Systemische Aspekte des Fußballs - Oliver Kahn

Ich schaffs!, das Programm des bekannten finnischen Psychiaters und Psychotherapeuten Ben Furman, hat weltweit Verbreitung gefunden. War es zuerst für Kinder und Jugendliche entwickelt worden, so findet es inzwischen auch bei der Arbeit mit Erwachsenen Anwendung und macht mittlerweile auch als „Ich schaffs!“ in der Schule Karriere.


Kein Geringerer als Oliver Kahn, der Titan im Fußballtor, hat sich dieses Programms angenommen und, gemeinsam mit Thomas Hegemann, u. a. in Schulen für Kinder und Jugendliche über das Beispiel seiner eigenen Karriere die Kernkompetenzen von „Ich schaffs!“ illustriert und nachvollziehbar gemacht.


Für das besondere Buch Vor dem Spiel ist nach dem Spiel. Systemische Aspekte des Fußballs hat Oliver Kahn ausführlich von Thomas Hegemann, der „Ich schaffs!“ in Deutschland bekannt machte, interviewt. Oliver Kahns Ausführungen geben tiefe Einblicke in das Selbstbewusstsein eines Fußball-Stars, der ja nicht als solcher geboren wurde, und in das große Potenzial eines lösungs- und ressourcenorientierten Ansatzes, der auch in der Tradition von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg steht. Ein Potenzial, das weit über den Bereich der Anwendung in Psychotherapie und Beratung hinausreicht, wie man an Olivers Kahns Erzählungen gut ablesen kann. Vielleicht lernt ja gerade derzeit ein junger Mensch Ich schaffs! kennen und befindet sich auf dem Weg, ein:e Titan:in zu werden wie Oliver Kahn oder Nadine Angerer, ein:e Nobelpreisträger:in wie Herta Müller oder Bob Dylan, oder schlicht und einfach so: ein selbstbewusster, glücklicher Mensch?


Hier das spannende und inspirierende Gespräch zwischen Thomas Hegemann und Oliver Kahn aus Vor dem Spiel ist nach dem Spiel in unserer Serie zu den systemischen Aspekten des Fußballs.


Fußball als angewandte Lösungsorientierung


Oliver Kahn im Gespräch mit Thomas Hegemann


Im Rahmen seines Abschiedsspiels als Profifußballer stellte sich der langjährige Nationaltorwart Oliver Kahn zehn Amateurschützen. Für jeden gehaltenen Schuss lobte ein Sponsor 100.000 Euro zugunsten sozialer Einrichtungen aus. Der mehrfache Welttorhüter hielt fünf Bälle. Mit einem Teil dieser Spende wurde die »Ich schaff’s Tour mit Oliver Kahn – eine Initiative von easy living mit dem Deutschen Kinderschutzbund« realisiert. Oliver Kahns erklärtes Ziel ist es, Jugendlichen im Alter zwischen 11 und 16 Jahren zu vermitteln, dass sich Einsatz und Engagement lohnen. Bei seinen Besuchen in 12 bayerischen Schulen, die für das Motivationsprogramm »Ich schaff’s« ausgewählt wurden, setzt er seine Rolle als Vorbild gezielt ein, wenn er an Beispielen beschreibt, warum Lernen sich lohnt und wie auch schwierige Situationen im Leben gemeistert werden können. Im folgenden Gespräch mit Thomas Hegemann schildert Oliver Kahn seine Erfahrungen mit Lösungsorientierung und Motivation.


T. Hegemann Lieber Oliver Kahn, noch einmal vielen Dank, dass Sie sich so für lösungsorientiertes Motivieren einsetzen. Jetzt haben wir ja schon einige Schulbesuche hinter uns, wo wir mit vielen Schülern ins Gespräch gekommen sind. Auch wenn wir aus verschiedenen Welten kommen, so lernen wir doch gut voneinander und miteinander, wie wir so ein öffentliches Gespräch zu Lösungsorientierung und Motivation gut führen können. Ich hab auch den Eindruck, wir werden immer eingespielter und damit besser. Wir bekommen viel Zustimmung, und die Lehrer berichten, dass sie mit Methoden einer gezielt lösungsorientierten Gesprächsführung jetzt leichter auch »schwierige« Schüler motivieren können. Aus unseren Gesprächen weiß ich, dass Sie in einer Reihe von Ländern auch sonst viel mit Jugendlichen ins Gespräch kommen. Was ist denn Ihre eigene Motivation, sich hier zu engagieren?


