Alles bleibt wie es ist, weil es sich permanent verändert

Alles bleibt wie es ist, weil es sich permanent verändert


von Heiko Kleve


 


Die implizite Botschaft, die ich aus unserem heutigen Zwischenruf herauslese bzw. die ich hineindeute ist: Keep cool! Prof. Dr. Peter Pantuček-Eisenbacher beschreibt, dass es durchaus einen Schock gab. Dieser habe die Gesellschaft aber nicht zum Stoppen gebracht. Das Kommunizieren ging und geht weiter.


Jedoch sind reale Warenströme und Dienstleistungen sowie die regionale und globale Mobilität der Menschen ins Stocken geraten. Soziale Realräume, etwa die städtischen Plätze, Geschäfte, Kultureinrichtungen, viele Krankenhäuser sowie alle Schulen und Universitäten blieben leer und füllen sich erst seit wenigen Wochen wieder, langsam aber kontinuierlich. Das Anhalten der sozialen Betriebsamkeit scheint leichter zu gelingen, als das Wieder-Hochfahren der entsprechenden Prozesse in ihren materiellen Strukturen. Daher sollte die Frage erlaubt sein, ob denn überhaupt das Herunterfahren in der vollzogenen Form und Dauer notwendig war. Die kritische Reflexion der Lockdown-Maßnahmen ist mindestens das, was hätte beginnen müssen, als diese Interventionen beschlossen wurden.


Ich möchte also unseren heutigen Zwischenruf zum Anlass nehmen, um zu betonen, dass Coolness nur bedingt die passende Haltung ist, wenn es darum geht, solche maximal-invasiven Eingriffe in den Ablauf von realwirtschaftlichen Prozessen, von Kultur- und Bildungsstätten sowie von Einrichtungen des Gesundheitswesens durchzusetzen, die zwar die Kommunikation der Gesellschaft nicht zusammenbrechen lassen, aber eben deren physische und biologische Umwelt empfindlich und wohl sehr nachhaltig treffen. Denn an dieser realen Basis der Gesellschaftlichkeit hängen Leben, Existenzen, Gesunde und Kranke, Eltern und Kinder, auf pflegerische und andere unterstützende Fachkräfte angewiesene Menschen.


Somit nutze ich mein heutiges Intro, um unsere Protagonisten zu fragen, wie überhaupt ein Kommunikationsprozess aussehen könnte, in dem temporär notwendige Entscheidungen, wie die herrschende Politik und maßgebliche Teile der Wissenschaften den Lockdown bewerten, in passender Weise reflektiert werden könnten.


Und hier geht es jetzt nicht darum, das „Hätte-Hätte-Fahrradkette“-Spiel zu zelebrieren, sondern aus der Betrachtung der jüngsten Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Also, wie wäre es möglich gewesen, dass in der Lockdown-Phase unterschiedsgesättigte Kommunikationen in und zwischen den Systemen der Politik und der Wissenschaft vollzogen worden wären? Mit Blick auf die Zukunft: Wie müssten solche Kommunikationen formal organisiert werden, damit sie tatsächlich die soziale Intelligenz fördern und entsprechende Entscheidungen ermöglichen – Entscheidungen also, die eine Vielzahl von Perspektiven, eine Diversität von Kompetenzen integrieren? Wie sähen eigentlich Spielregeln aus, wenn es darum geht, innerhalb der Gesellschaft (vor allem in ihren unterschiedlichen Systemen und zwischen diesen) Diskurse anzuregen, die die soziale Klugheit fördern würden? Wie viel Inklusion diverser Stimmen ist hier möglich und notwendig, wie viel Exklusion unvermeidbar?


