Lob der Schwerkraft


Lob der Schwerkraft


Hand auf’s Herz: Schwerkraft ist kein schönes Wort. Es klingt irgendwie schwerfällig, grob, gar plump. Wer kann das noch brauchen, in einer Welt des leichten Designs, der drahtlosen Smartsolutions?
Nein, wir wollen nicht schwer sein; auch kein schwerer Fall und schon gar nicht schwer von Begriff. Das Leben als Ganzes soll nicht schwer sein, ebenso wenig das Herz und wenn geht auch nicht die Glieder. Mit Schwerenötern will man nichts zu tun haben und besser auch nicht mit Schwerverbrechern oder Schwergewichtlern. Und schon gar nicht wollen wir unseren Klient:innen das Leben noch schwerer machen.
Von all dem abgesehen, kann es schnell sehr weh tun, wenn wir es mit der Schwerkraft auf unerwartete Weise zu tun bekommen: Sei es, weil wir stürzen oder etwas auf uns stürzt. Beides ist nur in seltenen Momenten angenehm.
Wieso also ein Lob der Schwerkraft? Vielleicht, weil auf sie Verlass ist, wie schon Martin Luger meinte? (1) Bestimmt! Und ich möchte ergänzen: um der Erde Willen, um der Freude willen, um des Lebens willen.


Seit meinem ersten Faden vom 4. Dezember (2), haben sich in dieser schreibenden Gemeinschaft neunzehn weitere eingesponnen. So bunt diese Stimmen samt der noch Ungehörten auch sein mögen, sie verflechten sich darin, Erleben, Sprache und Wahrnehmung erdnah zu halten. Es ging und geht um erdnahe, schwerkräftige und damit auch tendenziell vernachlässigte Beobachtungen. (3)
Ein hervorragendes Beispiel hat uns Franz Schweinberger in seinem letzten Beitrag zugespielt. (4):
«1 Apfel + 1 Apfel sind 2 Äpfel. Was für ein Blödsinn! Da schaut keiner mehr den Kern des Apfels, geschweige erkennt den Baum im Samen! Würde man aus dieser Rechnung das Leben ausnahmsweise nicht heraushalten, würden aus 2 Äpfeln, sobald sie in fruchtbare Erde gefallen sind, wahrscheinlich 10 Bäume wachsen."
Ja, danke Franz, natürlich! Wenn unser Denken sich von der Schwerkraft mitnehmen lässt, dann wird es zirkulär und es kommt zu anderen Ergebnissen. Es wird mitunter langsamer, manchmal ausgelacht, wirkt deplatziert oder verstörend. Sofern ich mich nicht irre, ist zirkuläres Denken schlicht und ergreifend systemisches Denken. Und wenn es dabei sich selbst und das Leben, zum Beispiel die Schwerkraft, mitdenken kann, dann ist es nach Heinz von Förster mindestens Kybernetik 2. Ordnung, vermutlich sogar noch etwas verschlungener. Nach meinem Empfinden wäre es auch hier an der Zeit einen alternativen Begriff zu finden, denn Kybernetik ist und bleibt ein missverständlicher Name, wenn es ums Lebendige geht. Interessant dazu übrigens das Osterspecial von Sounds of Science, in dem Lina Nagel und Wolfram Lutterer über Differenzen in systemischen und systemtheoretischen Ansätzen sprechen. (5)


