Green Corn Dance

Green Corn Dance - "Schmäh"Reflexionen


„Unsere urgeschichtlichen Vorfahren haben jenen guten Boden des Wohlseins, jenen heilen, nährenden Raum eines freudvollen Miteinanders über Generationen und Generationen weitergegeben. Diese Möglichkeit ist in unserem genetischen Erbe, in unserem mimetischen Körperbewusstsein, in unserem mythologisch-narrativen Gedächtnis eingeschrieben. Das ist ein großer Schatz, der uns mit Freude, Zuversicht, Vertrauen und Umsicht ausstattet.
Auch wenn dieses archaische Archiv unter den wenig harmonischen Ereignissen und Dynamiken der letzten Jahrtausende verschüttet scheint, nahezu vergessen, unvorstellbar oder auch naiv, illusorisch und utopisch anmutend, so ist es dennoch da, zwischen uns. Es flüstert uns auf unterschiedlichen Kanälen zu: Wir Menschen sind liebevolle, freundliche, vergnügte Wesen und würden auch gerne wieder so leben.“
Kreszmeier, Astrid Habiba. Natur-Dialoge: Der sympoietische Ansatz in Therapie, Beratung und Pädagogik (Systemische Therapie) (German Edition) (S.95-96). Carl-Auer Verlag.


Momentan verbringe ich die meiste Zeit des kurzen Tages in den dunklen Katakomben meines Kartoffelkellers. Das Auslesen von beschädigten, faulig-stinkigen, löchrig gefressenen Kartoffeln (von meinen Freunden den Drahtwürmern  ) ist eben notwendig um diese Jahreszeit. Es beschäftigt meine Hände und lenkt auch gut ab von diesem aktuellen, ohrenbetäubenden COVID-Getöse mit ihren mehr und mehr verhärteten Meinungsfronten.


Eigenartigerweise erinnerte ich mich gerade heute an eine Begebenheit, die mir während einer Reise widerfuhr, genau um diese Jahreszeit, die mich damals weit über den Atlantik nach Florida führte. Ich glaube, es war das Jahr dieser fantastischen Piratengeschichte, wo das weltweite Finanz- und Bankensystem beinahe in den Sümpfen Floridas versunken wäre, die sie ironischerweise kurz vorher selbst trockengelegt hatten, nur um Häuser zu bauen, die in Wirklichkeit keiner braucht.
Jedenfalls fühlte ich mich damals sehr wohl, unter den sich wiegenden Palmen in Tampa Bay, feucht-schwüle Luft umschmeichelte meine Haut. An der Bar neben dem Pool versammelte sich, je weiter der Abend voranschritt, eine illustre Schar an sehr weltoffenen, toleranten, gebildeten Menschen der oberen Mittelschicht.
Ich wurde als Europäer sehr wohlwollend zu allerhand Gesprächen eingeladen. Der amerikanische Traum in all seinen Facetten, Errungenschaften, heldenhafte Geschichten, die „Glory & Grace“ dieses Landes waren die bestimmenden Themen. Das war mir für den Moment ganz recht, ich war ja deswegen auf Urlaub dort.
Dieses gemeinsame, angenehme Blabla wäre sicher noch eine ganze Weile so weitergegangen, wenn da nicht dieser junge Seminole an der Bar aufgetaucht wäre, dieser Schatten. Einzelne verstörte Blicke, man flüsterte mir zu: „… was macht der denn hier?… der soll doch zurück in sein Reservat!… das ist unverschämt!… du hast ja keine Ahnung, diese Menschen sind wie Tiere! …„


Ich wusste gar nicht wie mir geschah. Ich war entsetzt. Meine Güte, wir leben doch im 21. Jahrhundert! Doch für diesen Moment fühlte ich mich tatsächlich in ganz, ganz finstere Zeiten zurückversetzt, die ich auch nur rein geschichtlich betrachtet, ganz nebulös aus dem Schulunterricht kannte, und in diesem konkreten Augenblick ganz und gar nicht nachvollziehen konnte.
Aber eigentlich doch. Etwas arbeitete in mir. „Halt dich da jetzt raus, halt dich da jetzt raus, es geht dich nichts an, du bist dafür nicht zuständig, du kannst das ja gar nicht verstehen, da gibt es andere dafür, die müssen sich das selbst ausmachen“: sagte ich zu mir. Doch gelang es mir nicht. Enteignungs-, Gewalt-, Vertreibungsgeschichten, Grenzüberschreitungen und Wegsperrgeschichten. Nein, da geht bei mir der Deckel hoch!
Ich bezog klare Position, ich verteidigte die Seminolen und überhaupt alle. Bevor wir (der Seminole und vor allem ich) das vermeintliche Schlachtfeld verließen, rief ich diesem arroganten Haufen noch nach: „Ich bin auch indigen. Ich bin ein indigener Europäer! Ich kann ihn gut verstehen!“