Auch wenn wir, wie Peter Pantuček-Eisenbacher schreibt, erst mit zeitlichem Abstand die jüngsten und aktuellen Ereignisse passender als derzeit bewerten können, scheint es mir notwendig, bereits jetzt ein Denken und Kommunizieren zu kultivieren, das die Kontingenz wieder ernsthaft einführt, die alle komplexen Prozesse kennzeichnet, zweifelsfrei auch eine Pandemie und die gesellschaftlichen Reaktionen darauf. Daher will ich diesen Diskurs damit anregen, an die systemische Minimalethik zu erinnern, die Peter Fuchs in Anlehnung an Heinz von Foerster äußerst knapp pointiert mit: „Steigere Alternativität!“


 


 


Die (Nicht-)Veränderung der Welt


von Peter Pantuček-Eisenbacher


 


Ich erinnere mich, eine Erzählung von Stanislaw Lem gelesen zu haben, in der immer mehr Dinge aus der Welt verschwinden, und zwar schubweise. Zuerst alle Dinge mit dem Anfangsbuchstaben A: Autos, Affen, Ampeln zum Beispiel. Dann alle mit dem Anfangsbuchstaben B: Bügeleisen, Bälle, Blumen und so weiter. Von Schritt zu Schritt wird die Welt ärmer. Aber schon nach dem ersten Tag ist es nicht mehr jene Welt, die sie zuvor gewesen war.


Die Pandemie und vor allem die Reaktion darauf veränderten die Welt auch vom ersten Tag an. Anders jedoch als in der Erzählung verschwanden keine Dinge, keine Tiere, keine Menschen. Es verschwanden Bewegungen, Interaktionen. Und der Prozess hat ein Ende, die Welt hat es nicht.


Nicht „die Wirtschaft“ begann zu stocken, sondern der Strom von Waren und die Produktion von Dienstleistungen stotterten, der gewöhnlich kontinuierliche Fluss von Geld wurde an einigen Punkten, beileibe nicht an allen, unterbrochen, was Folgewirkungen bei wirtschaftlichen und persönlichen Subjekten zur Folge hatte und hat. Einige Erscheinungsformen verschwanden temporär oder änderten sich, die grundlegende Mechanik von Wirtschaft und Gesellschaft blieb jedoch gleich.


Man könnte boshaft feststellen, dass Ereignisse in der physischen Welt in Erinnerung gebracht haben, dass die Kommunikation der Gesellschaft (oder die Gesellschaft als Kommunikationssystem) auf eine sehr komplexe Hardware aufsetzt, die ihrer eigenen Logik folgt. Das betrifft nicht nur die Verbreitung des Virus. So wurde zum Beispiel auch sichtbar, dass Staaten darauf beruhen, dass sie das Gewaltmonopol besitzen und darauf aufbauend die Regelsetzung und Regeldurchsetzung über ein Territorium und die darauf befindliche Bevölkerung ausüben – und dass es vorerst dazu keine Alternative gibt.


Die Politik machte das, was ihr Geschäft ist: Sie traf Entscheidungen und stellte Regeln auf. Nichts Neues also. Dass dadurch die Bewegungen von Menschen, Fahrzeugen und Waren beeinflusst wurden, war ebenfalls nicht neu. Ungewohnt war bloß die Schnelligkeit, mit der das passierte. Und ungewohnt war, dass vom ersten Moment an schwerwiegende Folgen der neuen Regeln sichtbar oder zumindest erahnbar waren, die jenes Klientel schwer treffen, das von den Regelsetzern normalerweise eher bevorzugt wird. Ob dies zu Recht geschah und geschieht, darüber wird nun gestritten, und zwar unter Einsatz schwerer Geschütze. Ob die Repräsentanten des politischen Systems sich durch erkenntnistheoretische Diskussionen beeindrucken lassen, mag allerdings bezweifelt werden. Sie agieren mit dem, was sie zur Verfügung haben, und sie entscheiden, welches Risiko sie einzugehen bereit sind beziehungsweise fügen sich dem, was sie glauben tun zu müssen.


Und fast alle tun das, was sie schon bisher getan haben. Sie versuchen die Welt zu retten oder zumindest ihre Position in der Welt.