O. Kahn Im Laufe meiner langen Karriere habe ich viele junge Menschen getroffen, die vielfältige Dinge von mir wissen wollten: »Wie wird man so ein guter Torhüter?«; »Wie lange und wie viel muss man trainieren?«; »Wie kann ich mein eigenes Ziel erreichen?«; »Wie werde ich mit Schwierigkeiten fertig?«; »Welche Fähigkeiten braucht man, um etwas zu erreichen?«. In diesen Gesprächen musste ich aber leider auch feststellen, dass es eine Menge junger Menschen gibt, die keine vernünftigen Ziele oder auch zu viele Ziele haben und die nicht so richtig wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Auf meine Frage: »Was möchtest du denn mal werden?«, höre ich oft: »Ich weiß es nicht«; »Das lasse ich auf mich zukommen«; »Ich versuche es mal mit dem einen oder anderen Studium oder dieser oder einer anderen Ausbildung«. Am meisten erschütterte mich eine Antwort wie: »Ich möchte Hartz-IV-Empfänger werden, dann muss ich nicht arbeiten.« Das sind keine guten Voraussetzungen, um erfolgreich zu werden. Ich bin fest davon überzeugt und habe es persönlich erlebt, dass es lohnt, sich Ziele zu setzen, sie mit Zuversicht und vor allem mit Spaß hartnäckig und langfristig zu verfolgen, auch wenn man nicht das Megatalent ist oder in der Schule nicht die besten Noten schreibt. Auch wenn man mir das heute nicht mehr so recht glaubt: Ich war nicht so das besondere Talent. Da gab es in meiner Jugend sicher Begabtere. Aber ich hatte einen starken Willen und wusste, was ich wollte.


T. Hegemann Unser Programm geht ja von wenigen Grundannahmen aus: Lernen gelingt leichter mit Zuversicht! Lernen gelingt leichter mit Spaß und Freude! Lernen gelingt leichter gemeinsam mit anderen! Am ehesten kann man das ja an Menschen beobachten, die gut lernen. Damit sind nicht die gemeint, die leicht lernen, sondern es geht um die, die erfolgreich lernen. In Ihrem Buch haben Sie einige wesentlichen Erkenntnisse zusammengefasst, wie Lernen für Sie abgelaufen ist. Können Sie uns die wichtigsten nennen?


O. Kahn Wir alle brauchen einen großen Traum, der uns antreibt und unserem Leben einen Sinn gibt. Wir können diesem Traum näher kommen, indem wir uns viele kleine Zwischenziele setzen. Auf dem Weg zu unserem Ziel werden wir immer wieder Menschen begegnen, die vielleicht etwas besser oder talentierter sind als wir. Man muss aber nicht immer der Beste sein, um Ziele erreichen zu können, sondern vor allem der Hartnäckigste. Ich meine, es kommt nicht unbedingt darauf an, wie gut du etwas kannst, sondern wie sehr du es willst.


T. Hegemann In unseren Präsentationen in den Schulen beginnen wir ja immer mit dem gleichen ersten Schritt. Da geht es darum, das Leben als eine Reise zu sehen. Zu jedem Zeitpunkt können wir uns fragen, was wir im Laufe des Lebens schon geschafft haben, was uns gelungen ist, wie wir das gemacht haben und wer uns geholfen hat. Dann gilt es nach vorn zu schauen und uns Gedanken darüber zu machen, wo wir hin wollen, wie für uns ein gutes Leben ausschaut und was unsere Visionen dazu sind. Wenn Sie zurückschauen auf Ihre Kinder- und Schülerzeit – was waren da Ihre Visionen und Träume?


