Eingefleischte Erfolgskonzepte

Kommunikative Heimeligkeit
In seinem unlängst erschienenen Weben-Beitrag schreibt Gerald Schmickl, dass man auch in der Stadt oft wie am Land lebt; man bewohnt einen bestimmten Stadtteil mit seinen vertrauten Ecken, den Geschäften, dem Stammcafé, in seiner «kommunikativen Heimeligkeit». Aus anthropologischer Sicht ist es nicht verwunderlich, dass wir letzlich Land und Stadt gleichermassen besiedeln. Über viele hunderttausend Jahre war das natürliche Habitat der Menschen jener topologische Raum, in dem ein Clan sein Zuhause hat. Das hat sich in unseren Genen festgelegt. Ja, es gibt sogar eine genaue Zahl dieser Gruppengrösse: sie entspricht unserer Veranlagung, eine bestimmte Anzahl Freunde zu haben. Diese Anzahl nennt sich »Dunbar-Zahl«. Darunter versteht man die theoretische »kognitive Grenze« der Anzahl an Menschen, mit denen eine Einzelperson soziale Beziehungen unterhalten kann. Sie liegt bei durchschnittlich 150. Das Forschungsteam rund um den britischen Psychologen Robin Dunbar hat im Auftrag der Royal Society herausgefunden, dass die Anzahl der möglichen stabilen affektiven Beziehungen unmittelbar mit der Gehirngröße zu tun hat. Bei den Schimpansen ist die Zahl sechzig.


Für die meisten Anthropologen und Anthropologinnen ist klar, dass die Vater-Mutter-Kind-Familie auf keinen Fall die ursprüngliche Sozialstruktur der Menschheit gewesen sein konnte, sondern dass diese in Clans von 100 bis 150 Personen lebten, die sich wiederum in kleinere Kollektive aufteilten, was für die Jagd dienlich war und ein gemeinsames Sitzen um ein Feuer erleichterte und den Gang aufs »Klo«, die Menstruationsgruppe sowie die Brautschauer sicherer machte. Diese frühen Gesellschaften waren nach heutigen Erkenntnissen egalitär: sie waren zwar matrilinear und matrifokal, aber nicht matriarchal. (Die beiden Autoren Carel von Scheik und Kai Michel schreiben darüber ausführlich in ihrem letzten Buch: «Die Wahrheit über Eva»)


Es wäre ein interessantes Experiment gewesen, während der Coronazeit nicht die einzelnen Staaten voneinander abzuriegeln (es waren ja ohnehin jeweils auf beiden Seiten gleichviele Viren), sondern in 150er-Einheiten von Communities die Sache unter sich regeln lassen. Ob das die effizientere Massnahme gewesen wäre, ist natürlich fraglich, aber sie wäre vermutlich angstfreier und weniger diktatorisch abgelaufen.


Covid 19 ist zwar noch nicht ausgestanden, und doch spreche ich manchmal von »der Coronazeit« als etwas Vergangenem. Es war nicht für alle nur eine schlechte Zeit. Viele Menschen wurden ruhiger und verbrachten mehr Zeit in der Natur. In meinen Communities wurde ein reges Sozialleben gepflegt, stets unter Einhaltung der (schweizerischen) Regel, dass nicht mehr als fünfzehn Personen zusammenkämen. Es war faszinierend zu erleben, dass sich immer eine Gruppe von zehn bis fünfzehn Menschen einfand, sowohl in den Seminaren als auch im privaten Kreis, sogar bei Ritualen; es regelte sich wie von selbst. Auch Schulklassen wurden vielerorts wieder auf eine Zahl unter fünfzehn heruntergebrochen, und die Fussballteams (je elf plus Schieds- und Linienrichter) spielten ohne Zuschauer.


Man fragt sich ja manchmal, warum Menschen so gerne Fussball schauen, bloss weil da ein Haufen Menschen einem Ball nachrennen. Aber es ist halt eben mehr – ein hochkomplexes Koordinationsgeschehen einer nicht hierarchisch gegliederten Gruppe, die sich einer fast ausschliesslichen mimetischen Kommunikationsform bedient. In unseren Fachkreisen würde man sagen; systemisch. Aber wie schon die Kammerzofe einer französischen Königin sagte, dass es nichts Neues gibt, sondern nur altes, das wiederentdeckt wurde, ist es auch mit dem Systemischen so: ein Fussballteam funktioniert deshalb so gut, und wir schauen deshalb so gerne zu, weil es sich um ein genetisch in uns angelegtes Kooperations-Verhalten ist. Es ist eine Tiefenerinnerung an das grosse Erfolgskonzept der Gattung Homo: Kooperation. Und diese Kooperation schliesst nicht nur das Sichtbare mit ein, sondern eben auch die Nicht-Sichtbaren Möglichkeiten. Das fühlt sich in uns immer wie ein Spiel an; auch dann, wenn wir nicht selbst an der Aktion beteiligt waren, sondern den Erzählungen zuhören, abends am Feuer, zwölf in der Runde.


Ganz nebenbei: Das vielleicht berühmteste Bild – mindestens bei uns im Westen – von einer Zwölfergruppe ist jenes vom Abendmahl Jesu. Sucht man nach Darstellungen des letzten Abendmahls, stösst man vor allem auf Bilder, auf denen die zwölf Apostel mit Jesus an einem Tisch zu sehen sind. Nun hatte man zu jenen Zeiten in diesen Regionen gewöhnlich keine Möbel in den Häusern, die Menschen sassen auf Decken. So können wir mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass, wenn dieses Abendmahl tatsächlich stattfand, es im Freien um ein Feuer geschah oder im Schatten eines Baumes. Wie auch immer.


Eine schöne Zeit mit Freund:innen mit oder ohne Ball wünscht
Cito Hufenus


 


Hans-Peter Hufenus
Hans-Peter Hufenus

Jahrgang 49, hat sich schon früh im Leben dafür entschieden, dem Ruf der Natur zu folgen und so wurde die Begleitung von Menschen – erst im erlebnispädagogischen Bereich, wo er zu den frühen Pionieren gehört, dann im Feld von Natur und Heilung – zu einer bis heute andauernden Lebensaufgabe. Als Senior Lecturer, Vortragender, Mentor und Lehrer wirkt er in Theorie- und Praxisbildung in natur-dialogischen Zugängen wie Systemischer Naturtherapie und Tiefenmythologie. Zusammen mit seiner Partnerin Astrid Habiba Kreszmeier wirkt er in „nature&healing“.




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.