Auf die Idee, dass sich (nahezu) weltweit nun dadurch eine Machtverschiebung ereigne, die funktional (und auch anders) differenzierte Gesellschaft in Gefahr wäre, bin ich alleine nicht gekommen, sie scheint mir auch nicht sonderlich plausibel, es sei denn, man schreibt der Politik in weiterhin demokratischen Staaten eine wundersame Machtfülle zu, die sie schlicht nicht hat und nicht haben kann, es sei denn, sie versucht zerstörerisch alle anderen Funktionssysteme direkt unter ihre Kontrolle zu zwingen. Dafür braucht es aber mehr, als bloß eine Pandemie, und mehr als einige Tage oder Wochen. Möglicherweise gab es eine Überreaktion der Regierungen, aber Putsch gab es keinen, und eine Revolution schon gar nicht.


Das Pathos der Verteidiger der Freiheit scheint mir also etwas übertrieben zu sein. Der mitunter untergriffige Versuch, die Positionen anderer zu delegitimieren, mag nicht erfreulich sein, aber er ist selbstverständlicher Bestandteil des Diskurses in einer offenen Gesellschaft. Kritisch würde es, wenn gegen „Abweichler“ mit der Justiz, mit Versuchen der Zerstörung ihrer Existenz, mit physischem oder psychischem Terror, mit der Aberkennung ihrer Bürgerrechte vorgegangen würde. Kritisch würde es, wenn den Entscheidungsmöglichkeiten der Individuen und der Wirtschaftssubjekte nicht nur (wie schon bisher) die Einhaltung von Gesetzen und Regeln auferlegt, sondern ihnen tendenziell die Möglichkeit zur Entscheidung entlang der Logik ihres eigenen Kontextes genommen würde. Das ist nicht der Fall, und das möge auch so bleiben.


Verschiebungen in der weltweiten Aufstellung der Staaten und der Branchen gibt es allerdings ebenso wie das Prekärwerden der Geschäftsgrundlage von bisher relativ gesicherten Positionen von Individuen und Wirtschaftssubjekten. Dass dies (als Beispiele) Fluggesellschaften ebenso trifft wie Taglöhner und Künstler, zeigt Gemeinsamkeiten zwischen Bereichen auf, denen man eine Verwandtschaft bisher nicht unterstellt hätte. Gemeinsam ist ihnen wohl, dass sie jeweils ohne jede Absicherung auf eine unterbrechungslose Kontinuität des Immergleichen gesetzt haben, erzwungen oder freiwillig. Sie mussten eine Wette auf diese Kontinuität eingehen, und sie haben diese Wette verloren. Wie immer gibt es Gewinner und Verlierer jener Umgruppierungen, die nun auf vielen Ebenen stattfinden. Und wie es üblich ist, sind die wenigsten dieser Umgruppierungen so intendiert.


Paul Jandl hat kürzlich in der NZZ so formuliert: „Dass man sich aus Vernunft plötzlich gemeinschaftlich einigen soll, macht wiederum die Vernünftigen nervös. Sie wollen auf souveräne Art, sozusagen eigenhändig, vernünftig sein.“ Das scheint tatsächlich die große Herausforderung zu sein, vor allem für eine liberale Weltsicht. Der Eingriff des Virus und jener des Staates aktiviert emotionale pubertäre Restbestände, ideale (und damit auch ideologische) Vorstellungen von der Arbeitsteilung zwischen Staat, Wirtschaft und Individuen, möglicherweise auch Ängste vor zu großer Regelungsdichte – wobei: an letzterer haben auch die Wirtschaftssubjekte einen gehörigen Anteil. Die Planungs- und Steuerungsillusionen deren Headquarters sind, soweit beobachtbar, sicher nicht geringer ausgeprägt als jene der staatlichen Akteure. Und sie haben recht damit, ein wenig, und unrecht auch, was sie nicht immer büßen müssen. Kollektive Vernunft ist auf Ebene der Betriebe gut organisiert, auf der Ebene des Staates auch. Da wie dort ist sie fähig, zu scheitern. Mitunter mit einem großen Krach.


