Bezeichnendes


Bezeichnendes


Im Mai 2014 traf ich Astrid Habiba Kreszmeier beim ÖAS-Kongress in Wien und nahm von dort ein thematisch auf- und angeregtes, atmosphärisch verbindendes Gefühl mit. Es entstand eine lose gekoppelte Korrespondenz, in der immer wieder davon die Rede war, den Faden zu halten.
Endlich – kann ich so sagen? Doch besser: Beginnlich? Fortsetzlich? ­– entsteht ihr Buch, dieses vielversprechende Gewebe um Sympoiesis. Und es entsteht hier parallel dazu „wildes weben“. Die Beiträge vom 25. Dezember und 1. Januar regen mich an, nun hier erstmals an- und einzufädeln.
Beim Versuch, ein lesbares Verständnis der großen Metapher „zwischenmenschliche Atmosphären“ zu entwickeln (1) entdeckte ich eine Korrespondenz zu Astrid Habiba Kreszmeiers von mir so verstandenem Ansinnen: Ausgehend von Humberto Maturanas Beschreibung lebender Systeme als autopoietischer Systeme soll der Komplexität dieser System-Umwelt-Unterscheidung zu mehr beschreibbarer und darüber erlebbarer Präsenz verholfen werden (sehr verkürzt gesagt); und damit auch der Erfahrung, „how fragile we are“. Wir sind, in Kreszmeiers Worten, als sprachbildende Lebewesen „fortwährend Beschreibende unseres Erlebens und darin fortwährend Erlebende unserer Beschreibung“ (wildes weben, 25.12.2020)


Nach Niklas Luhmann „(gibt es) keinen direkten Zugriff physikalischer, chemischer, biologischer Vorgänge auf die Kommunikation – es sei denn im Sinne von Destruktion.“ (2) Ebensowenig bildet nach Luhmann Sprache ein eigenes System. „(Sprache) ist und bleibt darauf angewiesen, dass Bewußtseinssysteme auf der einen und das Kommunikationssystem der Gesellschaft auf der anderen Seite ihre eigene Autopoiesis mit völlig geschlossenen eigenen Operationen fortsetzen. Wenn dies nicht geschähe, würde sofort jedes Sprechen aufhören und bald darauf auch nicht mehr sprachlich gedacht werden können.“ (3) Der Versuch, unser Erleben oder Erfahren oder Verwenden dessen, was uns umgibt, was wir aber nicht selbst sind (Umwelt), zur Sprache zu bringen – und damit auch das, was das für uns bedeutet – ist also etwas, das als Kommunikation daherkommt, indem es sich des Mediums Sprache bedient. Es setzt sich damit dem aus, ob es gelingt, „also gehört und besprochen werden (will)“ (wildes weben, 25.12.2020). Das ist nicht einfach abzutun mit einem lapidaren Hinweis darauf, dass es dann ja eben doch nie das erreichte, was es zu erreichen vorgibt, nämlich „die Sachen selbst“ (4).


Dennoch geht es, scheint mir, um so etwas wie das „Wiedergewinnen des Außen“ (oder auch des Kontextuellen) Man könnte so sagen: Es wird hier eine neue, vielversprechende strukturelle Kopplung verschiedener autopoietischer Systeme (Psychen, Organismen, soziale Systeme) begonnen. (Eigentlich sympoietischer Systeme …) Diese Kopplung birgt in sich neue Chancen, einem alten erkenntnistheoretischen Mustern verhafteten und Konstruktivismus extrem verkürzt verstehenden „vulgärkonstruktivistischen“ Ansatz, es gebe keine Welt außer der, die beobachtet und bezeichnet wird, nicht in der Art auf den Leim zu gehen, dass es eigentlich gar nicht wirklich regnete, wenn es regnet.  Noch einmal Luhmann: „Nur das Bezeichnende eignet sich für symbolische Verwendung, nicht die bezeichneten Dinge selbst. (…) (Die) Vermittlung von Mensch und Gesellschaft (kann) sich nicht auf die „Natur“ berufen.“ (5)
Aber eben darin liegt das chancenreiche Potenzial dieses Versuchs, zum Beispiel von Sympoiesis zu sprechen. Es stellt weiteres, teils neues Bezeichnendes ins Angebot zur weiteren symbolischen Verwendung. Das könnte den Regen und uns für uns miteinander anders besprechbar und lebbar machen, bevor wir in die Traufe kommen und absaufen (und folglich nicht mehr weiter sprechen; geschweige denn essen, trinken, leben, lieben).


Mit anderen Worten, lese ich diesen Versuch so: Er bringt die glücklicherweise abstrakten Konzepte der Systemtheorie in eine weitere, spannende und, wie ich finde, notwendige Konkretion und versorgt uns auf diese Weise mit Möglichkeiten, unsere Kopplung mit der Welt, in und mit der wir leben, schlauer zu beobachten, zu überdenken und vielleicht ein besseres (Über)-Leben in Aussicht zu stellen. Längst nicht nur in coronaren Zeiten verdient dies unbedingt Beachtung. (6)


Abschliessend zurück zur Atmosphäre, mit der alles begann. Wenn wir sie verstehen als ein großes Sprachspiel, das unsere Beschreibungs- und infolgedessen Erlebensmöglichkeiten erweitert für viele Wechselwirkungen, in denen wir leben (7), dann, glaube ich, kann dies in Kontakt mit dem sympoietischen Versuch nützlich sein. Hier ist es, wie es ist, weil wir hier sind.


