Hypnosoziale Systematik

Soziale Arbeit, so meine ich manchmal augenzwinkernd, sei die Kunst der unsystematischen Systematik. Sozialarbeiter:innen handeln oftmals höchst individuell bzw. situativ unterschiedlich, mal quer, mal mit, mal längs von fachlichen Linien. Jeder Fall ist etwas anders, da ja jeder Mensch anders ist. Ja, wo kämen wir da hin, wenn wir das anders täten? Soziale Arbeit ist doch nicht eine simple Tätigkeit, etwa Beine zu gipsen. Und selbst beim Gipsen von
Beinen, wird sich wohl nicht das Bein dem Gips, sondern der Gips dem Bein anpassen…Soziale Arbeit will heruntergebrochen werden ins Konkrete.


Soziale Arbeit ist eine komplexe Materie. Das betrifft den Terminus selbst, da mit der Sozialen Arbeit verschiedene Ausprägungen gemeint sein können: Praktiker:innen, die als Fach und Führungskräfte in den Einrichtungen tätig sind; die Einrichtungen als Organisationen selbst; Lehre und Forschung in wissenschaftlichen Institutionen , z.B. an Universität und Fachhochschule; zuletzt seien die Supervisior:innen und Komplementärberater:innen nicht unerwähnt.
Kurzum: Soziale Arbeit ist ein bunter Haufen!
Wie soll denn da Struktur – ja Systematik (!?!) – hineinkommen. Noch dazu mit einem Blog…?


Tja, solch Fragestellung muss ich erdulden, wenn ich mit Kolleg:innen aus dem Feld spreche. Und selbst, wenn die Mühe groß, das Ziel weit entfernt scheint, ist mir der Versuch nur recht.


Was also kann die Grundlinie einer hypnosozialen Systematik sein? Ausgehend von basalen Hypothesen möchte ich mit folgenden Überlegungen beginnen:
Erstens sei an dieser Stelle hypothetisiert, dass eine Systematik für die Soziale Arbeit möglich, ja sogar brauchbar sei.
Zweitens, so meine ich, könne eine hypnosoziale bzw. hypnosystemische Perspektive dafür Wertvolles leisten.
Drittens kann ein Blog eine sehr lebendige und kurzweilige Form sein, Gedanken der geneigten Fachöffentlichkeit zu kommunizieren.


Als geneigte:r Leser:in könnte man/frau sich an dieser Stelle fragen: Ja, Ralf, was denn sonst… Warum schreibst Du das hier? Nun. Guter Punkt. Dazu äußere ich mich gerne.
Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Hypothesen gar nicht so selbstverständlich sind. Es wäre (1) zu hinterfragen, ob Soziale Arbeit systematisierbar sei. Es könnte (2) bezweifelt werden, dass ein hypnosystemischer Zugang fruchtbar wäre. Zudem mögen (3) manche bestreiten, dass ein Blog die geeignete Form ist.
Daher postuliere ich diese drei hypnoTHESEN, äh Hypothesen, um meinen Ausgangspunkt zu skizzieren. Dieser erfordert eine gewisse Offenheit, Denkfreude und den Mut, mir am Weg zu folgen.


Am Weg zu einer hypnosozialen bzw. hypnosystemischen Systematik für die Soziale Arbeit fällt zunächst der letzte Blog-Eintrag „Eben – es sind Ebenen“ auf. Darin behandle ich die Mikro-Makro-Problematik der Sozialen Arbeit – also die Tatsache, dass Soziale Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt ist und dass sie ein Doppelwesen hat: einerseits eine Profession (aktive, im Feld tätige Sozialarbeiter:innen) und andrerseits eine Disziplin (forschende und lehrende Expert:innen) darstellt (Kleve 2021). Es muss an dieser Stelle nicht auf das oftmals zitierte Praxis-Theorie-Dilemma eingegangen werden, denn mein Zugang versucht diese zu überbrücken. Am Weg, dies zu überbrücken, fällt auf, dass eine allererste Frage von entscheidender Bedeutung ist. Auf Österreichisch: „Za wos tamma des“… Also wofür wird hier dies getan bzw. angewandt?