Die eigentliche Hybris ist wohl zu meinen, man verstehe und könne eindeutig deuten, was hier vor sich geht, und zwar über begrenzte Beschreibungen und mit Unsicherheit behaftete Vorhersagen hinaus. Für seriösere Deutungen wird man Zeit verstreichen lassen müssen. Bis dahin gilt, dass nicht nur die Politik, sondern wir alle unter Bedingungen von Unsicherheit handeln müssen. Wer dafür als Leitschnur einen Gestus der Rebellion wählen will, soll das tun. Wer das für unreif oder irrational hält, soll das auch tun. Letztlich ist das aber ziemlich egal, vorausgesetzt, wir bleiben dort, wo wir in dieser Welt stehen, in unserem beruflichen und privaten Alltag, handlungsfähig und können weiterhin anschlussfähig agieren und kommunizieren. Jetzt vielleicht ein wenig anders als eben noch. Am besten, wir tun das mit einem Blick auf Zusammenhänge und Folgen, andere Kontexte nicht völlig ignorierend. Gemeinwohl im Blick behaltend.


 


 


Skepsis


von Steffen Roth


 


Als Thomas Kemmerich am Vorabend der Coronakrise zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt wurde, war landauf, landab von Dammbrüchen die Rede. «Dieser Tag wird die deutsche Politik verändern» titelte damals die ZEIT, oder die TAZ vollmundig: «Die Masken sind gefallen».


Im Rückblick erscheint dieser Sturm im Wasserglas grotesk. Inzwischen wissen wir sehr genau, dass es nicht der Februar, sondern der März 2020 war, welcher mehr als nur die Politik verändert hat, und das weltweit. Seither brechen täglich Dämme, und fallen stündlich mehr Masken als man im öffentlichen Leben nun sichtbar im Gesicht hat.


Die von Peter Pantuček-Eisenbacher beobachtete Nervosität ist da berechtigt, und, ja, man wird die Spannung noch eine Weile aushalten und «für seriösere Deutungen (…) Zeit verstreichen lassen müssen». Dabei lotet man aber die Grenzen selbst der Küchenpsychologie nicht hinreichend aus, wenn man sein Unbehagen mit «pubertären Restbeständen» in Verbindung bringt. Vielmehr dürfen wir unseren Gefühlen getrost trauen, wenn unsere repräsentative Wahrnehmung anzeigt, dass sich die Strukturen der Gesellschaft verändern, dass wir zwischen Absperrgittern in Reih und Glied gestellt werden. Man wird abwarten müssen, bevor man sehen kann, worauf dieses Manöver uns vorbereitet haben wird.


Die Formen ändern sich. Der Ton wird rauer. Polizisten schreien Professoren und Supermarktangestellte ihre Kunden an. Wegen Bagatellen. Klaus Kusanowsky erlebt das am Beispiel der Einkaufswagenpflicht als die Verwandlung von Menschengruppen in «Affenbanden».


Was wir da spüren mag Regression sein, aber es betrifft eben weit mehr als die Pubertätserfahrung des Einzelnen, wenn sich Bürger wieder wie Untertanen fühlen und damit eine Erfahrung machen, für die man sich in weiten Teilen des Europas der letzten Jahrzehnte erst durch Straftaten qualifizieren musste. Ansonsten war man sogar als Staatsalmosenempfänger Staatskunde. New Public Management sei Dank; und wer ein Problem hat mit dieser «neoliberalen» Errungenschaft, der stellt sich erst einmal im Winter zwei Stunden vor ein französisches Ausländeramt und lässt sich dann auf Englisch anschreien, warum er kein Verwaltungsfranzösisch kann.


