Lebendig Erinnern

Liebe Freund:innen des Wilden Webens,
diesmal teilen wir hier ein Stück erinnerte Zeitgeschichte. Unsere aus Redaktionskollegin Dr. Vera Schmiedel hat mehreren Menschen aus ihrem Umfeld die Frage gestellt: Was bedeutet für Dich: „Lebendig in/mit einer lebendigen Welt“? Hier die lesenswerte – vor dem gegenwärtigen Kriegsgeschehen noch «lebendigere» Antwort von Klaus Schürger:


Bei der Frage, wie meine Lebensweise und Lebenseinstellung durch die lebendige Welt um mich herum geprägt wurden, fiel mir sofort meine Kindheit ein, weil sie vielleicht der Lebensabschnitt war, der mich am meisten geprägt hat. Sie reichte bis zum 12. Lebensjahr.
Die “lebendige Welt” war ein kleines Dorf mit 300 Einwohnern, ich lebte da mit Mutter und älterer Schwester. Mein Vater war zu Beginn des Krieges im Jahr meiner Geburt eingezogen worden und fiel, als ich vier Jahre alt war. Ich habe ihn kaum kennengelernt. Er war der Lehrer im Dorf gewesen, und wir wohnten in einem großen Schulhaus.
Die Menschen in diesem Dorf waren fast durchweg Bauern, von denen manche noch einen Nebenerwerb hatten. Einer betrieb die Poststelle mit dem einzigen Telefon im Dorf, ein anderer hatte eine Dreschmaschine und drosch im Herbst das geerntete Getreide für alle, dann gab es noch die Milchsammelstelle, wo die gemolkene Milch abgeliefert wurde und wir Milch kaufen konnten. Ein kleiner Kolonialwarenladen versorgte uns mit dem, was wir nicht selbst herstellen oder anbauen konnten. Traktoren gab es nur wenige, die Wagen und landwirtschaftlichen Geräte wurden von Pferden und Kühen gezogen. Am Fluss stand eine Mühle mit einem wassergetriebenen Mühlrad und versorgte das Dorf mit Mehl. In einer Kelter wurde im Herbst die Apfel- und Weinernte zu Saft verarbeitet, aus dem die Bauern ihren Most und Wein herstellten. Mitten im Dorf stand ein Backhaus, in dem man in einem großen Backofen, den man mit Holz befeuerte, Brot backen konnte. Ein Schmied beschlug die Pferde und reparierte Pflüge und Wagen. Im Untergeschoss des Schulhauses waren zwei Bäder, die der Dorfgemeinschaft an den Wochenenden zur Verfügung standen. All diese Gemeinschaftsinstitutionen prägten das Dorfleben und das Miteinander der Menschen.
Wenn der Bürgermeister etwas zu verkünden hatte, ging der Büttel durchs Dorf. Er hatte eine Glocke, läutete, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und las dann die Neuigkeiten mit lauter, singender Stimme vor.