Wenn Vernunft von vernehmen kommt


Apropos Carl-Auer: ich konnte mein Manuskript mittlerweile an den Verlag abgeben, sodass mir wieder mehr Zeit zum Stöbern und Streunen bleibt. Als Arendtistin (diesen Begriff verdanke ich Gerald Schmickl, der sich hier auch bald zu Wort melden könnte) und angesichts unserer Zeiten, die sich auch nicht sehr hell präsentieren, habe ich zu Hannah Arendts Band «Menschen in finsteren Zeiten» gegriffen. (6) Darin werden Personen porträtiert, die in der ersten Hälfte des 20igsten Jahrhundert mitsamt seinen Katastrophen gelebt und gewirkt haben. Er nimmt auf lehrreiche, zeitgeschichtliche Streifzüge mit. Besonders elektrisiert haben mich die Zeilen zu Walter Benjamin (Kulturkritiker und Philosoph; 1882 – 1940).
Ich gestehe, ich habe Benjamin nicht gelesen, und doch teile ich mit ihm einen biografisch wichtigen Ort: Port Bou an der spanisch-französischen Grenze. Während ich vor 40 Jahren dort als Spät-Hippie in Buchten lebte und mit ein paar Fusstritten von Polizisten davongekommen bin, liess Walter Benjamin dort auf der Reise ins Exil sein Leben. Laut Arendt war Pech war ein treuer Begleiter Benjamins. So geschah es, dass diese eigentlich offene Grenze genau in jenen 24h gesperrt war, als er von einer Herzkrankheit zusätzlich geschwächt, dort ankam. Das hat ihm offenbar allen Lebensmut genommen.
Ich erinnere mich an jenes betroffen-traurig-verbundene, dankbare Gefühl, das mich vor der Gedenktafel von Walter Benjamin in Port Bou überkam. Ich entdeckte sie bei einer biografischen Revisionsreise vor einigen Jahren. Erst jetzt dämmert mir, dass ich nicht nur mit seinem tragischen Zeiten-Schicksal an sich, sondern wohl auch von einigen Aspekten in Benjamins Wirken angesprochen war. Um keine Missverständnisse hervorzurufen ich will damit nicht sagen, dass ich Benjamins Werk erfasse, aber beim Lesen folgender Zeilen schien mir, als wäre er ein von Schwerkraft geführter (nicht zu verwechseln mit von Depression geführter) Intellektueller gewesen. Einer, der zur Erde hindenkt, der um den Samen im Apfel weiss und auch um seinen Fall. Einer, vom dem ich erinnernd lernen kann.


«Wenn man zum Beispiel - und dies wäre durchaus im Sinne Benjaminschen Denkens – den abstrakten Begriff Vernunft auf seinen Ursprung aus dem Verb «vernehmen» zurückführt, so kann man meinen, einem Wort aus der Sphäre des Überbaus einen sinnlichen Unterbau zurückgegeben zu haben» (Arendt, 2012, S. 216)


Zirkuläres Schauen


Vermutlich fand Benjamin in der Figur des «Flaneurs», der in seinen späteren Arbeiten zentral wurde, jene Qualität von Wahrnehmung, die das ‘Vernehmen’ des Unterbaus oder auch die wundersame Verschränkung von Über- und Unterbau ermöglichte. Ich freue mich über Benjamin’s Freude am Flanieren, das ja im städtischen Milieu verortet ist. Da ich mich gerne unter freiem Himmel rumtreibe, gibt es im neuen Manuskript ein Kapitel, das dem "Streunen" gewidmet ist und erkenne, dass dem Streunen in Naturräumen eine ähnliche Wirkung zukommt, wie dem Flanieren in der Stadt.
Flanieren und Streunen sind eben (wie der Über- und der Unterbau) innig verschwistert und ihre Freundin ist das Staunen.
In beiden Fällen handelt es sich um ein nicht zielgerichtetes Umherstreifen, durch das sich die Welt und die Dinge in vielschichtigen, oft anders als üblichen Bedeutungen und Verbindungen zeigen können. In bin geneigt zu sagen, sie können in ihrer zirkulären Bewegung, ihrer der Erde zufallenden Bewegung und dem, was sich daraus ergibt, sichtbar werden, geschaut werden. Das kann dann recht erstaunlich werden!
Ein solches Schauen und Staunen ist nicht nur anregend, es ist ziemlich nützlich und will geübt sein – es ist ein anderes 1x1;-), aber dazu ein anderes Mal mehr.


In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen schönen Frühling, flanierend, streunend mit vielen erstaunlichen Zufällen, herzlich Habiba
PS: Gäbe es Wasserfälle ohne Schwerkraft?


 


1 https://www.carl-auer.de/magazin/wildes-weben/grossvater-apfelbaum


2 https://www.carl-auer.de/magazin/wildes-weben/ein-erster-faden


3 Hier habe ich aus diesen ersten 20 Beiträgen eine Collage erstellt. Einsehbar unter: https://www.nature-and-healing.ch/blog/eine-erste-collage/


4 https://www.carl-auer.de/magazin/wildes-weben/drahtwurm-und-kaiseradler


5 https://www.carl-auer.de/magazin/neuigkeiten/lina-nagel-and-wolfram-lutterer-podcast-systemische-differenzen


6 Arendt, Hannah (2012): Menschen in finsteren Zeiten, München, Piper, 4. Aufl. (2017)


 


 


Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.