Zuwendung und Abgrenzung

Als ich von Graz nach Hause fahre, geht mir die Ausbildung von Gunther Schmidt stetig durch den Kopf und ich möchte weiter darüber nachdenken. Dafür nutze ich sogleich die lange Autostrecke. Das nenne ich Utilisation


Zunächst bemerke ich, dass ich im Vorfeld bereits viel gelernt habe, woran ich durch die Ausbildung erinnert worden bin – teils wurde es auch vertieft:


• aktiv zuzuhören (spiegeln, paraphrasieren usw.),
• als Mensch anwesend sein (Containment),
• ziel-, ressourcen- und lösungsorientierte Fragen stellen,
• Gesprächsprozesse strukturieren und anleiten.


Neu aber ist für mich zum einen die Erkenntnis, dass den Problemen eine wichtige Rolle im hypnosystemischen Ansatz zukommt. Probleme sind in diesem Konzept weder lästige Ereignisse oder gar Hindernisse. Sie sind auch nicht der Absprung in Richtung Lösung.


Probleme führen mit Lösungen eine Liebesaffäre.


Probleme haben einen Nutzen, eine Existenzberichtigung. Sie werden für mich im Zuge der Ausbildung entdämonisiert. Ich lerne, mich Problemen gleichermaßen zuzuwenden als mich auch von diesen abzugrenzen.


Das ist erleichternd, denn in der Sozialen Arbeit stehen in der Regel Probleme im Vordergrund. Und für mich war es schon immer eine Herausforderung, einerseits den komplexen Problemlagen von Menschen zuzuhören und diese auch entsprechend zu würdigen, andrerseits aber auch lösungsorientiert vorzugehen.


Puh, ein langer Satz, der dem aber gerecht wird.


Vielleicht hatte ich versehentlich das lösungsorientierte Arbeiten mit einem Vermeiden von Problemschilderungen verwechselt. Vielleicht hatte ich in meinen Beratungen auch eine Tendenz in Richtung „Lösung“ und weg vom „Problem“ erlebt.


Heute weiß ich: Ich kann problem- UND lösungsorientiert vorgehen. Auch Lösungen kann man/frau sich zuwenden und sich wiederum von ihnen abgrenzen.


Ich bin weder von dem einen noch von dem andren abhängig. Mit beiden kann ich sehr gut umgehen. Ich würde es tanzen nennen. Das ist die Bewegung, die mich am ehesten daran erinnert.


Die zweite wichtige Erkenntnis bezieht sich dann auf die gesicherte BeraterInnen-Position. Ich merke, dass diese Technik auch eine Haltung im Bewusstsein ist. Eine gesicherte BeraterInnen-Position bedeutet, einerseits den Menschen zugewandt zu sein. Gleichzeitig ist man/frau dem Thema abgewandt.


Was meine ich damit?


Es ist ein Zitat, das ich aus der Erinnerung wiedergebe und das ich aus dem Kontext des Seminars reiße. Insofern muss ich mich dafür entschuldigen. Dennoch ist es mir sehr in Erinnerung geblieben. In etwa sagt Gunther Schmidt, dass hypnosystemisch zu arbeiten bedeute, das subjektive Leid von Menschen würdigend und wertschätzend wahrzunehmen. Es brauche Empathie. Eine helfende Beziehung. Gleichzeit, so meint er, würde er nicht an das Leid (das Problem / die Störung) „glauben“, denn dann laufe er Gefahr, die Hypnose der KlientInnen zu betreten.


Dem Menschen bleiben wir zugewandt. Dem Thema abgewandt.


Subjektives Leid ist eine Realitätskonstruktion, und mit dem Leid gehen entsprechend negative Gedanken, Gefühle und Spannungen im Körper einher. Das ist nicht zu leugnen. Und es ist eine fachliche (auch ethische) Aufgabe von hypnosystemisch orientierten Fachkräften, subjektiv empfundenes Leid mit den KlientInnen gemeinsam zu lindern: mit hypnosystemischen Methoden und Vorgehensweisen können Wege aus dem Leid aufgezeigt werden. Den Weg gehen die KlientInnen selbst, freilich begleitet im Gespräch, aber doch auch in Eigenverantwortung, Eigenleistung und Empowerment.


Meiner Erfahrung nach neigen aber Fachkräfte – insbesondere in helfenden Berufen – dazu, unter dem subjektiven Leid der KlientInnen ebenso zu leiden. Sie haben nicht Mitgefühl, sondern Mitleid. Unzählige Male habe ich es selbst oder als Supervisor erlebt, dass Mitleid den professionellen Handlungsspielraum verringert. Mitgefühl vergrößert diesen.


Es ist aus hypnosystemischer Sicht sinnvoll, handlungsfähig zu bleiben und aus einer Position der inneren Klarheit, Stärke und des Mitgefühls, den KlientInnen Wege im Umgang mit dem Leid anzubieten.


Dafür braucht es die Zuwendung zum Menschen und die Abgrenzung zum Thema.


