „diese bürokratischen, nichtsnutzigen Vorschriften“. Oder aber Mitarbeiter lernen sich anzupassen und verlernen (weil sie eh nicht gehört werden), Sinn und Unsinn von Vorgaben zu hinterfragen. Alle geschilderten Verhaltensweisen mögen individuell dienlich sein, bringen aber die Organisation selten weiter.


Spätestens wenn die operativen Routinen nicht mehr funktionieren, ist eine Weiterentwicklung des organisationalen Autopiloten gefragt.


Dazu braucht es ein kritisches Hinterfragen, eine sensible Wahrnehmung von Störungen bzw. Verbesserungspotenzialen. Aufmerksame Mitarbeiter und Teams, die erkennen, wenn Änderungen notwendig werden, und die sich trauen, Missstände anzusprechen und Neues vorzuschlagen. Die Chance der Organisation für innovative, zukunftssichernde Entscheidungen liegt in diesen Irritationen durch ihre Mitglieder. Inwieweit die Organisation diese Chance nutzt, hängt maßgeblich davon ab, inwieweit sie den mutigen Störern und Querdenkern Raum zur Entfaltung gibt und ihnen Gehör schenkt. Der Blick von außen ist oft notwendig, um Verbesserungspotenziale in Struktur und Prozess aufzudecken und Maßnahmen zur Effizienzsteigerung zu entwickeln. Je eingespielter die Routinen, umso schwieriger wird es für das System selbst, aus diesen auszubrechen und neue Möglichkeiten zu erkennen. Hier lässt sich durchaus eine Parallele zum individuellen Entscheiden zeichnen: Auch das limbische System mit seinen individuellen Faustregeln und Überzeugungen ist sehr änderungsresistent und bedarf zur Weiterentwicklung meistens Unterstützung durch professionelle Berater, Coachs und Therapeuten.


Strategische Weiterentwicklung in der Organisation muss in einem anderen Modus stattfinden.


Wir nennen diesen Modus den Piloten. Hier geht es darum, neue Strategien zu erarbeiten, Innovationen zu entwickeln, alte Routinen durch neue, besser funktionierende zu ersetzen, neue Möglichkeiten zu explorieren und deren Risiken zu erforschen. Alle Entscheidungen, die in Verbindung mit Veränderungsprozessen, Change, getroffen werden, gehören hier dazu.


Im Piloten ist es wichtig, Zeit und Raum losgelöst vom operativen Geschäft zu haben, um neue Möglichkeiten zu explorieren. Risikoeinschätzungen werden besonnen und perspektivenreich vorgenommen. Chancen und Gefahren der verschiedenen Optionen werden bewusst analysiert und bilanziert, um sich dann für die „beste“ Alternative zu entscheiden. Die Umsetzung des Neuen in der Organisation muss aufmerksam geplant und gesteuert werden. Regelmäßige Lern- und Übungsschleifen müssen eingebaut werden, um eine Verankerung sicherzustellen. Der Energie- und Zeitaufwand ist entsprechend hoch. Aber er lohnt sich zugunsten einer nachhaltigen Umsetzung des Neuen.