(1) Funktionalität und Zweckmäßigkeit
Die „WOFÜR“-Frage schließt die erste wichtige Dimension einer hypnosozialen Systematik auf: Funktionalität und Zweckmäßigkeit des Vorgehens – oder banaler formuliert: Hat das überhaupt einen Sinn? Sinn, so wird Rudolf Steiner zitiert, ist die Aussage über die Funktion bzw. den Zweck eines Elements im Verhältnis zu dessen Umfeld bzw. Umwelt (Bonneval 2019). Diese Definition gefällt mir in der Bedeutung, da sie anschlussfähig an mein Vorhaben ist. Sinnvoll ist es demnach, wenn eine hypnosoziale Systemik ein zweckmäßiges Verhältnis zu den Umwelten findet, und zwar als Disziplin und Profession – ja zu Dir wie zu mir. Jetzt wäre es „sinnvoll“ danach zu fragen, was dieser Sinn sein könnte. Und hier bemerken wir bereits, wie unterschiedlich die Antworten aus dem Umfeld ausfallen könnten. Fach- und Führungskräfte könnten etwa an einer Erleichterung der sozialarbeiterischen Mühen im Feld interessiert sein, während hingegen Theoretiker:innen sich die Lösung eines theoretischen Problems erhoffen.
Sinn ist ebenso ein situatives Verhältnis wie ein allgemein konstitutives. Im Sinne der Klarheit – sowohl als Disziplin wie auch als Profession – tut Soziale Arbeit gut daran, die eigene Zweckmäßigkeit und Funktionalität festzustellen: Also wofür nehmen wir diese Definition bzw. Verortung vor? Daraus kann die Frage der Anschlussfähigkeit und des Nutzens für Kräfte aus dem Umfeld bzw. für verschiedene Umwelten sein. Mein Blog versucht diese Sinnhaftigkeit in der Darstellung verschiedener Ebenen und Grundlinien der Sozialen Arbeit zu gewinnen: Sie ist Disziplin wie Profession und wird auf Marko-, Meso- und Mikroebene umgesetzt. Demnach ist es sinnvoll ein umfassendes Verständnis von Sozialer Arbeit zu gewinnen und dabei sich eine Offenheit zu bewahren: als Theoretiker:in für Praktiker:in und umgekehrt und als „oben“ für „unten“ oder „mittelwärts“ und ebenso wiederum umgekehrt.
Soziale Arbeit kann von unterschiedlicher Position aus angegangen und betrachtet werden. Die Verortung der eigenen Position und deren Verhältnis zu andren ist Grundlage für das weitere Vorgehen.


(2) Modalität bzw. Natur
Die zweite entscheidende Frage lautet: „WORUM handelt es sich hier?“ Mit dem Begriff der Modalität meine ich, welche „Spielvariante“ der Sozialen Arbeit vorliegt. Denn: Soziale Arbeit verfügt nicht nur hinsichtlich der Ausprägung in „Profession“ und „Disziplin“ über eine Doppelnatur. Meines Erachtens kann diese auch auf das mögliche Kontinuum zwischen einer „allgemeinen Methodik“ Sozialer Arbeit („so wird’s grundlegend getan“) und einer „situativen-kasuistischen“ Betrachtungsweise („jeder Fall ist anders“) angewandt werden. Zudem kennt die Soziale Arbeit die klassische Trias der Methoden (Einzel-, Gruppen- und Gemeinwesenhilfe) und darüber hinaus eine Erweiterung hinsichtlich unterschiedlichster handlungsleitender Konzepte und Anwendungs- bzw. Handlungsfelder. Es gibt viele unterschiedliche Standpunkte in der Szene, von denen aus Überlegungen ansetzen können. Beachtet man das „Worum“ nicht, so kann ein Durcheinander entstehen. Wir unterscheiden also künftig auch hier unterschiedliche Ebenen und Perspektiven.
Kommen wir nun zum dritten und vorerst abschließenden Punkt.