Erleben, so der hypnosystemische Zugang IST nicht, sondern wird ERZEUGT.


Erleben ist ein ständiges Sein. Und wie Heinz von Foerster anmerkte, sind wir Menschen nicht nur „human beings“. Wir sind ebenso „human becomings“. Erleben ist ein fortwährendes „Werden“.


Ich möchte das nun weiter vertiefen.


Aus meiner Biografie weiß ich, dass ich auf manche Elemente in meinem Erleben einen sehr direkten Zugriff habe, auf manche einen indirekten (und manchmal glaube / erfahre ich auch, dass ich gar keinen Zugriff habe).


Menschen, so heißt es auch im hypnosystemischen Integrationskonzept, sind vielschichtige Wesen. Gunther Schmidt referenziert auf Milton Erickson und dessen umfangreiche Arbeit und bietet im Zuge des Seminars einen ausdifferenzierten Erlebnisraum als ein Modell an, wie die innere Wirklichkeit von Menschen aufgebaut wird. Er spricht darüber, wie Prozesse ablaufen, die zum Herausbilden von Psyche und inneren Erleben führen.


Einige wichtige Elemente dabei sind die Unterscheidung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten. Dazu kommen willkürliche und unwillkürliche Prozesse. Der Mensch verfügt zudem über die bekannten fünf Sinneskanäle, die den inneren Erlebnisraum befüllen. Zudem kommen die Gefühle, die Gedanken und körperliche Reaktionen, die mit diesen verbunden sind – mit diesen einhergehen.


Nach Antonio Damasio werden diese körperlichen Reaktionen als „body marker“ genannt, im Deutschen zumeist als somatische Marker übersetzt.


Meine Erfahrung ist, dass Menschen, die sich in leidvollen psychischen (und sozialen) Prozessen befinden, keinen direkten Einfluss darauf haben. Beziehungsweise glauben oder erfahren sie, dass sie keinen direkten Einfluss haben. Sehr häufig wird Leid vom Phänomen der Ohnmacht begleitet, besonders wenn dieses als „schwer“ erlebt wird. Oftmals sind die eigenen Kompetenzen wie „vergessen“ oder ausgeblendet – in der Fachsprache nennen wir dies dissoziiert.


Einen wesentlichen Teil der hypnosystemischen Arbeit stellt es dar, KlientInnen an deren eigene Stärken und Fähigkeiten wieder zu erinnern und heranzuführen.


Dabei verbessere nicht ich als Berater das Leid, sondern KlientInnen tun dies – womöglich unter meiner Anleitung, aber die Leistung liegt bei den KlientInnen selbst. Wieso?


Das hypnosystemische Integrationsmodell geht von den autopoetischen Konzepten nach Humberto Maturana und Francisco Valera aus: die menschliche Psyche ist selbstorganisiert, auf sich selbst bezogen und selbsterhaltend.


Erleben wird von Menschen subjektiv erzeugt.


Daher sprechen wir von Eigenleistung, Eigenbeiträgen, Eigenverantwortung und Empowerment.


Und zugleich sind Menschen auch mit der sozialen Sphäre verbunden.


Gunther Schmidt nennt die systemischen Verbindungen „Einladungsfelder“. Dies sind Kontextfaktoren, die auf das innere Erzeugen von Wirklichkeit und das Erleben davon einen Einfluss nehmen. Sie laden uns ein, ein bestimmtes Erleben zu erzeugen. Manchmal sehr „stark“, manchmal eher „schwach“.


Als Sozialarbeiter oder Supervisor kann ich in einer Beratungssituation ein positives Einladungsfeld für meine KlientInnen formen. KlientInnen nehmen meine Impulse vor dem selbstorganisierten und selbstbezüglichen psychischen Hintergrund auf, verarbeiten diese und spielen diese dann bewusst oder unbewusst (willkürlich oder unwillkürlich) in das eigene Erleben ein.


Dabei gilt der Spruch von Johann Wolfgang von Goethe, hier etwas verkürzt wiedergeben: „Gut gemeint ist nicht immer gut.“


Hypnosystemisch orientierte Fachkräfte in der Sozialen Arbeiten „meinen es nicht nur gut“. Sie überprüfen auch, ob die Art der Zusammenarbeit sich auch im Erleben von KlientInnen als „gut“ etabliert.


Dabei sind sie den eigenen Schritten gleichermaßen zugewandt als auch abgegrenzt.


Die Zuwendung bedeutet hier, dass man/frau sich darüber vergewissert, dass das bestmögliche Vorgehen als BeraterIn nach besten Wissen und Gewissen ausgewählt wurde.


Die Abgrenzung bedeutet hier, dass man/frau jederzeit das eigene Vorgehen abändern kann. Gunther Schmidt meint dazu im Live-Seminar, dass es vorkommen könne, dass einE BeraterIn sich in die eigenen „Interventionen verliebe“…


Wenn das eigene Vorgehen oder der Glaube an die eigenen Techniken wichtiger wird als das, was KlientInnen erleben, könnte es dazu führen, dass das Verhalten beziehungsweise die Reaktion von KlientInnen als Widerstand oder Störung erlebt würde.