O. Kahn »Vision« hört sich für viele Menschen erst einmal irgendwie komisch an. So wie etwas aus dem Fernsehen oder wie etwas Verrücktes. Ist es aber nicht. Für mich ist eine Vision so was wie ein Überziel oder ein ganz großer Traum, den man ganz für sich selbst hat. Als ich sehr jung war, hatte ich diese Vision: Ich wollte einmal in einem Fußballstadion vor Tausenden von Menschen auf dem Platz stehen und ein wirklich guter Torhüter werden. So eine Vision gibt einem dann die Kraft, auch die Hindernisse, Widerstände und Niederlagen zu meistern, die es auf jedem Weg gibt. Damals, als ich so ungefähr acht oder neun Jahre alt war, war die-se Vorstellung noch ganz weit weg, aber es war mein großer Traum. Und es gab damals bestimmt viele, die besser waren und mehr Talent hatten. Mir war das egal. Meine Vision, mein Traum war so stark, dass ich nur den Mut aufbringen musste, ihm zu folgen. In der Begegnung mit jungen Menschen möchte ich diese Erfahrung weitergeben. Es ist wichtig, sich zu fragen: »Was ist mein Traum? Was ist meine Vision?« Eine Vision muss auch nicht immer für Außenstehende nachvollziehbar sein. Sie kann auch ein wenig schräg sein. Wichtig ist vor allem, dass sie motiviert. Ich nenne den Schülern dann Beispiele für Visionen: »Ich möchte einen guten Schulabschluss machen!«; »Ich möchte viele Freunde haben!«; »Ich möchte das beste Sport-Abitur machen!«; »Ich möchte einmal einen ganz bestimmten Beruf ausüben!« Manche sagen dann: »Solche Ideen hab ich nicht.« Ich glaub das erst mal nicht und sage das den Jugendlichen auch so. Es gibt immer was, was einem gefällt, was Spaß macht, was man gerne tut oder gerne tun würde. Wichtig ist dabei, auf die Dinge des Lebens zu schauen, die gut gelingen oder die besser gelingen könnten. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Menschen – leider auch junge – sich eher damit beschäftigen, was alles gerade nicht funktioniert. Ich habe als Junge oft eine innere Zeitreise in die Zukunft gemacht. Dann habe ich mir vorgestellt, wie schön das sein wird, wenn ich tatsächlich einmal Profifußballer bin und die Menschen mir zujubeln, wie ich tolle Paraden zeigen werde und glänzende Pokale in die Höhe stemmen kann. Für mich hat es sich immer gelohnt, Visionen zu haben, und ich versuche, diese Erfahrung so gut ich kann weiterzugeben.


T. Hegemann Visionen sind ja schön und gut und geben Orientierung. Aber dabei kann es ja nicht bleiben.


O. Kahn Wenn wir einen Traum, eine Vision, also praktisch ein Endziel im Kopf haben, sollten wir uns anschließend die Frage stellen, wie wir diesem großen Traum näher kommen können. Das geht, indem wir uns Zwischenziele setzen, die nicht zu tief angesetzt sind, aber auch nicht so weit weg sind, dass wir sie nur sehr schwer erreichen können. Denn das Wichtigste am Zielesetzen ist, dass wir sie auch erreichen können, und das gibt uns etwas ganz Wichtiges: Selbstvertrauen, Spaß und eine Menge Befriedigung, wenn wir an einem Teilziel angekommen sind. Das kann man als Zielsetzungskette beschreiben. In meinem Fall sah die so aus:


• den Sprung von den Jugendmannschaften zu den Amateuren schaffen
• von den Amateuren zu den Profis kommen
• einmal ein Bundesligaspiel machen
• Stammtorhüter beim KSC werden
• zu den Bayern wechseln
• vielleicht sogar einmal der beste Torhüter der Welt werden und so weiter.


Schritt für Schritt habe ich also die Ziele neu definiert und mich langsam immer weiter nach oben gearbeitet.


Ich werde auch gefragt: Gibt es eigentlich unerreichbare Ziele?


Die gibt es, denn alle Ziele, die nicht zu einem passen, sind unerreichbar. Für mich wäre es sicherlich ein unerreichbares Ziel gewesen, wenn ich Torschützenkönig der Bundesliga hätte werden wollen. Es gibt also unerreichbare Ziele, aber keine zu großen Ziele. Sie müssen nur zu dem passen, was man wirklich kann oder können will. Große Ziele müssen dann in viele kleine Ziele aufgeteilt werden.


T. Hegemann Es ist für mich immer beeindruckend, dass auch die meisten Schüler der von uns besuchten Schulen, Mädchen und Jungen gleich welchen Alters, durchaus Visionen haben. Manchmal habe ich den Eindruck, dass man nur eine gute Atmosphäre schaffen muss, sodass sie sich trauen, diese Ideen auszusprechen. Wir hören von beruflichen Visionen, familiären Visionen, Träumen von sportlichen und künstlerischen Karrieren. Bedrückend ist aber auch immer wieder zu hören, dass junge Menschen keine Visionen haben oder solche, die weit unter ihren Möglichkeiten liegen. Daher fragen wir immer wieder auch danach, warum das Verfolgen von Visionen sich lohnt. Eine Fußballkarriere erfordert ja Einsatz und Opfer. Was waren Ihre Ideen, warum sich das alles lohnt?