(3) Teleologie bzw. Zieldienlichkeit
Die Soziale Arbeit ist kein Selbstzweck. Es handelt sich bei ihr um ein Funktionssystem der Gesellschaft, das gewisse Aufgaben erfüllt (Maaß 2009). Sie zielt auf Vermittlung von soziomateriellen Hilfestellungen, Ausbalancierung gesellschaftlicher Ungleichheit sowie die Entwicklung und Ermächtigung von Einzelnen, Gruppen und Gemeinwesen ab. Die dritte Frage lautet also: „WOHIN möchten wir?“. Eine Wanderungsmetapher kann dies rasch auf den Punkt bringen. Es ist entscheidend, welches Ziel mit welcher Route gewählt wird. Erst danach können die gebrauchten Mitteln („WAS“) und die gewählte Vorgehensweise („WIE“) sinnvoll bestimmt werden.
An dieser Stelle sei noch angeführt, dass es bei der Teleologie unterschiedliche Haltungen in der Szene geben könnte: Parteiliche Maßnahmen werden neben unparteilichen sowie allparteilichen existieren, je nach konzeptueller Ausrichtung der Einrichtung zur Zielgruppe hin. Auch hier ist wiederum die Vielfalt und damit die Komplexität der Sozialen Arbeit spürbar geworden. Genau das macht die Soziale Arbeit so interessant!
Ziehen wir nun ein vorläufiges Fazit.


(4) Fazit
Die Soziale Arbeit ist ein buntes und vielfältiges Wesen, das unterschiedliche Aspekte, Facetten und Ebenen kennt. Drei grundlegende Fragen helfen uns dabei, eine hypnosoziale Systemik zu entwickeln:
1. WOFÜR? …als Funktionalität
2. WORUM? …als Modalität
3. WOHIN? …als Teleologie
Diese drei Fragen machen klar, dass Soziale Arbeit nicht uniplex gestaltet und einseitig vorherbestimmt bzw. determiniert sei. Soziale Arbeit ist als Rahmenbegriff möglich und theoretisch fassbar. Und er benötigt einer inneren Ausdifferenzierung, so dass sinnvoll theoretisiert bzw. praktiziert werden kann. Aus der hypnosozialen Sicht sind diese drei Fragen für die grundlegende Erstbestimmung hilfreich. Ich empfehle, diese Fragen stets zu stellen, egal ob an ein Buch oder an einen Menschen herangetreten wird.
Wende ich diese drei Fragen auf meinen eigenen Blogbeitrag an, so erhalte ich folgende Antworten: Ich stelle diese drei Fragen, damit die Zweckmäßigkeit der Sozialen Arbeit abgebildet bzw. dargestellt werden kann. Dabei handelt es sich um ein perspektivenintegrierendes und systematisches Vorgehen. Es führt zu einer hilfreichen Aufgliederung und Strukturierung für die Soziale Arbeit, je nach der situativen Ausprägung. Dazu aber im nächsten Beitrag dann mehr.


Literatur


Bonneval, Hans (2019): Das Denken als Weg zu einer spirituellen Welterkenntnis. Übungsbuch – aus dem Grundkurs der Schule für ein Neues Denken. Band 1 – Mensch und Welt. Books on Demand: Norderstedt (2.Auflage 2019).


Kleve, Heiko (2021): Methodische Grundlagen Sozialer Arbeit. Eine fragmentarische Skizze. In: H. Kleve, B. Haye, A. Hampe u. M. Müller (Hrsg.): Systemisches Case Management. Falleinschätzung und Hilfeplanung in der Sozialen Arbeit. Carl-Auer, S. 16–40 (6. Aufl. 2021).


Maaß, Olaf (2009): Die Soziale Arbeit als Funktionssystem der Gesellschaft. Verlag für Systemische Forschung.