Die grosse Auflösung

„In der Tiefe wohnt die Gewissheit, dass Kooperation und Verbundenheit lebendige Grundprinzipien sind. Tief verankert im Wesen von Natur oder dem, was wir Leben nennen.“ 1


Es gibt da ein Thema, einen Abschnitt des Lebensprozesses, der mir in den letzten zwei Monaten in verschiedensten Mäntelchen immer wieder begegnet ist. Es ist diese allerletzte Metamorphose des Lebendigen. Also das nach dem Tod und das, womit man sich am allerwenigsten beschäftigen möchte, das Verfaulen, Verwesen, Zersetzen, Zerfallen. Es ist diese Phase, wo das tote Gewebe sämtliche Verbindungen zu harten, knochigen oder grobfasrigen Strukturen löst. Vielleicht übersieht man das, weil das immer im Verborgenen gehalten wird, überriechen wird man es kaum. Es stinkt gewaltig!


Das man diese Tatsache auch gut nutzen kann, darüber bin ich gelegentlich sehr froh. Meine Sonnenblumenfelder rahme ich gerne in einem Sprühnebel aus ranzig-halbverwestem Schaffett ein. Jedes Reh und jeder Hase wird diese Gestankmauer tunlichst meiden und somit bleiben auch die kleinen, jungen und zartsaftigen Sonnenblümchen, die sonst auf ihrer Lieblingsspeisenhitliste ganz, ganz oben stehen, vor Verbiss absolut verschont. Eine geniale Lösung, die es auch zu kaufen gibt. Schon komisch auch, dass man für erbärmlichsten Verwesungsgestank sogar Geld ausgibt.


Ich frage mich gerne, wie man auf solche Lösungen kommen kann. Weil man die Personen, die solche Lösungen erfunden haben, meist nicht kennt, kramt man dann eben in der eigenen Erfahrungsschatzkiste. Episoden mit frühmorgendlichen, großstädtischen U-Bahnen kommen mir da in den Sinn, die völlig überfüllt sind und man plötzlich und freudig überrascht erkennt, doch vor einem völlig leeren Wagonabschnitt zu stehen. Wenn die Türen dann aufspringen und einladen einzutreten, kann man sich beim Hineinhüpfen an dieser unsichtbaren, dicken Wand aus Verwesungsgeruch doch mitunter ordentlich die Nase anrennen. Meist steht da ein einzelnes, erbärmliches, menschliches Wesen drinnen. Es kann durchaus sein, dass man andere Menschen nicht so mag und sich vom Leib halten möchte. Abstandsregeln würden da ausnahmslos eingehalten werden. Oder wird da so viel längst Vergangenes festgehalten, dass es schon Verwesung ist? Selbstverständlich ist es vor allem eine logische Konsequenz von Obdachlosigkeit.


Zum Thema Festhalten erhielt ich kürzlich ein Bild von einem Strand in Menorca.



Freilich möchte man da in edler Absicht die bewachsenen Dünenabschnitte an den Stränden vor übermäßiger Verschmutzung sauber halten. Es hat Sinn, wenn man ein Übermaß an Verwesung, samt seiner Begleiter, nicht mit dem Lebenden mischt. Jedoch existiert auch kein Klo an diesem Strand. Dieses bemerkenswerte Verbot kommt schon wieder in so eigenartigen Schuhen daher, wie es mir in letzter Zeit gehäuft auffällt. Irgendwer vergisst da schon wieder auf allzu irdische, menschliche Bedürfnisse, auf den Wert natürlicher, stofflicher Lebenskreisläufe, der nicht mit allem Gold der Welt aufzuwiegen ist, und unserer eigenen stofflichen Verbundenheit mit dieser, unserer Erde.


Dabei schenkt gerade der Akt verdaulicher Verwesung und Auflösung uns unser Leben. Man kann diese Vorgänge sicher erklären und beschreiben, vorne sicher genüsslicher als hinten, doch bleibt es am Ende ein Wunder - das Wunder Leben. Selbst unsere körperlichen Überreste werden sich einst wieder ans Leben verschenken und vielerlei neue Formen annehmen. Dieses Mitschwingen mit den Rhythmen des Lebens ist eine Gewissheit, die mich unendlich beruhigt.


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1) Kreszmeier, Astrid Habiba (2021): Natur-Dialoge: Der sympoietische Ansatz in Therapie, Beratung und Pädagogik. Carl-Auer Verlag. (S. 247).


Franz Schweinberger
Franz Schweinberger

Bio-Landwirt. Er schreibt im Natur-Dialog Magazin, pflegt die Kunst des Getreidebaus, Kartoffelbaus, Leguminosenanbaus, Weinbaus und Waldgärtenbaus und zerbricht sich gerne den Kopf über naturkonforme Ökosysteme, Humus, Agrarökologie, Natur-Dialogisches, dem was gerade ist und allem Menschlichen und Mehr-als-menschlichen dazwischen.




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.