Exklusion

engl. exclusion, franz. exclusion f, zugrunde liegt lat. excludere = »ausschließen«, sinngemäß auch »ab-, ausgrenzen«. Die Offenheit der Systemtheorie Niklas Luhmanns für Selbst- und Umweltirritation (Irritation) ermöglicht ihre Restabilisierung durch selektiven Einbau neuer Begriffe, z. B. den der Exklusion. Einige seiner Implikationen thematisieren wir im Anschluss an die Begriffsverwendung im Spätwerk (Luhmann 1995). Der Begriffsgegensatz Inklusion/Exklusion indiziert eine hierarchische Opposition mit der Präferenz für Inklusion (Stichweh 2004, S. 357). Exklusion erscheint als dunkle Seite des Gegensatzes, die der Domestikation durch Sonderformen der Inklusion bedarf.


Eine erste Präzisierung von Exklusion erhellt der Bezug auf den Menschen. Mit seinem Leben und seiner Psyche, die sich per Zellen respektive Gedanken/ Wahrnehmungen selbst herstellen (Autopoiesis), ist er basal aus Sozialsystemen exkludiert, die sich mittels Mitteilung, Information und Verstehen rekursiv kommunikativ reproduzieren. Zum Aufbau und Erhalt von Körper und Psyche sowie der Ressourcen einer angemessenen Lebensführung ist der Mensch jedoch existenziell auf Sozialsysteme angewiesen. In der heutigen funktional differenzierten Gesellschaft erfordert dies einerseits seine Multiinklusion als Person in eine Vielzahl von Teilsystemen – Wirtschaft, Politik, Massenmedien, Recht etc. – durch Laienrollen (Rolle). Andererseits seine Monoinklusion qua altersspezifischer Leistungs- bzw. Leistungsempfängerrollen: in der Kindheit und Jugend als Schüler oder Schülerin/ Studierende/Azubi des Erziehungs- und Bildungssystems, in der Erwachsenenphase als Berufstätiger und -tätige des Beschäftigungssystems und im Alter als Rentner und Rentnerin (Alter/n) des Sozialversicherungssystems.


Funktionssystemspezifisch bedeutet Exklusion folglich den Ausschluss der ganzen Person aus nahezu allen Teilsystemen, da diese die Teilnahme der Person auf Rollenerwartungen reduzieren (Erwartung). Sozialstrukturell wird das Individuum damit zum »Dividuum« (zum »Geteilten«). Nur Intimsysteme wie z. B. die Familie beanspruchen die kommunikative Thematisierung der Vollperson mit ihrer Rollenvielfalt. Das erklärt die besondere Exklusionsfolge der Scheidung, entzieht sie doch den entliebten Expartnern ihre Sonderwelt und Resonanz als individuierte Vollperson. Ähnlich einschneidend ist Arbeitslosigkeit als Ausschluss aus dem Beschäftigungssystem. Bei längerer Dauer steigen das Risiko der Zahlungsunfähigkeit, die Wahrscheinlichkeit psychischer (Psyche) und körperlicher (Körper) Störungen sowie des Verlusts sozialer Netzwerke. In Kombination mit Arbeitslosigkeit und Scheidung, aber auch anderen Rolleneinbußen durch Selbst- oder Fremdexklusion kann es zum Ausschluss aus wichtigen Laienrollen, wie Staatsbürgerin, Mieter, Kundin, Schüler, Patientin, Touristen, kommen. Betroffene sind u. a. illegale Migranten (Migration), Asylanten, Schwer- und Schwerstbehinderte, -pflegebedürftige, -kriminelle, Wohnungslose, Suchtabhängige (Abhängigkeit), schulische Drop-outs (Hohm 2016, S. 155 ff.). Organisationsspezifisch bedeutet Exklusion Nichtmitgliedschaft. Normal ist sie bezogen auf die Einzelorganisation. Zum Problem wird sie, wenn die Organisationspopulation durch Fehlallokation Stellenbewerber und Platzsuchende zu stellenlosen (s. o.) oder platzlosen Exkludierten macht – wie z. B. Eltern, denen keine Kinderkrippenplätze zur Verfügung stehen.


