6 Unterscheidungen machen den Unterschied beim Entscheiden in Organisationen

1. „Wird gut entschieden, dann ist wenig sonst wichtig, wird nicht gut entschieden, ist alles andere unwichtig.“


Ich nehme dieses Zitat von Tichy und Bennis zum Anlass, auf den ersten relevanten Unterschied aufmerksam zu machen. Vieles ist wichtig im Leben von Menschen. Liebe ist wichtig, Arbeit und Erholung, Familie, Konsum u.v.m. In Organisationen jedoch geht es ums Entscheiden. Alles, was in Organisationen geschieht, beruht auf Entscheidungen der Organisation. Was die Organisation selbst sein will, jeder Mitarbeiter der dort arbeitet, jedes Produkt oder Dienstleistung die hergestellt wird, was als Markt und Konkurrenz betrachtet wird, alles sind Entscheidungen der Organisation. Und weil es Organisationen sind, die etwas unternehmen, sind all ihre Entscheidungen riskant. Riskant in einem doppelten Wortsinn: Sie bergen Chancen und Gefahren in sich. Organisationen sind in diesem Sinne Entscheidungssysteme rund ums Risiko.


2. Auf die Entscheider kommt es an vs. vernetztes Entscheiden im System


Viele Ratgeber, Bücher, Presseartikel, Lobeshymnen, aber auch Verrisse stellen „den Entscheider“ in den Mittelpunkt. Die Verlockungen sind vielfältig und groß, den oder die Entscheider in den Blick zu nehmen. Erstens verdienen die Entscheiderheroen vermeintlich exorbitant viel Geld (und wer will sich nicht auf ihre Spur setzen?), und zweitens dienen sie so herrlich als Sündenböcke, wenn es schiefläuft, und für Heldengeschichten, wenn es erfolgreich ist.


Diese Sichtweise geht erheblich an der Wirklichkeit vorbei. Nicht nur die „Entscheider“ entscheiden, sondern auch die Experten in der IT, der Produktion und im Verkauf. Die vielen Arbeiter und „kleinen“ Angestellten entscheiden. Und sie treffen oftmals nicht die unwichtigsten Entscheidungen. Und Teams und Gremien treffen Entscheidungen (an denen „der Entscheider“ nicht vorbeikommt). Und alle treffen Entscheidungen, weil bereits andere Entscheidungen getroffen wurden. Was zutrifft, ist, dass die Vielen weniger verdienen als die Entscheiderheroen. Das ist es dann schon. Zu Sündenböcken können auch die Vielen werden.


Nochmals siehe These 1: Organisationen sind Entscheidungssysteme rund ums Risiko.


3. Entscheidungen treffen ist die Würze vs. den Prozess optimieren


Nur folgerichtig ist, dass nicht nur die Entscheider im Mittelpunkt stehen, sondern die Entscheidungen, die getroffen werden. Die Hammerfallsekunde der Entscheidung wird als richtig oder falsch bewertet, als erfolgreich oder misslungen. Die Hammerfallsekunden sind die Würze unternehmerischen Handelns.


Da verbergen sich zwei große Missverständnisse: Es gibt keine Entscheidung der Organisation, die nicht „irgendwie“ als Entscheidungsbedarf definiert, die nicht „irgendwie“ vorbereitet, abgewogen, verworfen und vielleicht wiederbelebt wurde. Und es gibt keine Entscheidungen, die nicht „irgendwie“ umgesetzt werden. Nicht umgesetzte Entscheidungen sind keine. Sie verkümmern zu Absichten oder frommen Wünschen. Das „Irgendwie“ ist der Prozess des Entscheidens. Nur die Optimierung des „Irgendwie“ kann das Entscheiden in Unternehmen verbessern. Getreu der physikalischen Grundregel, dass es keinen Output ohne Input und Prozess, die IPO-Regel, gibt, bestimmen die bereits getroffenen Entscheidungen der Organisation (z.B. die strategischen und strukturellen Entscheidungen) als Input und der jeweilige Entscheidungsprozess die Qualität der Entscheidung. Wer also den Output verbessern will – Output gemessen auch in Umsätzen, Erträgen oder Kosten – muss die Entscheidungsprozesse verbessern. Und auch das sind riskante Entscheidungen. Das ist die einzige Option, die Sinn macht. Haben Sie in Ihrem Unternehmen schon einen Entscheidungsprozessmanager, der sich darum kümmert?


Das zweite Missverständnis: Es gibt keine richtigen oder falschen Entscheidungen, sondern nur getroffene oder nicht getroffene. Ob sich eine Entscheidung zum Zeitpunkt der Hammerfallsekunde als richtig oder falsch herausstellen wird, kann erst die Zukunft zeigen, und zwar nur dadurch, dass diese Entscheidung getroffen oder nicht getroffen und umgesetzt wurde. Es sei denn, man rechnet die „ausrechenbaren“ Kalküle den Entscheidungen zu. Rechnen kann man durchaus richtig oder falsch. Aber Entscheiden fängt dort an, wo das Rechnen aufhört.


4. Driften und bewusst Entscheiden


In der Organisation wird entschieden – Punkt.


