Wie aus gemeinsamer Blödheit soziale Klugheit wird

Wie aus gemeinsamer Blödheit soziale Klugheit wird


von Heiko Kleve


 


Fritz Simon hat vor Jahren ein Buch geschrieben, in dem er zeigt, wie intelligente Menschen in sozialen Gruppen- und Organisationskontexten dumm kommunizieren, unkluge Entscheidungen treffen: Gemeinsam sind wir blöd!?. Unsere heutige Zwischenruferin, Dr. Antje Tschira, fragt nun, ob es in Krisenzeiten nicht klappen sollte, ja sogar klappen müsste, dass durch die unterschiedlichen Stimmen von vielen miteinander interagierenden Menschen besonders kluge Entscheidungen getroffen werden können. Gerade in Zeiten wie unseren müssten soziale Systeme nicht nur mit Verfahren ausgestattet werden, die deren Performance legitimieren, sondern die deren Beschlüsse intelligenter machen.



Soziale Intelligenz ist bestenfalls das, was nicht in einem Kopf, nicht in einem psychischen System erdacht wird und dann über Machthierarchien in politischen oder wirtschaftlichen Institutionen durchgedrückt wird, sondern was durch das kommunikative Zusammenspiel von mehreren, vielleicht sehr vielen Personen an Klugheit emergiert. Wie aber ist eine solche Art kommunikativer Intelligenz möglich?


Jürgen Habermas hat diesbezüglich die Diskursethik vorgeschlagen und damit bereits gesehen, dass für komplexe Aufgaben das einzelne Subjekt zu begrenzt ist, so dass eine kommunikative Vernunft durch herrschaftsfreies Reden und Hören zu etablieren ist. Erst so ließen sich rationale Argumente austauschen, mithin in einen Wettbewerb miteinander führen, so dass am Ende die besten dieser Argumente siegen würden. Sowohl die französische Postmoderne etwa eines Jean-François Lyotard als auch Niklas Luhmann haben eine derartige Kommunikationsvernunft als illusionär aufgezeigt. Denn weder die kontrafaktische Situation eines herrschaftsfreien Raumes lässt sich realisieren, noch steht am Ende eines Diskurses der Konsens des besten Arguments. Es bleiben Dissens und Differenz: Je mehr kommuniziert wird, desto unterschiedlicher wird es offenbar.


Aber es muss doch möglich sein, Verfahren zu entwickeln, die in herausfordernden Situationen Personen so zusammenzubringen, dass sie Entscheidungen treffen, die ausgewogener, rationaler, passender sind als in den üblichen Zusammenkünften und sozialen Dynamiken, die Fritz Simon in seinem oben genannten Buch veranschaulicht. Ist es die Kommunikation des Marktes, die mit Friedrich August von Hayek als Entdeckungsverfahren verstanden werden kann, die hier weiterhelfen könnte? Ist es die demokratische Kommunikation der Politik, die dabei unterstützt, kluge, sozial intelligente Entscheidungen zu treffen? Oder bräuchten wir neue Formen der komplexitätsangemessenen Gruppen- und Teamkommunikation, die es wahrscheinlicher machen, gemeinsame Klugheit zu organisieren. All das sind Fragen, die wir mit unserer heutigen Zwischenruferin stellen können und die ich gerne an unsere beiden Protagonisten weitergebe.


 


 


Krise des Sozialen - Krise des Entscheidens


oder: In Zeiten des Abstands über neue Nähen nachdenken


von Antje Tschira


 


In Krisenzeiten wird oft deutlich, wie ein System hinsichtlich der krisenrelevanten Parameter funktioniert, welche Entscheidungsprämissen wirksam werden und wo diese zu Problemen führen.
Da sich derzeit alles um das Gebot des Social Distancing dreht und damit Gefahr oder Rettung verknüpft werden, wird überall dort, wo Begegnung und Kontakt systemrelevant sind, dies deutlich. Auf der persönlichen Ebene werden Erfahrungen mit Kontaktreduzierung und virtueller Kommunikation gemacht, auf der Organisationsebene kann man beobachten, wie existenziell das Überleben mancher Branchen und Institutionen an menschliche Kontakte gekoppelt ist. Auf der politischen Ebene wird für mich die soziale Distanz in anderer Hinsicht deutlich. Im Moment wird evident, welchen Entscheidungsprämissen nach wie vor politische Beschlüsse folgen. Sie folgen der Logik der Repräsentanz, der damit einhergehenden Logik der meisten Wählerstimmen und der Logik expertengeleiteten Entscheidens. Hinzu kommen historische und kulturelle Verpflichtungen.
Das ist keine ausreichende Voraussetzung, um paradoxieadäquat zu handeln, fließen doch viele paradoxieerzeugende Moment nicht mit in die Entscheidungen ein. Das produziert Lösungen, die eher einem Kompromiss als einem Konsens folgen. Fließen zu wenige Unterscheidungen in den Entscheidungsprozess ein, dann ist das wie Entscheiden auf der Ebene. Man verschenkt sich die unzähligen Möglichkeiten der Auslotung des dreidimensionalen sozialen Raumes oder Körpers und des damit verbundenen Suchens in allen Richtungen.
Paradoxieentfaltung als Weg und Denkfigur ermöglicht das Abschreiten der verschiedenen Positionen, das Integrieren skeptischer Momente als Ressource für differenzierte Lösungen. Zentrales Element für soziale Formen der Paradoxiebearbeitung ist die Begegnung mit den Unterschieden und den unterschiedlichen Auswirkungen, deren positive Bedeutung und das gemeinsame Aushandeln von Positionen und Lösungen.