Die Hauptverbindung zur Außenwelt besorgte eine Schmalspur-Dampfeisenbahn, die zur nächsten Stadt führte. Autos gab’s im Dorf nicht, lediglich ein paar Motorräder.
Das Dorf lag in einem lieblichen Flusstal, auf der einen Seite des Flusses steile Hänge, teilweise mit Reben bepflanzt, auf der anderen Seite flache Felder, dahinter ausgedehnte Wälder.
So stellte dieses Dorf in meiner Kindheit einen weitgehend autarken Lebensraum mit stark verflochtenen inneren Strukturen und Aktivitäten dar. Jeder kannte jeden, dadurch war jede Privatsphäre natürlich eingeschränkt. Im Alltag war das Dorf voller Leben, Fuhrwerke fuhren, Menschen gingen ihrer Arbeit nach, Kühe muhten, Hunde bellten, Hähne krähten, Sägen kreischten, aus der Schmiede erklangen Hammerschläge.
Die Außenwelt war, verglichen mit heutigen Verhältnissen, weit weg.
Das war meine lebendige Welt in den ersten 12 Jahren meines Lebens, ich war Teil einer funktionierenden Gemeinschaft, was mir als Kind natürlich nicht bewusst war. Jeder Tag barg Abenteuer, Glücksmomente oder Ängste. Ängste zum Beispiel, wenn ich einem Mann namens Schneider begegnete, da ich aus dem Struwwelpeter wusste, dass der Schneider daumen-lutschende Kinder mit der Schere jagte, oder nachdem im Winter beim Schlittenfahren meine Schwester mit mir auf dem Rücksitz einen älteren Mann auf die Hörner des Schlittens genommen hatte und ich auch Begegnungen mit diesem Mann eine Zeit lang möglichst vermied.
Abenteuerlich war, wenn im Frühling das Eis auf dem Fluss brach und wir uns auf den Eisschollen treiben ließen. Großes Glück empfand ich, wenn im Frühling ganze Wiesen voll Schlüsselblumen blühten und wir wieder barfuss gehen durften, oder wenn ich im Sommer bei der Ernte geholfen hatte und auf dem hoch beladenen Getreidewagen heimfahren durfte. Beim Baden im Fluss wurden wir immer vor den Schlingpflanzen gewarnt, die angeblich Kinder unter das Wasser zogen. Glücklich war ich im Herbst, wenn es Äpfel und Pflaumen im Überfluss gab und ich in der Kelter so viel Apfelsaft trinken durfte, wie ich wollte. Noch heute, wenn ich Apfelsaft trinke, sehe ich mich in dieser Kelter!
Ein Erlebnis war das Brotbacken im Backhaus, wenn im Ofen das Feuer brannte und die Glut vor dem Einschießen des Brotes auf den Boden geschoben wurde und wir mit den glühenden Ästen spielen konnten. Unvergessen ist mir der Geruch des frisch gebackenen Brotes.
Als Abenteuer empfanden wir, als gegen Kriegsende deutsche Soldaten die alte Steinbrücke über den Fluss sprengten und kurz danach amerikanische Soldaten auftauchten, unser Schulhaus besetzten und wir für ein paar Wochen bei befreundeten Bauern unterkommen mussten. Bei den Amerikanern konnte ich meine ersten englischen Sätze: “Do you have chocolate?” und “Do you have chewing gum?” erfolgreich anwenden.


Irgendwann bekam ich mit, dass ein Umzug aus unserem Dorf in die Geburtsstadt meiner Mutter kommen würde. Als ich 12 war, war es so weit, wir zogen in die noch weitgehend zerbombte Stadt um. Es war für mich eine Katastrophe, meine Welt, die vertrauten Menschen, meine Freunde, das Dorf mit der bäuerlichen Atmosphäre, mit seinen Wiesen, Feldern und Wäldern verlassen zu müssen. Ich habe lange gebraucht, damit fertig zu werden.


Ich bin heute überzeugt, dass das Leben in dieser einfachen, lebendigen dörflichen Welt mich stark geprägt hat. Ich habe gelernt, dass eine funktionierende Gemeinschaft für ein zufriedenes Leben notwendig ist, und dass nicht Luxus, sondern einfache Dinge glücklich machen.


Ich lernte auch jenes Glück kennen, das aus dem Erleben der Natur mit ihrer Schönheit entsteht und das ich später auf Reisen in vielen Ländern immer wieder verspüren konnte.


Klaus Schürger
Klaus Schürger

Geb: 1939, Der Kindheit auf dem Dorf folgten Jugendjahre am städtischen Gymnasium und ein Studium der Elektrotechnik in der Landeshauptstadt. Die berufliche Laufbahn begann in der Flugzeugentwicklung, gefolgt von vielen Jahren im technischen Bereich einer Fluggesellschaft, verbunden mit vielen Reisen auf der ganzen Welt. Auch nach der Berufszeit blieb Reisen mit dem Erleben der lebendigen Welt das bevorzugte Hobby.




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.