Die aktuell in ÖPNV, Arbeitsstätte und Freilufttheater inszenierte Lust der Maskenträger an persönlicher Konformität und staatlicher Autorität ist demnach eine noch recht erfahrungsarme und dennoch folgenreiche Aufführung. Latour spricht von einer Generalprobe, das Thema der Tragödie ist Angst, und die massgeblichen Antiheldenrollen des Stücks sind besetzt von den Mitgliedern einer Generation, die man im ebenso erfahrungsarmen Stahlgewitter des kalten Kriegs nachhaltig an Schutzschirme gewöhnt hat und denen man seither mit thematisch fast schon beliebigen Katastrophengeschichten immer neue Schirme gegen Atome, Terroristen, Wirtschaften, Viren oder das Wetter ver- und somit den Schneid abkauft. Das aktuelle Maskenspiel ist das neue «duck and cover» und, wenn Latour oder Reichel recht behalten, nur das Vorspiel zum planetaren Regentanz.


Wenn wir die massenmedialen Bretter, die die Welt bedeuten, ernstnehmen, dann schlittern wir nicht erst seit 911 von Krise zu Krise. So erhält sich der Zeitdruck, so reduziert sich die Reflexionsneigung, so legitimiert sich, Fritz Simon sagt es selbst, die Hierarchie.


Man muss die Bretter aber nicht mit der Welt verwechseln. Man muss nicht bei jedem Theater mitmachen, mitfiebern, Farbe bekennen. Wenn «unterschiedsgesättigte Kommunikationen» gewünscht sind, dann erfordert das auch und gerade in Krisenzeiten den Mut zum Abstand von der sich gerade wieder ausbreitenden Moralisierungskultur. Dann geht es eben nicht darum, empfindlich auf jeden Missstand zu reagieren. Dann gibt es keine Letztwerte. Dann ist Skepsis definitiv die Hauptspielregel und wieder einmal das Zauberwort einer Zwischengeneration.


Nicht nur Politik und Wissenschaft, uns allen steht daher ein hoffentlich baldiger Übergang von der kritischen hin zur skeptischen Medienkompetenz bevor: Nicht jeder Ölfleck im Ärmelkanal macht uns zu ökologischen Schmuddelkindern und nicht jeder Tod «im Zusammenhang mit Corona» ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das mag zynisch klingen. Und etymologisch ist es das vielleicht auch. Kühler Kopf statt warmer Worte, mit denen wir uns so heiss reden, bis ein physischer und intellektueller Lockdown als einziger Ausweg erscheint. Denn auch so können wir den Leviathan im Zaum halten: Indem wir unseren aktuellen Medienkonsummustern statt einander oder uns selbst misstrauen.


 


 


Cool down!


von Fritz B. Simon


Die Aufforderung „Keep cool!“ unterstellt, dass man cool geblieben ist. Und das stimmt ja auch für den größten Teil der Bevölkerung – und nicht nur hier bei uns, sondern weltweit. Von Panik keine Spur, lediglich gelegentliche hysterische Auftritte von „Verteidigern der persönlichen Freiheit“, die meinen, man werde zum Untertanen, wenn verlangt wird, in geschlossenen Räumen eine „Mund-Nasen-Maske“ zu tragen. Die Gesellschaft hat nicht angehalten, die Kommunikation geht weiter, wenn auch in etwas veränderter Form. Der Staat hat plötzlich gezeigt, dass die Metapher vom „Staatskunden“ immer Quatsch war. (Das ist wie in der Psychiatrie, wenn einige, ihre Rolle und Funktion leugnende Mitarbeiter zwangseingewiesene Menschen als „Kunden“ bezeichnen).


Aber sind nun Dämme gebrochen? Ich denke nicht. Cool down!