 


Grundthesen zur Phänomenologie und Grammatik des Atmosphärischen



  1. Was wir als Atmosphäre erleben kann immer als hergestellt/konstruiert beschrieben werden, in unterschiedlichen Komplexitätsgraden. Es wird aber meist nicht (oder nicht mehr) als hergestellt/konstruiert erlebt.

  2. Der Begriff bzw. das metaphorische Konzept Atmosphäre bewegt sich auf der unscharfen und durchlässigen Grenze zwischen zwei polaren Aspekten: Naturgewalten (nicht menschlich beeinflusstes Geschehen bzw. Zustand) und Artefakte (hergestelltes Geschehen bzw. Zustand). Es braucht, um etwas damit anfangen zu können, zwar den Bezug zu dieser Unterscheidung, aber nicht immer eine Entscheidung zwischen beidem.

  3. Die unterschiedliche Fokussierung auf einen der beiden polaren Aspekte, vor allem aber die Bewegungsmöglichkeit auf einem durch diese Polarität ausgespannten Skalenraum, macht den Begriffsraum Atmosphäre mobil und elastisch und eben dadurch erlebensangemessen. Zugleich erlaubt sie, eigene Beiträge und eigene atmosphärische Möglichkeiten zu erforschen, sowohl im aktiven gestalterischen wie auch im passiven “erleidenden“ Modus (siehe auch V.)

  4. Der Fokus auf zwischenmenschliche Atmosphäre erlaubt es, Szenarien und Methoden ihrer Beobachtung in organisierten Formen menschlichen Zusammenseins zu entwickeln (Unternehmen, Schulen, politische Parteien, etc.). Desweiteren können individuelle Verhältnisse und individuelles Verhalten darin und dazu bemerkt und beobachtet werden. Daraus können darauf bezogene Handlungsoptionen entwickelt werden sowie besondere Möglichkeiten für Konsultation und Beratung in diesen Kontexten.

  5. Mit den getroffenen Unterscheidungen werden auch Unterscheidungen bezüglich der je eigenen aktiven und passiven Beteiligung bezogen auf Atmosphären ermöglicht und in einer polaren Form besprechbar: Agens oder Patiens.

  6. Der Fokus auf zwischenmenschliche Atmosphäre erlaubt es, Szenarien und Methoden ihrer Beobachtung in organisierten Formen menschlichen Zusammenseins zu entwickeln (Unternehmen, Schulen, politische Parteien, etc.). Desweiteren können individuelle Verhältnisse und individuelles Verhalten darin und dazu bemerkt und beobachtet werden.


 


1 Der Anstoß und Aufschlag dazu verdankt sich dem Münchner Soziologen, Schriftsteller und Berater Raimund Schöll. Vgl. Ohler, Matthias: Atmosphären lesen – Vom Verstehen und Behandeln menschlicher Umgebungen. In: Bohne, M. et al. (Hrsg.): Reden reicht nicht!?. Heidelberg 2016, 2. Aufl. 2019, S: 73 - 105


2 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1998, S. 114. Destruktion bedeutet hier die Zerstörung der (umweltlich) notwendigen Voraussetzungen zur Aktivierung von Kommunikationsgeschehen, etwa durch Tod.


3 Ebenda, S. 112. Fritz B. Simon geht so weit, anzunehmen, Sprachen selbst könnten als autopoietische Systeme betrachtet werden, „da sie in der Lage sind, sich selbst zu reproduzieren, indem sie sich ihre (austauschbaren) Sprecher suchen“. Vgl. Simon, Fritz B.: Formen – Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen, Heidelberg 2018, S. 101, Nr. 34.5.5


4 „Zu den Sachen selbst“ war das, was Edmund Husserl über die „phänomenologische Reduktion“ erreichen zu können glaubte


5 Luhmann 1998, aao., S: 112


6 Ein weiteres Beispiel dafür, wie sinnstiftend und praktisch es ist, Systemtheorie auf ihre Konkretionen hin zu diskutieren (und daraufhin, welche Konkretionen eher zu bevorzugen wären), liegt vor in der äußerst lehrreichen Debatte in: Kleve, Heiko/Roth, Steffen/Simon, Fritz B.: Lockdown: Das Anhalten der Welt – Debatte zur Domestizierung von Wirtschaft, Politik und Gesundheit. Heidelberg 2020.


7 Vgl. Ohler, Matthias (2019), aao, Anm. 1


 


Dorothea Kurteu
Matthias Ohler

Studium der Philosophie und Linguistik; Systemischer Berater, Musiker; Geschäftsleiter des Carl-Auer Verlages; Geschäftsführer der Auer & Ohler GmbH Heidelberger Kongressbuchhandlung; Leiter der Carl-Auer Akademie im Carl-Auer Verlag; Dozent und Ausbilder in eigenen Weiterbildungsreihen und an Hochschulen, Kliniken sowie Weiterbildungsinstituten. Mitbegründer des Ludwig-Wittgenstein-Instituts.




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.