O. Kahn Was bringt das eigentlich alles, diese ganzen Anstrengungen auf sich zu nehmen, Ziele hartnäckig zu verfolgen und dafür auch eine Menge Entbehrungen in Kauf zu nehmen? Eine berechtigte Frage, die sich viele stellen. Man muss eine Menge Disziplin aufbringen, und es kann ganz schön mühsam sein, die Fähigkeiten zu erlernen, die man für seine Ziele braucht. Bei mir hieß das, jeden Tag nach der Schule bei Wind und Wetter ins Training, auch wenn ich gerade mal keine Lust hatte. Warum also diese Mühen auf sich nehmen? Es bringt vor allem eine gute Zukunft und die Wertschätzung anderer Menschen! Ganz abgesehen von einer Menge Spaß, Zufriedenheit, Belohnung – in welcher Form auch immer. Es gibt Selbstvertrauen, Lebenserfahrung und vor allem auch Kontakte mit vielen anderen Menschen. Diese Faktoren haben mich immer motiviert, und es entsteht ein inneres Feuer, das in uns brennt. Ein Feuer, das nie erlöschen kann. Nun hatte ich das besondere Glück, mein Hobby später zum Beruf machen zu können und das tun zu dürfen, was ich schon als kleiner Junge mit Leidenschaft und Begeisterung getan habe: Torhüter sein. Es machte mir einfach immer wieder saumäßig Spaß, mich nach dem Ball in den Matsch zu werfen. Wer weiß, vielleicht bin ich deshalb so lange Torhüter geblieben. Es lässt sich nie vorhersagen, wie lange Begeisterung und Leidenschaft für eine Sache tatsächlich anhalten, ob nur einen Lebensabschnitt lang, ein Berufsleben lang oder ein ganzes Leben. Da verhält es sich genauso wie mit der Liebe: Keiner weiß, wie lange sie halten wird. Trotzdem – wenn wir schon bei der Liebe sind: Das Wichtigste ist, dass wir lieben, was wir tun. Ob das bei Jugendlichen unbedingt die Schule sein muss, weiß ich nicht so genau. Ich sehe sie im günstigen Fall eher als eine Vorbereitung auf das, was die Jugendlichen später einmal werden oder sein wollen. Für die Aussicht, Wertschätzung und eine gute Zukunft zu erfahren, lohnt es sich einfach, topmotiviert seine Ziele zu verfolgen.


T. Hegemann Selbstgewählte Schritte haben ja die größte Chance realisiert zu werden. Diese Schritte sollten überschaubar und machbar sein. Sie sind ja nicht gleich Welttorhüter geworden. Auch in Ihrer Karriere konnte der Erfolg nur über kleine Schritte umgesetzt werden. Was waren Ihre ersten Schritte?


O. Kahn Wenn wir eine Vision oder ein Ziel haben, dann liegt das ja noch alles in der Ferne, also in der Zukunft. Aber es nützt uns nichts, wenn wir immer nur davon reden, was wir erreichen wollen. Irgendwann müssen wir auch wirklich loslegen, wir müssen handeln. Das heißt nicht unbedingt, dass wir gleich die ganze Welt einreißen müssen. Manchmal genügt auch ein erster kleiner Schritt, der alles in Gang setzt, denn auch mehrere kleine Schritte können zum Ziel führen.


Als junger Torhüter hatte ich immer Probleme, mich ins linke Eck zu werfen. Da war ich technisch einfach zu schwach. Meine Trainer haben mir gesagt, ich müsste mich dort verbessern. Also habe ich angefangen, mich Schritt für Schritt durch gezieltes Training zu verbessern. Ich hatte also immer eine konkrete Vorstellung von dem, was ich machen könnte, um besser zu werden. Zum Beispiel habe ich trainiert, über Hürden zu springen. Die besten Vorsätze und schlauen Erkenntnisse haben wenig Sinn, wenn wir nicht irgendwann versuchen, den ersten Schritt zu machen, also handeln. Ich kenne eine Menge Leute, die mir erzählen: »Hätte ich damals nur das und das gemacht« oder »Ich hatte mal eine super Idee, hab sie aber nie umgesetzt, ich hätte es wenigstens versuchen sollen«. Das ist das Entscheidende: dass wir es versuchen, auch wenn es vielleicht anfangs unmöglich erscheint. Versuchen und Scheitern ist keine Schande. Ich erzähle da immer von dem Erfinder Thomas Edison. Ich kann ja nicht immer nur über Fußball reden. Dann frage ich die Schüler, was sie glauben, wie viele Versuche der wohl brauchte, bis er es schließlich fertigbrachte, die Glühbirne zum Leuchten zu bringen? Unzählige. Wenn erst einmal der erste Schritt gemacht ist, kommen die anderen meist viel leichter hinterher.