In Interaktionssystemen kann Exklusion von Personen durch gezielte Nicht-adressierung Anwesender oder absichtliches Weghören bei Beiträgen bestimmter Sprecher und Sprecherinnen erfolgen (vgl. zur Person als kommunikative Adressstelle Luhmann 2000, S. 89 ff.). Zum Problem in Form interaktiver Konfliktsysteme wird diese Exkommunikation bei ihrer Verstetigung trotz expliziter Mitteilung eines Neins seitens Betroffener (wie beim Mobbing am Arbeitsplatz). Bei Organisationen und Funktionssystemen, für die unmittelbare Anwesenheit nicht konstitutiv ist, ist es wahrscheinlicher, dass Exklusion einfach passiert. Adressen sind oft unzugänglich, Abhängigkeiten von Organisationen und Personen ungleich verteilt, und der organisatorische Aufwand einer Rückantwort ist oft zu hoch (Stichweh 2004, S. 356). Die Gegenbegriffe Nichtperson/Unperson ermöglichen die Beobachtung solcher Exklusionsstrategien jedoch auch als »Objektivierung« oder »Miss-» bzw. »Verachtung«. Die nichtadressierte wird zur diskriminierten/stigmatisierten Person. Die Streitnähe sowie die Codierung »gut/böse« der so initiierten Moralkommunikation erzeugen bei forciertem Konflikt Segregation, Abschiebung oder gar Tötung (Tod) der betroffenen Personen.


Verzichten Recht, Politik, Medizin oder Militär auf Totalexklusion der Person durch organisierte Tötung – Todesstrafe, Krieg, Euthanasie, Todesschuss – werden bestimmte Personengruppen durch Konstruktion zu ausgeschlossenen eingeschlossenen Dritten. Als Minderheit werden sie aus dem Inklusionsbereich der Mehrheit exkludiert und in Sonderbereiche eingeschlossen, die wir als »Inklusion zweiter Ordnung« bezeichnen wollen (Hohm 2015; Hohm 2016). Exklusion erfolgt dabei zum einen durch Totalinklusion von Risikopersonen in teilsystemspezifische Sonderorganisationen: Ihr Körper, ihre Psyche oder ihr Verhalten werden aufgrund professioneller programmspezifischer Bewertung als »schwer-» bzw. »schwerstabweichend« den Negativwerten des Rechts-, Pflege-, Medizin- oder Erziehungscodes etc. zugeordnet. Das Risiko ihrer zukünftigen oder vergangenen Selbst- und/oder Fremdgefährdung wird als zu hoch für eine Karriere im Inklusionsbereich der Mehrheit angesehen. Sonderschulen, Vollzugsanstalten, Erziehungs-, Altenpflege-, Behindertenheime (Behinderung), psychiatrische Kliniken etc. symbolisieren so die Endstation hochriskanter Exklusionskarrieren als nahräumige Orte erzwungener, segregierter und kontrollierter Immobilität. Zum anderen manifestiert sich Exklusion durch Inklusion in prekäre Wohnquartiere: Als soziale Brennpunkte symbolisieren sie kommunikativ verdichtete urbane Nahräume (Raum) mit unterschiedlichen Kombinationen negativer Wohn- und Exklusionskarrieren. Die Wahlfreiheiten der Exkludierten sind durch hohe Negativintegration und entsprechendes Konfliktpotenzial reduziert (Hohm 2011). Schließlich repräsentieren die Drogenszene oder das Rotlichtmilieu Beispiele für eine nahräumige Exklusion durch Inklusion in spezifische Szenen und Milieus, entkoppelt vom Wohnquartier.


Verwendete Literatur


Hohm, Hans-Jürgen (2000): Soziale Systeme, Kommunikation, Mensch. Einführung in soziologische Systemtheorie. Weinheim/München (Beltz/Juventa), 3., überarb. u. erw. Aufl. 2016.


Hohm, Hans-Jürgen (2011): Urbane soziale Brennpunkte. Soziale Hilfe und das Programm »Soziale Stadt«. Weinheim/München ((Beltz Juventa).


Hohm, Hans-Jürgen (2015): Die Personengruppen des Inklusionsbereichs 2. Ordnung als AdressatInnen systemischer Sozialarbeit. Systemische Soziale Arbeit – Journal der dgssa 5 (8): 53–71.


Luhmann, Niklas (1995): Inklusion und Exklusion. In: ders. (Hrsg.): Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen (Westdeutscher Verlag), S. 237–264.


Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Opladen (Westdeutscher Verlag). Stichweh, Rudolf (2004): Zum Verhältnis von Differenzierungstheorie und Ungleichheitsforschung. Am Beispiel der Systemtheorie der Exklusion. In: Thomas Schwinn (Hrsg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt a. M. (Humanities), S. 353–367.