Was mir fehlt, ist die „Weisheit durch die Vielen“, die in diese Entscheidungen mit einfließen und die die jeweiligen Probleme neben den sachangemessenen, administrativ und kulturell richtigen Vorgehensweisen um die vielen unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten, die es in unserer Gesellschaft gibt, bereichern würde, die intelligente Vorschläge hervor brächte und gleichzeitig für deren Akzeptanz in der Bevölkerung sorgen würde. Last but not least erhöhen gute Formate, in denen Menschen sich mit ihren sehr unterschiedlichen und entgegenstehenden Interessen um ein Thema herum zusammenfinden, die Kompetenz, souverän mit Unterschieden umzugehen. Man lernt zuzuhören und sich abzugrenzen, Widerstände als Befürchtungen zu verstehen und aus den unterschiedlichen Lebensentwürfen und Hintergründen gute Ideen zu entwickeln, mit denen bestenfalls alle leben könnten.
Gerade wenn es wie zur Zeit um die Wiederherstellung einiger Interaktionssysteme und die dafür besten Strategien geht, kann das lokale Wissen der Betroffenen nur helfen.
Beispiele wären … Lokale sach- und personenorientierte soziale Systeme, die sich in cross-kultureller Zusammensetzung um lokale Probleme kümmern. Ähnlich den Regiegruppen, die in Organisationen Veränderungsarchitekturen entwickeln und durchführen, würden unterschiedliche Interessengruppen ihre Perspektiven aufzeigen und gemeinsam tragbare Lösungen entwickeln. Geloste Bürgerräte entwickeln Empfehlungen für die Politik.
Sie würden die Politik und die Organisationen, in denen wir uns bewegen, zugänglicher machen, dadurch die Akzeptanz des politischen Vorgehens erhöhen (was man selbst mitgestaltet, das trägt man eher mit).
Gelebte Paradoxieentfaltung sorgt für sozialen Frieden und gibt der Entfaltung kollektiver Intelligenz eine Chance.


Unmögliche Kommunikation möglich machen, und damit Kommunikationscontainer schaffen, die auch in Krisenzeiten belebt werden könnten.


Nie war so viel Kontingenz wie heute. Diesen Raum könnte man nutzen, um bewusst Entscheidungen über neue Formen bürgerschaftlichen Kokreierens herbei zu führen.
Und wenn es dann doch eine Ausnahme war, dann hätten wir die Krise dazu genutzt, unser gesellschaftliches Immunsystem zu stärken, indem wir uns neue zivilgesellschaftliche und organisationale Optionen im Umgang mit komplexen Situationen geschaffen hätten. Es wäre eine gute Ressource für gesellschaftliche Problembearbeitung, wenn wir die Logik der gesellschaftlichen Problembearbeitung in Richtung beteiligungsorientierter Formate weiter entwickeln und diesbezüglich neue Routinen entwickeln könnten.
Was existiert und worin man Routine hat, darauf kann man mit wenig Aufwand zurückgreifen.


 


 


Umweltbeobachtungswerkzeuge


von Steffen Roth


 


Antje Tschira schlägt in ihrem Beitrag vor, verstärkt auf die Weisheit der Vielen zu setzen. In meinem Beitrag will ich diesen Vorschlag in mehrfacher Weise aufnehmen.


Zunächst setze ich mit Blick auf Fritz Simons letzten Beitrag getrost auf die Weisheit unserer vielen Leser, denen ich zutraue, dass sie ein gutes Taktgefühl besitzen und ohne schulmeisterliche Anleitung theoretische Spreu von Weizen trennen können. Nur ein Missverständnis möchte ich beseitigen: Wenn ich von der Wirtschaft als Indexpatienten spreche, dann geschieht das in meinem Fall nicht nur aus der Perspektive des fürsorglichen Therapeuten, der dem Indexpatienten «also gerade nicht Schuld oder eine Störung» zuschreibt, sondern eben auch mit Blick auf die «Beziehungs- bzw. Kommunikationsmuster», in denen sich jene Schuld- und Störungszuschreibung vollziehen, die Verhaltensspielräume einengen, Sündenbockmechanisierungen Vorschub leisten, Leidensdruck erzeugen und so mitunter auch Therapie notwendig machen.


