Grossvater Apfelbaum


Der Apfelbaum und die Erdvergessenheit


Im letzten Herbst, beim Obstschnitt des einzigen Apfelbaumes im Garten, denke ich an meinen Vater und dessen Vater, meinen Großvater, der mir nie begegnet ist. Letzterer hatte ihn wohl vor gut sechs Jahrzehnten gesetzt. Beim Betreten des Grüns betreten mich Gestalten und Gerüche, Erinnerungen tauchen hervor, gefühlte Bilder. Laienhaft schneide ich Zweige, ihnen Raum gebend, in Erwartung frische Kräfte in den Trieben freizusetzen und uns erfreuliche Ernte zu schenken. Auf der kleinen Bank neben dem Baum nehme ich Platz für ein paar denkende Fragen und fragende Gedanken.
Der ungepflückte Apfel fällt mehr oder weniger weit vom Stamm und landet jedenfalls auf der Erde. Sofern er fällt. Denn manche Früchte verdorren oder verfaulen bereits am Baum, bevor sie der Fall sind. Auf einige Gesetze, wie auf die Schwerkraft, ist so gut wie immer Verlass. Und das Leben können wir noch so lieben, auch der Tod ist verlässlich. Es heißt mitunter, dass wir Erde waren und sein werden. Schließen wir daraus auch, dass wir eins mit Erde sind? Und können wir darüber Trost erfahren? Es fühlt sich an, als ginge es stets gegen das Vergessen anzugehen. Niemals Vergessen! Gegen die Auslöschung! Für das Leben!


Auf der Gartenbank verweilend übe ich mich gezielt in Unschärfe. So wichtig das Destillat der Vernunft, so notwendig eine sie begleitende Empfindsamkeit. Auch Schnaps benötigt eine gute Grundlage. Durch die Arbeit am Baum fühle ich mich in gewisser Weise mit ihm verbunden. Wie konnte es passieren, dass wir – zu viele von uns! – uns einer Natur gegenübergestellt situieren? Der Preis einer derartigen Abschottung von, und zugleich Naturalisierung der Welt ist enorm. Und wie konnte es geschehen, dass wir – zu viele von uns! – die Welt als Marktplatz sehen? Wurden im Zuge der Aufklärung nachhaltig und verhängnisvoll Geist von Natur und Seele von Leib getrennt? Die losgelassene, rasende Vernunft führt zu rasendem Tod. Unsere Arten sterben. Die Arten zu leben. Die Arten zu glauben. Die Arten zu sprechen. Die Vielfalt stirbt im kapitalen Gott und Imperium. Entzauberte, wundervolle Welt!


Wann! – werden sich systemisch-ökologische Erkenntnistheorien allmählich – oder plötzlich! – durchsetzen? Gregory Bateson [1] hätte vielleicht angemerkt, dass der Baum und ich in unserem Tun einen gemeinsamen, geistigen Prozess ausbilden. Mich fasziniert das Bild einer unterschiedslosen Welt. Er meinte auch, dass Hierarchie eine neurotische Verstörung darstellt, Macht metaphorischem Irrtum gleichkommt und Kontrolle einem Erkenntnishindernis. Erkennen als Ökologie! Apfelbäume sterben, Menschen sterben, Apfelbäume sind Menschen ähnlich. Ohne Ahnen keine Apfelbäume.


Manche Philosophie meint, wir können die Welt und unsere Existenz darin bestenfalls umständlich erkennen. Ist Erkennen ein Umstand? Ist Herrschaft und Monokultur der Preis des Glaubens an einen Gott? Kann Erde Entfremdung erfahren? Kann sie schreien? Hat sie ein Geschlecht?
Das Fleisch ist Leib in der Welt wie Welt im Leib, Leib-Welt-Situiertheit. So könnte es Maurice Merlau-Ponty [2] gefühlt gesagt haben. Über unsere Zwischenleiblichkeit im Fleisch der Welt haben wir an phänomenalen – wilden! – Ökologiebewebungen teil.


Imaginieren wir Resonanz, Inklusion und Diversität, bringen wir dann Schwingungsräume, Verbundenheiten und Vielheiten hervor? Allein in meinem Garten erscheint mir Getrenntsein als fundamentaler, ontologischer Erkenntnisirrtum. Bin ich ein gefallener Apfel? Was ist zwischen mir und dem Garten? Was ist zwischen mir und dem Baum? Was ist zwischen Mensch und Nicht-Mensch? Ein erinnerndes Nichts? Eine imaginative Resonanz? Oder gar ein Gefühl des Zusammentreffens?


In den Anden kommunizieren – bei gewichtigen Fragen – Berge mit Indigenen. Davon berichtet Marisol de la Cadena. [3] Warum nicht in den Alpen Bäume?


Ganz ohne Umstände, herzlichen Dank für das Gespräch, lieber Großvater Apfelbaum!


 


[1] https://www.wildculture.com/index.php/article/pattern-connects-gregory-bateson-and-ecology-mind/1213


[2] https://aeon.co/essays/the-phenomenology-of-merleau-ponty-and-embodiment-in-the-world


[3] http://supercommunity.e-flux.com/texts/uncommoning-nature/


 


Martin Luger
Martin Luger

ist Lehrbeauftragter am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien; Feldenkrais-Praktiker und Psychotherapeut; Forschungsbeauftragter der Fachsektion für Systemische Familientherapie im Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik; Möchtegernliterat und Baumfreund. Kontakt: info@selbstbild.at




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.