T. Hegemann Wir leben ja nicht alleine auf der Welt. Gerade Fußball ist ja ein Sport, in dem nur die Zusammenarbeit vieler den Erfolg verspricht. Gemeinsam mit anderen lernt es sich einfach leichter. Wir möchten daher Jugendliche ermutigen, sich frühzeitig Helfer zu suchen und Unterstützungsnetze aufzubauen. Diese können die Zeit der Schule überdauern und auch dann noch Bestand haben, wenn Lehrer und andere Betreuer nicht mehr da sind. Wir ermutigen daher alle Jugendlichen, sich möglichst Helfer aus verschiedenen Bereichen des Lebens zu suchen. Man kann Helfer gebrauchen, die gute Tipps geben, die aufrütteln und antreiben, die in schweren Zeiten trösten und beruhigen. Auch Sie beschreiben ja in Ihrem Buch und in Interviews ganz unterschiedliche Helfer, die Sie in Ihrer Karriere begleitet haben. Können Sie uns einige Beispiele nennen?


O. Kahn Wenn Jugendliche ganz alleine auf sich gestellt sind, wird es schwierig mit dem Erfolg. Jeder Mensch braucht ein »Umfeld«, in dem es möglich wird, Unterstützung zu erfahren. Auch wenn man es auf den ersten Blick noch nicht hat, kann man Schritte unternehmen, es sich zu schaffen. Schwierige Aufgaben lassen sich eben am besten lösen, wenn andere helfen. Ich ermutige bei meinen Schulbesuchen die Schüler, ein »Dreamteam« um sich herum zu schaffen, das ihnen Stabilität gibt und sie in dem, was sie vorhaben, bestärkt. Es ist aber nicht immer leicht, Menschen zu finden, die einem in schwierigen Situationen wirklich beistehen, einen aufrichten, einem auch mal ehrlich die Meinung sagen oder die sich mit einem über Erfolge freuen. Es gilt sich zu fragen: Was können das für Menschen sein? Wo können sie herkommen? Das können Menschen sein, die uns fordern, die unbequem sind, weil sie Unbequemes sagen, das uns nachdenklich werden lässt, die uns konfrontieren, uns zwingen, etwas anzuschauen, das wir nicht sehen konnten oder wollten, die uns in Niederlagen trösten und wieder aufrichten. Das können Familienmitglieder sein, Mitschüler, Kameraden, der Freund, die Freundin, die Clique, aber auch Lehrer, Trainer oder andere Erwachsene, denen man vertraut. Richtige Vorbilder können ebenso tolle »imaginäre« Helfer sein. Bei mir war das neben meiner Familie vor allem ein Freund, den ich beim Fitnesstraining kennengelernt hatte und der mir durch seine eigene Disziplin immer wieder vorgelebt hat, wie man am Ball bleibt. Wir haben uns gegenseitig hochgeschaukelt und uns in vielen Situationen geholfen. Vor einer Sache warne ich die Schüler aber auch: So wichtig ein gutes Umfeld für einen Menschen sein kann, so zerstörerisch ist ein falsches Umfeld; falsche Freunde, in deren Umfeld nur Neid, Missgunst oder Eifersüchteleien herrschen. Ich brauch da nicht viel zu erzählen. Die Schüler wissen sofort, was ich meine. Auch Cliquen, deren einzige Beschäftigung darin besteht, Blödsinn zu machen, Saufgelage zu veranstalten oder mit Drogen rumzumachen. So ein Umfeld hat schon die größten Talente in den Abgrund gerissen. Solche Umfelder erkennt man ganz einfach daran, dass sie nicht guttun. Ich möchte junge Menschen ermutigen, darauf zu achten, wie enorm wichtig ein gutes, intaktes Umfeld für unser Leben und unsere Ziele ist.