Denn die verordneten Maßnahmen erscheinen mehr als zwei Dritteln der Bevölkerung sinnvoll, und viele finden, sie würden zu früh gelockert. Man fühlt sich nicht als Untertan, wenn man tut, was einem sinnvoll erscheint. Wäre es anders, würden die meisten Leute sich genauso wenig an derartige Verordnungen halten, wie die über den gewaltsamen Tod von George Floyd empörten, die nächtliche Ausgangssperre in Minneapolis missachtenden, Demonstranten. Das heißt aber nicht, dass Corona keine Veränderungen zur Folge gehabt hätte, die auch die Zukunft beeinflussen dürften (in wie starkem Maße, ist abzuwarten, und wahrscheinlich erst später, wie Peter Pantuček-Eisenbacher nahe legt, angemessen zu analysieren).


Zunächst betrifft das die erlaubten bzw. verbotenen Interaktionsformen („social distancing“). Auch wenn es von staatlicher Seite wieder erlaubt sein sollte, dass sich mehr als zwei Personen zu welchem Zweck auch immer versammeln, werden Spuren von staatlich verordneter Distanz und Waschzwang im kulturellen Gedächtnis zurückbleiben. Um zu wissen, dass Geschlechtsverkehr, ja, schon Küssen unter Infektionsgesichtspunkten riskant ist, musste man schon früher kein Virologe oder Mikrobiologe sein. Das wissen die meisten Leute spätestens seit der Einführung von HIV. Dass auch Händeschütteln problematisch sein kann, ist neu. Das wird in Japan – wo man schon lange erheblich bewusster mit den Gefahren durch Keime umgeht – wenig Verhaltensänderungen zur Folge haben: Man wird sich weiter zur Begrüßung verbeugen, beim Betreten der Wohnung die Schuhe wechseln und in die speziellen Hausschuhe schlüpfen, wenn man die Toilette betritt. In Nordeuropa wird man zurückhaltender mit pseudo-mediterranen Begrüßungsküssen sein, und in den mediterranen Gegenden vielleicht (obwohl ich da meine Zweifel habe) etwas stärker nordische Distanz halten. Die in China schon früher übliche Mund-Nase-Maske wird auch im Westen zu einem – in manchen Subkulturen – üblichen Accessoire, das von Pariser Modeschöpfern in seinem Design von Saison zu Saison modifiziert wird. Das häufige Händewaschen wird zu weniger Infektionen mit Durchfallerkrankungen führen, da nun vor dem Essen – wie Oma es schon immer gefordert hat – die Hände gewaschen werden. Die Digitalisierung der Verwaltung dürfte einen Schub erhalten, an Home-Office und Video-Konferenzen werden sich in Zukunft auch Leute beteiligen, die nicht internetaffin sind (wahrscheinlich wirklich ein Dammbruch), und nicht wenige Kleinunternehmen und Kneipen werden Pleite gehen (was in Städten wie Berlin schon immer der Fall war) usw. Alles das ist nicht revolutionär und wird auch nicht die Strukturen der westlichen Gesellschaften verändern. Dazu braucht man schon richtige Kriege, nicht ein läppisches Hygieneproblem. Deswegen werden sich auch nur wenige Leute Gedanken machen, welche Kommunikationsformen zu intelligenteren Entscheidungen für die Zukunft führen könnten (wozu ja Heiko Kleve Ideen hören wollte). Die formalen Strukturen repräsentativer Demokratien, die ja nicht überall gleich aussehen, liefern hier Reformmöglichkeiten, ohne dass es dazu revolutionärer Umstürze bedürfte. Deren Institutionen setzen ihre Autopoiese fort, auch wenn sie sich dabei ein wenig verändern mögen (das hat sogar nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland funktioniert, wo die alten Reichs-Beamten die Metamorphose zu BRD-Beamten ohne große persönliche Änderungen durchstanden, und die Verordnungen und Gesetze, an denen sie ihre Entscheidungen orientierten, blieben zu einem großen Teil auch dieselben – Grundgesetz hin oder her).