Man/frau könnte auf dem Vorgehen beharren. Womöglich weist man/frau der KlientIn eine „Schuld“ zu – so als „reagiere die KlientIn nicht richtig“.


Das tut so, als ob Methoden und Techniken in der professionellen Gesprächsführung linear-kausal wirken und objektive Entitäten wären. Doch jede Methode und Technik ist kontextuell und situativ zu verorten und wirkt in der aktuellen helfenden Beziehung. Und das kann dazu führen, dass etwas „gut gemeintes nicht gut wirkt“.


Dann gilt der Spruch von Steve de Shazer: „Wenn etwas nicht funktioniert, tue etwas anderes.“ Wenn also eine Vorgehensweise, ein Angebot von KlientInnen als „nicht gut“ erlebt wird, kann etwas anderes probiert werden.


BeraterInnen benötigen einerseits einen Werkzeugkoffer, damit sie professionelle Gespräche zieldienlich strukturieren können. Aber:


Wenn Du nur einen Hammer hast, wird die Welt zum Nagel, so soll es Paul Watzlawick gesagt haben. Handlungsfähig zu bleiben bedeutet also auch, Wahlmöglichkeiten zu haben. Dafür braucht man/frau einen Ideenreichtum.


Kreativität, so sagt es Insoo Kim Berg, spielt in der Beratung eine wichtige Rolle. Kreativität erweitert und begleitet das strukturierte und strategische Vorgehen in der Gesprächsführung.


Wenn man/frau sich nicht mit den eigenen Interventionen als festgefahrene Strukturen identifiziert, sondern sich einen Freiraum offenhält, dann ist Platz für Neues. Das befreit umgekehrt nicht davon, Methoden, Strukturen und Vorgehensweisen zu erlernen – und damit den Methodenkoffer zu befüllen.


Es braucht auch hier das sowohl-als-auch.


Und ich möchte nach diesem Gedanken den den Kreis zur gesicherten BeraterInnen-Position schließen: Als BeraterIn und Fachkraft der Sozialen Arbeit bleiben wir uns selbst zugewandt. Ich bin OK. Wir bleiben den KlientInnen zugewandt. Du bist OK. Und wir behalten uns eine Handlungsfähigkeit, eine Klarheit, eine Steuerungsposition und pflegen unsren Ideenreichtum. Dann ist auch Es ok.


Durch ein systematisches -sich-selbst-befragen kann diese Lernerfahren vertieft werden. Wichtige Fragen in der Selbstreflexion sind dabei:


• Wie kann ich eine gesicherte BeraterInnen-Position einnehmen? Wie bleibe ich meiner KlientIn zugewandt, also mitfühlend und empathisch und würdigend und wertschätzend? Und wie bleibe ich dem Thema gegenüber (der „Problemhypnose“) abgewandt und abgegrenzt?
• Welche Wirklichkeit erzeugt meine KlientInnen? Und wie? Wie wird diese benannt? Beschrieben? Bewertet? Körperlich und in Gefühlen erlebt? • Wie wirkt sich diese Wirklichkeit für meine KlientIn aus – körperlich, gefühlsmäßig und gedanklich?
• In welchen Einladungsfeldern und Kontexten wird diese erzeugt? Vielleicht gibt es eine Imprint-Situation (eine Erstsituation)? Wie war diese? Welche sonstigen Situationen könnten hier wichtig sein? Welche Gemeinsamkeit weisen diese auf?
• Was ist der Unterschied im Ursprungskontext (dem sogenannten Herkunftssystem) zum aktuellen Kontext in der Beratung / Soziale Arbeit (Beratungssystem)? • Wie würde ich hier fachlich / methodisch vorgehen?
• Was meine ich damit, dass ich „Gutes“ bezwecke?
• Wofür tue ich das?
• Und wofür tut die KlientIn das?
• Was ist der Zweck unsres gemeinsamen Zusammenseins – und zu welchem Zweck wird dieses Vorgehen als Mittel gewählt?
Und später: Wie wirkt sich dieses Vorgehen aus?
• Was meldet die KlientIn zurück?
Und optional: Welches Vorgehen darüber hinaus wäre noch möglich?
• Und was lerne ich aus den verschiedenen Vorgehensweisen?
Jedenfalls: Und wie unterstützt mich all dies, um eine gesicherte BeraterInnen-Position auch in Zukunft einzunehmen und vielleicht sogar auszubauen?


Diese Fragen könnten in den eigenen Arbeitsalltag mitgenommen, ausprobiert, reflektiert und systematisch angewandt werden. Gerne können auch eigene Ideen damit kombiniert werden.


Diese Fragen vertiefen das hypnosystemische Integrationskonzept in der Anwendung für Soziale Arbeit. Und es trägt etwas zur Entwicklung einer eigenen professionellen Fachlichkeit bei.