T. Hegemann Nun ist Lernen ja nicht ein linearer Prozess auf einer geraden, glatten Straße. Rückschläge und Niederlagen gehören zum Leben – überall. Wo könnte man das besser beobachten als im Fußball?! Auch Ihre Karriere bestand ja nicht nur aus Siegen. Mehrere Ihrer Niederlagen konnten die Fernsehzuschauer ja unmittelbar mitverfolgen. Wie haben Sie sich auf Niederlagen vorbereitet, und was hat Ihnen in solchen Situationen geholfen?


O. Kahn Die wichtigste Eigenschaft, die man braucht, um an Ziele zu kommen, ist in meinen Augen die Fähigkeit, Niederlagen und Frustration zu verkraften. Viele denken über mich: Der hat gut reden, der war bestimmt ein Supertalent. Dann erzähle ich davon, was mir auf meinem Weg als junger Kerl so alles passiert ist:


• Mit 15 schied ich aus der Kreisauswahl Karlsruhe aus, weil ich zu klein und körperlich zu schwach war.
• Mit 16 wurde ich in die B3-Jugend versetzt, weil in der B1 jemand besser war.
• Mit 17 spielte ich in der A2-Jugend, weil ich für die A1 nicht gut genug war.
• In meinem ersten Bundesliga-Spiel habe ich 4 Tore kassiert. Und so weiter.


Aber auch in meiner späteren Karriere gab es eine ganze Menge an großen Niederlagen und Rückschlägen zu verkraften. Ich kann da nur auf das Champions-League-Finale 1999, die WM-Niederlage 2002 oder auf meine Rolle während der WM 2006 verweisen.


Wenn ich eines in meiner Karriere gelernt habe, dann das, dass kein Ziel sich erreichen lässt, ohne dass wir dabei mit Niederlagen konfrontiert werden. Alle Jugendlichen werden lernen müssen, dass dies Teil des Lernens und Lebens ist. Der erste Gedanke, der einem bei solchen Niederlagen oder Rückschlägen kommt, ist: »Aufhören!« Aber was wäre gewesen, wenn ich aufgehört hätte, nur weil ich keine Niederlagen mehr ertragen wollte?


• Wäre ich dann Fußballprofi geworden?
• Wäre ich dann zum FC Bayern gekommen?
• Wäre ich Deutscher Meister geworden?
• Wäre ich Champions-League-Sieger geworden?


Nein! Jetzt gilt es sich zu fragen: Welches sind denn die Fähigkeiten, die uns helfen, mit Niederlagen fertig zu werden, und kann man vielleicht sogar Niederlagen in Siege verwandeln?


Für mich hat sich bewährt:


• Sich selbst eine Niederlage eingestehen und nicht andere verantwortlich machen.
• Richtige Schlüsse ziehen: Jede Niederlage möchte mir etwas mitteilen, mich auf etwas aufmerksam machen. Vielleicht ist mein Weg nicht richtig. Kleinere Schritte wählen.
• Weitermachen, aufstehen und wieder loslegen. »Immer weiter«, niemals aufgeben, sich selbst ermutigen.
• Helfer einbeziehen und um Hilfe bitten.


Mit dem Wissen, dass ich Niederlagen als etwas Positives begreifen kann, als etwas, aus dem ich lernen kann, und vor allem, dass Scheitern ein Teil unseres Lebens ist, kann ich in Zukunft auch so etwas wie Coolness oder Gelassenheit im Umgang mit Niederlagen entwickeln, sie abhaken und weitermachen. Jede Niederlage, die wir überwunden haben, indem wir wieder aufgestanden sind, gibt uns unendlich viel Kraft und macht uns stärker und robuster als wir vorher waren.


T. Hegemann Genauso wie es sich lohnt, sich auf Rückschläge und Niederlagen vorzubereiten, ist es wichtig, sich über Erfolge zu freuen. Feiern gibt Auftrieb und Verbundenheit mit allen, die mitgeholfen haben. Was geben Sie den Jugendlichen zu diesem Thema mit?


O. Kahn Dank an unsere Helfer auszusprechen ist mit das Wichtigste überhaupt. Denn keinen Erfolg haben wir nur uns selbst zu verdanken. Und danach richtig feiern. Am besten mit allen anderen zusammen. Ich habe nach jedem gewonnenen Titel mit der Mannschaft gefeiert.