Auch wenn die Strukturen sich nicht revolutionär verändern dürften, könnte es auf der inhaltlichen Ebene einen relevanten Vorher-nachher-Unterschied geben: Die von Politikern verkündete Behauptung „Es gibt keine Alternative!“ wird nun von der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert werden. Denn das künstliche Koma, in das weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens versetzt worden sind, hat den nicht-intendierten Nebeneffekt, dass viele Leute auch über andere Prämissen politischer Entscheidungen nachdenken bzw. nachgedacht haben (z.B. über die wirtschaftlichen Kosten des Umweltschutzes, die auf einmal nicht mehr so untragbar erscheinen, angesichts des für die Rettung von Unternehmen verpulverten Geldes).


Es geht jetzt um „Wozu“-Fragen: Wozu dienen unsere politischen Strukturen? Wozu unsere Art zu wirtschaften? Wozu kulturelle Einrichtungen? Wozu Wissenschaft? Wozu schulische Erziehung? Wozu das Gesundheitssystem? usw. Und wie bei jeder Wozu-Frage führt sie zur nächsten Frage: „Für wen?“ Es geht um die Frage der Systemrationalität: Für welches System werden Entscheidungen getroffen? Denn die haben ja nicht nur Wirkungen für den, der sie trifft, sondern auch noch für alle, die durch sie betroffen sind. Und in der Hinsicht scheint die Corona-Krise ein paar Neudefinitionen zur Folge zu haben.


Um etwas konkreter zu werden: Dass Lösungen für aktuelle Notlagen auf nationaler Ebene getroffen werden, steht zu Debatte. Zum ersten Mal ist z.B. die deutsche Regierung bereit, der Aufnahme von Krediten durch die EU zuzustimmen (von beiden Regierungsparteien und Teilen der Opposition wird dies mitgetragen). Das heißt im Klartext, dass nunmehr de facto (zumindest hoffe ich, dass diese Deutung stimmig ist) nicht mehr „Teutschland“, sondern Europa als Überlebenseinheit zur Grundlage von Entscheidungen gemacht wird. Gleichzeitig soll – auch das scheint mir bemerkenswert und Ausdruck eines Wandels der Entscheidungsprämissen – in Thüringen (die anderen Bundesländer dürften folgen) auf der Ebene von Gemeinden und Kreisen über die konkreten Maßnahmen der Seuchenbekämpfung entschieden werden.


Damit wird ein alternatives Modell (eine „Vision“) der europäischen Integration praktiziert, das auf der Ebene der Wirtschafts-, Finanz- und hoffentlich auch Außen- und Verteidigungspolitik die Verantwortung nach Brüssel transferiert, während all das, was das konkrete, alltägliche Leben der Bürger betrifft, dort bzw. von denen (auch plebiszitär) entschieden wird, die mit den unmittelbaren Folgen der Entscheidungen leben müssen.


 


 


Autoren


 


Heiko Kleve, Univ.-Prof., Dr. phil.; Sozialpädagoge und Soziologe sowie Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG), Case-Manager (DGCC) und Konflikt-Mediator (ASFH); Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen, Wirtschaftsfakultät, Universität Witten/Herdecke. Autor zahlreicher Bücher und einschlägiger Fachbeiträge zur systemisch-konstruktivistischen, systemtheoretischen und post- modernen Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften u. a.: Lexikon des systemischen Arbeitens (2012, zus. mit Jan V. Wirth) Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer systemischen Arbeitens (2019, zus. mit Jan V. Wirth), Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen (2016).


Peter Pantuček-Eisenbacher, , Prof. Dr., geb. 1953, Diplomsozialarbeiter, Soziologe und Supervisor, ist Rektor und Geschäftsführer der Bertha von Suttner Privatuniversität St. Pölten. Forschungs-, Fortbildungs- und Publikationstätigkeit zur Theorie und Methodik der Sozialen Arbeit mit den Schwerpunkten Theorie der Sozialarbei und Soziale Diagnostik.


Steffen Roth, Prof. Dr. ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, Finnland. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie Technological Forecasting and Social Change, Journal of Business Ethics, Administration and Society, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, Journal of Cleaner Production oder Futures publiziert.


Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018) und Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019).