Über diesen Satz wundere ich mich selbst noch heute. Der junge Seminole verabschiedete sich in aller seelenruhiger Gelassenheit und sagte nur zu mir: „Das sind dumme Leute.“ Ehrlich gesagt, in diesen Moment kam ich mir auch außerordentlich dumm vor. So dumm, dass es weh tat. 
Ja, das war auf diese Art und Weise selten passiert. Normalerweise lösen sich solche Situationen eher in „Schmäh“ auf, oder?
Ich musste sehr, sehr lange darüber nachdenken. Beim Kartoffel sortieren hat man auch reichlich Zeit dafür. Dann ist es mir gedämmert. Man kann mit niemanden „Schmäh führen“, der „Schmäh nicht versteht“, deshalb ist mir selbst von Anfang an der „Schmäh ausgegangen“. Ich ahnte wohl, dass die dieses überlebenswichtige Tool „Schmäh“ nicht kennen. Diesen kommunikativen, lustvollen Tanz aus Floskeln und Worten, bestehend aus empathisch-fröhlichen Boshaftigkeiten, bei dem man den Schleier, der die heikelsten Verletzlichkeiten, dunkelsten Abgründe, grauslichsten Hässlichkeiten, verborgensten Ängsten und tiefsten Wunden seines Gegenübers verdeckt, ganz kurz lüftet, um vorsichtig „Gu-guck!“ zu rufen.
Dabei hat es so etwas Reizvolles und Befreiendes in dieser Art „erkannt“ zu werden!


„Schmäh führen“ kann man echt nicht mit jeder/m, man muss sich ja selbst auch ein bisschen nackt zeigen, damit dieses zärtliche Spiel mit der inneren Büchse der Pandora gut funktioniert. Außerdem erfordert es eine gute Portion Frechheit und Mut, dennoch diesen hochgradig empathischen, verantwortungsvollen Tanzstil des Gegenübers.
Die Aufforderung zum Tanz erfolgt meist taktlos, indem man sein Gegenüber ganz kräftig auf die Füße steigt, verbal versteht sich. Wenn man sich noch nicht so gut kennt, dann lassen sich verletzliche Klischees aus unterster Schublade oder schon von Weitem erkennbare Verkörperungen wie z.B. rechthaberische Aufgeblasenheit bestens dafür verwenden. Das ist gewissermaßen der ultimative Test, ob „Schmäh führen“ möglich ist oder eben nicht und man sich besser schleunigst aus dem Staub machen sollte.
Natürlich kann man auch jemandem „am Schmäh halten“. Diese Art süßer Verführung, die das naive Gegenüber lange Zeit nicht erkennt und die Enttarnung dann meist weniger schmeichelhaft ausfällt, doch dessen Lerneffekt äußerst nachhaltig wirkt. Man kann aber vieles „mit Schmäh nehmen“.
„Schmäh“ hat immer etwas Ausgleichendes, etwas was allzu unverrückbare Härten des Lebens, Ungerechtigkeiten unüberbrückbarer Gegebenheiten, sogar den unvermeidlichen Tod, zumindest für einen kurzen Moment, weich und lieblich erscheinen lassen. Es ist nichts was irgendetwas verändern würde, vom „Schmäh allein“ kann man bekanntlich nicht leben, doch etliches erträglicher machen.
Diese Erinnerung an diese unverhältnismäßig ermutigende Gelassenheit des Seminolen von damals, bringt mich unweigerlich zu der Vermutung, dass die einen ganz guten „Schmäh“ haben müssen.


Heute Abend am Laptop, ließ ich meine Finger wie Katzenpfoten zwischen Tastatur und Maus herumhüpfen und streunte so ein wenig durch digitale Google-Welten, um einen Eindruck zu erhaschen, wie das ist und war mit den Indigenen, den schwarzen Sklaven, europäischen Einwanderern und Piraten, deren Geschichten und Verbrechen, Hoffnungen und Schuld, der Gewalt und den vielen, vielen Toten. 


Vielleicht wird der „Schmäh“ von den Seminolen (oder wie im Video in sehr ähnlicher Weise von den Cherokee) The Green Corn Ceremony - YouTube tatsächlich körperlich, und nicht verbal, getanzt. Ja, das wäre noch viel schöner. Ist man tatsächlich dumm, wenn man nicht tanzt? Man müsste da freilich selber mittanzen um das herauszufinden. Das geht bedauerlicherweise nur vor Ort. Irgendwann sicher, vorerst lieber „Schmäh tandeln“ (= Schmäh verkaufen wollen) und ein bisschen Seemannsgarn spinnen. Die besten Geschichten sind am Ende doch jene, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen.
Eigentlich wollte ich selbst ein ganz wunderbares Video zu diesem Beitrag drehen, aber Terry Giliam war leider schneller. Er hat uns schon 1983 in The Crimson Permanent Assurance (Monty Python’s) on Vimeo eine sehr schöne filmische Piratengeschichte beschert. Viel Vergnügen!


Ein Ahoi aus dem Kartoffelkeller!


PS: Zur Piraterischen Weiterbildung:


Goldenes Zeitalter (Piraterie) – Wikipedia;


Anne Bonny – Wikipedia


Republik der Piraten – Wikipedia


 


Franz Schweinberger
Franz Schweinberger

Bio-Landwirt. Er schreibt im Natur-Dialog Magazin, pflegt die Kunst des Getreidebaus, Kartoffelbaus, Leguminosenanbaus, Weinbaus und Waldgärtenbaus und zerbricht sich gerne den Kopf über naturkonforme Ökosysteme, Humus, Agrarökologie, Natur-Dialogisches, dem was gerade ist und allem Menschlichen und Mehr-als-menschlichen dazwischen.




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.