Es gibt nie zu viele gute Manuskripte

Francesca Tommasi vom bso-journal hat Matthias Ohler, Geschäftsleiter des Carl-Auer Verlags, und Torsten Groth, selbstständiger Berater, Autor und Herausgeber der Reihe «Management und Organisationsberatung» im Carl-Auer Verlag, interviewt zu Fragen der Auswahl, Bedeutung und Publikation guter Fachliteratur.


Mit freundlicher Genehmigung des bso-journals bringen wir hier das Interview auch im Carl-Auer Magazin.


Der Carl-Auer Verlag nennt sich Fachverlag für systemische Therapie, Beratung und systemisches Management. Nun gibt es eine unglaubliche Fülle von Ratgeber-Publikationen. Was, denken Sie, macht dieses Genre so beliebt?


Groth: Ich kann hier eine grundsätzliche soziologische Antwort geben: Über die Zeit sind Autoritäten brüchiger geworden, es gibt kaum mehr Stützpfeiler, keine natürlichen Ratgeber, sei es in der Familie oder im Betrieb, die man um Rat fragt bzw. die erklären können, «wie man es macht». Dies ist der Preis der Individualisierung: weniger Autoritäten und mehr Kontingenzerfahrung, also ein Wissen, man könnte alles auch immer anders machen. So suchen wir oft nach Beratungsbüchern mit der Idee, eine Vorgabe fürs Leben zu finden.


Ohler: Dem kann ich zustimmen. Ich nehme in diesem Feld einen extremen Gewissheitsanspruch wahr.


Die Fülle an Büchern bedeutet sicher auch, dass Sie eine Fülle an Manuskripten haben. Wie gehen Sie bei der Auswahl vor?


Groth: Da stellt sich erstmal die Frage, ob wir auf den Markt schauen oder auf Autoren und Autorinnen, die ein Manuskript anbieten. Vom Markt her gesehen muss man Lücken aufspüren, also Diskrepanzen zwischen dem, was aktuell und zukünftig nachgefragt wird und dem, was es dazu am Markt schon an Büchern gibt. Vom Autor her gesehen: Es gibt nie zu viele gute Manuskripte. Es gibt ja viele ambitionierte Berater und Beraterinnen, die aus Optimismus heraus denken, sie seien – weil sie zweifellos gute Beratende sind – auch gute Autoren und Autorinnen. Ich denke, häufig schreiben sie für ihre Selbstvergewisserung. Man merkt diesen Büchern an, dass die Beratenden sich ein Thema angeeignet haben und, um diesen Prozess zu unterstützen, ein Buch daraus gemacht haben. Als Verlag muss man sich dann fragen, ob das auch andere brauchen?


Ohler: Dieses Ansinnen, ein Buch für sich zu schreiben, ist ja grundsätzlich sehr sinnvoll. Fritz Simon sagt: Wer nicht schreibt, denkt schlampig. Nur: Es braucht zuerst eine gute Auswahl und dann braucht es ein sehr gutes, geduldiges und mutiges Lektorat.


Wie treffen Sie diese gute Auswahl? Oder anders gefragt: Wie machen Sie Qualität fest?


Ohler: Read Friday use Monday. Gute Qualität erweist sich daran, ob man am nächsten Freitag wieder ins Buch reinschaut. Zudem ist unser Anspruch, ein gewisses Theorieniveau nicht zu unterfliegen. Mit unserer Fachkompetenz merken wir, ob die Theorieidee stimmig ist. Gleichzeitig ist ein Praxis- und Erfahrungsbezug unabdingbar. Nach meiner Erfahrung wird echte, professionelle Erfahrung aus dem Text heraus sichtbar. Dabei ist klar, dass dies eine Gewissheit in der Vorläufigkeit ist.


Groth: Wenn Sie mich nach Qualität fragen und ich Bewertungskriterien aufstellen muss, dann würde ich sagen, der Text braucht eine zweite Ebene, die sich nicht im ersten Moment erschliesst. Bücher, die auch bei der zweiten oder dritten Lektüre noch Neues liefern, das sind die idealen Ratgeberbücher. Nicht zufällig lesen wir immer wieder gerne Klassiker der Beratungsliteratur – da entdecken wir immer wieder neue Zusammenhänge.