Das ist eine Vereinfachung mit Folgen. Ganz viele Entscheidungen werden als logische und zweckmäßige Folge von Entscheidungen und als „Business as usual“ getroffen, aus Gewohnheit, ohne langes Überlegen. Sie verdienen im Grunde genommen nicht, Entscheidungen genannt zu werden. Der Begriff „Driften“ trifft dieses gewohnte, routinierte Entscheiden besser. Solche „Entscheidungen“ sind in Unternehmen mit wenig Energieaufwand und Ressourceneinsatz möglich und dadurch sehr ökonomisch. Tausende Alltagssituationen sind mit Driften effizient zu bewältigen. Diese Routinen sind meist gut in Vorschriften geregelt.


Dem stehen die Entscheidungen gegenüber, durch die das Neue in die Welt kommt, die Entscheidungen, die mit erheblichen Chancen und/oder Gefahren verbunden sind. Für sie gibt es keine oder nur geringe Erfahrungen und Blaupausen. Sie verdienen alle Aufmerksamkeit und den ganzen Ressourceneinsatz der Organisation.


Die größte Gefahr liegt nun darin, die eine Art des Entscheidens mit der anderen zu verwechseln. Wehe dem Unternehmen, das Routineentscheidungen mit dem Aufwand der substanziellen betreibt, und wehe dem, das substanzielle als Routine behandelt. Diese Unterscheidung zu treffen, scheint mit die wichtigste Aufgabe eines Entscheidungsprozessmanagers zu sein.


5. Entweder-oder vs. Sowohl-als-auch


Entscheidungen bergen die Suggestion in sich, zwischen mindestens zwei Alternativen – einem „Entweder-oder“ – zu wählen. Entweder ich fahre im Urlaub ans Meer oder ins Gebirge. Entweder wähle ich Aktien oder Rentenpapiere für meine kleine Anlage. Das Entweder-oder stimmt für viele persönliche Entscheidungen.


Ganz anders verhält es sich in Organisationen. Sie sind ein eminent lebendiger Raum für ein Sowohl-als-auch. Sowohl die Interessen der Shareholder als auch die der Mitarbeitenden sind zu befriedigen, sowohl die Entscheidungen der Entwicklung als auch die des Vertriebes sind in sich sinnvoll und für die ganze Organisation relevant. Sowohl das operative Geschäft als auch die Strategien für die Zukunftssicherung sind von Bedeutung. Jedes Entweder-oder beim Entscheiden grenzt einen Teil der unternehmerischen Realität aus, tut so, als gäbe es sie nicht. Sie wird sich bitter rächen! Besonders natürlich bei den substanziellen Entscheidungen. Die sogenannten Widerständler bei Veränderungsprozessen (die in Wirklichkeit die substanziellen Entscheidungsprozesse sind) sind meist nichts anderes als die Opfer des Entweder-oder. Und darüber hinaus: Nicht umgesetzte Beschlüsse der Hierarchie sind es oftmals auch, Opfer eines Entweder-oder. Provokant könnte man fast zur Überzeugung kommen, dass die gesamte Organisation klüger ist als einzelne Entscheider.


6. Entscheiden kann man oder nicht vs. Entscheiden ist ein Lernprozess der ganzen Organisation


Das ist so eine Sache mit dem Entscheidungslernen. Studierende und junge Führungskräfte in Unternehmen lernen oftmals im Schweiße ihres Angesichts die vielen Entscheidungstechniken. Angefangen bei Pro- und Contralisten bis hin zu mathematischen Entscheidungsmodellen. Andere meinen, man könne von seiner Veranlagung (oder Erfahrung) her entscheiden oder halt nicht und werde es dann auch nicht mehr lernen.


So hilfreich die diversen Entscheidungstechniken auch sein mögen, so sehr Erfahrungen und individuelle Veranlagungen auch eine Rolle spielen – das alles geht am eigentlichen Thema zweifach vorbei.


Zum einen suggeriert das Erlernen von Entscheidungstechniken, man könne am Ende Entscheidungen dann doch ausrechnen und der Gefahr der „Fehlentscheidung“ und des Scheiterns entgehen. Gut so! Lassen Sie uns alles ausrechnen, was auszurechnen ist und dann folgerichtig handeln. Aber lassen Sie uns das nicht entscheiden nennen. Das Erlernen von Entscheidungstechniken geht auch deshalb am Thema vorbei, weil sich die Entscheidungstechniken nicht um das „Entscheidungssystem rund ums Risiko“ kümmern.


Ein Entscheidungslernen in Organisationen ist demgegenüber ein zutiefst sozialer Prozess aller Stakeholder, der Teams und Netzwerke, denen sie angehören und der ganzen Organisation. Es ist ein Lernen, in dessen Mittelpunkt die Risikokompetenz der 3 sozialen Ebenen steht. Wie setzen sich einzelne Personen, wie die Teams und Netzwerke und wie das Unternehmen mit der zunehmenden Volatilität und Unsicherheit auseinander, wie mit den Chancen und Gefahren, die sich aus der Komplexität und Ambiguität der Umwelt ergeben? Das ist die stetige und gemeinsame Lernaufgabe. Nichts mehr und nichts weniger.


 

 




Bernd Opp


• Diplom-Soziologe und Lehrsupervisor (DGSv)
• Langjähriger Prozessberater und Beratungslehrer
• Co-Entwickler der Decisio®Map
• Schwerpunkte: Organisationsberatung zum Thema Entscheiden, Supervision und Coaching von Beratern und deren Projekten.