Ohler: Man sollte nicht unterschätzen, wie wichtig gute Theoriebücher sind. Es lohnt sich immer, sich damit zu beschäftigen, es lohnt sich aber, darüber in den Austausch zu gehen und die Praxis zu befragen. In der Praxis merkt man dann, was Relevanz hat.


Groth: Ich persönlich mag die Aufzählbücher nicht, die Bücher die nach dem Schema «ein Tool und noch ein Tool» funktionieren. Diese «Tooligens» machen am meisten Lärm und haben wenig Tiefgang. Ich erachte die Bücher als qualitativ hochstehend, denen es gelingt, um zentrale Themen zu kreisen. Diese zentrale Idee sollte so reich sein, dass sie auf verschiedene Weise bearbeitet werden kann, wie z.B. die «Prozesse des Organisierens» von Karl Weick oder die «Rahmenanalyse» von Erving Goffman. Da haben Personen bestimmte Ideen, die wichtig sind. Ich frage mich also, wo grosse Bücher mit zentralen Ideen sind, die immer weiterentwickelt werden können.


Wird in Ihren Herausgebergremien häufig über die Auswahl der Titel gestritten?


Ohler: Es wird schon zum Teil unterschiedlich eingeschätzt; auch die Wahrnehmung, was die Leserschaft braucht, kann voneinander abweichen. Wir fragen uns immer wieder, ob eine «neue» Theorie lange hält und wieso sie so attraktiv ist. Dabei schauen wir nach vorne. Wenn wir uns mit einem Titel auseinandersetzen, ist das für uns aber sehr hilfreich. Wir gehen davon aus, dass wir die Diskussionen führen, die der Markt nachher auch führt. Manchmal braucht es schliesslich auch Mut zur Entscheidung.


Warum Mut?


Ohler: Es gibt immer ein betriebswirtschaftliches Risiko. Wir müssen also verschiedene Kriterien beachten, das gibt tägliche Diskussionen, die man immer irgendwann entscheiden muss. Verlage müssen eine Mischform bringen und nicht nur Trends setzen. Wir wollen ja auch ein verlässlicher Fachverlag sein. Dazu müssen wir mit kollektiver Achtsamkeit eine gemeinsame Marktsensibilität in den Raum bringen.


Wie machen Sie das?


Ohler: Ganz wichtig sind die Diskussion über Bücher, die Auseinandersetzung und der Abgleich mit unseren Qualitätskriterien. Wir schauen, wie andere Bücher rezipiert werden. Dann sind auch Empfehlungen zentral. Wir informieren uns über Veranstaltungen, Weiterbildungen und Kongresse darüber, was läuft. Es ist wichtig, neue Gebiete zu betreten und neue Diskussionen zu führen. Und wir organisieren über die Carl-Auer Akademie selbst Weiterbildungen, Tagungen und Kongresse. Motto: Unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlicher machen.


Wie steuern Sie die eigenen Vorlieben und Affinitäten? Viele von Ihnen publizieren ja auch selber Bücher auf diesem Feld?


Groth: Da appellieren wir an unsere eigene Liberalität bzw. an unseren Qualitätsanspruch und daran, Unterschiede auszuhalten. Wir müssen ja nicht alles in dem Sinne gut finden, dass es uns entspricht, sondern es soll die oben diskutierte Qualität aufweisen. Niklas Luhmann war sicher kein Freund der Theorie von Jürgen Habermas, dennoch konnte er anerkennen: Habermas beginnt zwar grundsätzlich falsch, aber danach ist es richtig gut. Beide haben im Übrigen im selben Verlag publiziert.


Was macht Ihnen am meisten Spass bei Ihrer Verlagsarbeit?


Groth: Am meisten Spass machen mir Buchprojekte, in denen man von früh an beteiligt ist, schon von der ersten Skizze inspiriert ist, einen guten Austausch mit den Autorinnen und Autoren hat und dann gemeinsam auf das gedruckte Buch anstossen kann.


Ohler: Auch wenn es merkwürdig klingen mag: Der Prozess von der Sondierung über die Auseinandersetzung bis zur Entscheidung, was veröffentlicht werden kann. Und die Arbeit daran, es bekannt zu machen, vor dem Erscheinen und danach. Dann macht es, wie Torsten schon sagte, umso mehr Spass, auf das fertige Produkt und auf seine Zukunft miteinander anzustossen.