Nun hat André Reichel in seinem Beitrag der Wirtschaft ganz klar die Schuld am Ausbruch der Coronakrise gegeben. Fritz Simon hat das so verstanden, «dass die Corona-Krise eine Krise ist, die den Strukturen unseres (Welt-) Wirtschaftssystems kausal zugeschrieben werden muss», und diesen Gedanken ausdrücklich «unterstrichen». Daraufhin habe ich die Frage in den Raum gestellt, inwieweit sich derart schlichte Kausalitätsannahmen von denen sogenannter Verschwörungstheoretiker unterscheiden. Mehr ist an der Stelle nicht passiert, aber vielleicht kommen wir einen Schritt weiter, wenn wir uns fragen, ob es eigentlich auch so etwas wie wahre Verschwörungstheorien gibt. Diese Frage widerspricht Fritz Simons meinetwegen massgeblicher Definition von Verschwörungstheorie («Nicht-Falsifizierbarkeit» und «Zuschreibung unlauterer Motive zu bestimmten Akteuren») nur scheinbar.


Nehmen wir ein Beispiel, dass uns auf eine zweite Weise die Weisheit der Vielen nahebringt. In seinem Buch Power and the structure of society beschreibt James Coleman eindrücklich, wie sich Mitglieder des Englischen Dritten Standes ganz legal verschwören, um Erbschaftssteuer zu hinterziehen. Das Zauberwort heisst trust, und gilt Coleman als Frühform der modernen Organisation. Das Beispiel macht dort wie anderswo Schule, entzieht dem Feudalsystem über Generationen hinweg die wirtschaftliche Grundlage und ermöglicht schliesslich diese oder jene bürgerliche oder industrielle Revolution. Regulierungsversuche scheitern und Regierungen sehen sich mitunter ziemlich ratlos, bis irgendein Schotte ein Buch über die Weisheit der Vielen schreibt.


Colemans Theorie ist historisch verifizierbar bzw. falsifizierbar, und Verschwörungstheorie solange man es eben mit Herrschaft hält. Für einen Liberalen hingegen handelt es sich um eine Theorie über die Rolle von Subversion und Organisation im Streben des «unlauteren» Dritten Standes nach Freiheit und Wohlstand.


Ein zweites Beispiel für eine möglicherweise wahrheitsfähige Verschwörungstheorie ist der «Marsch durch die Institutionen». Ob es diesen Marsch gab und ob er allenfalls erfolgreich war kann Fritz Simon sicher besser entscheiden als ich. Im Positiv- und Erfolgsfall wäre so immerhin teilweise erklärt, warum eine Generation von Permanenzrevolutionären heute derart staatstragend oder zumindest staatsnachfragend ist. Im Negativfall handelt es sich bei dieser gebeugten Trage- und Nachfragehaltung wohl eher um ein Zeichen von Resignation.


Um in Resignation nicht zu verfallen lohnt es sich zu schauen, was wir im Krisenfall (oder überhaupt) tun können ausser nach dem Staat zu rufen.


«Was wäre denn in der gegenwärtigen Situation zu tun, wenn wir den schlankeren Staat hätten?», fragt Fritz Simon am Ende seines letzten Beitrags. Hier kommt dann die von Antje Tschira angeratene Orientierung an der Weisheit der Vielen ein drittes Mal ins Spiel.


Vielstimmigkeit, die in meinem Fall als Multifunktionalität, alternativ aber auch mit Blick auf bestimmte Strata, Zentren (und Peripherien) oder Segmente von Gesellschaft gedacht werden kann, empfiehlt sich hier tatsächlich in mehrfacher Hinsicht.


Wenn wir die Verschwörungen nun hoffentlich ein für alle Mal beiseitestellen, dann drängt sich aus einer multifunktionalen Perspektive die Beobachtung auf, dass wir theoretisch seit gefühlten Jahrhunderten mit «politökonomischen» Kanonen auf noch den allerkleinsten Spatzen schiessen. Politik gegen Wirtschaft. Choose your side. Politökonomischer Tunnelblick und Lagerkoller sind dabei nicht nur langweilig geworden. Sie machen uns auch blind. Aktuell befinden sich selbst primitivere biopolitische Theorieangebote in besserer Resonanz mit gesellschaftlicher Selbstbeschreibung als die raffiniertesten Politökonomien oder deren gentechnisch unveränderte ökologische Klone.


Warum sollte sich nun ausgerechnet eine so vielseitige Theorieplattform wie unsere immer wieder nur das nächste Update von Wirtschaft und Gesellschaft aka Politik herunterladen?


Wenn man es recht bedenkt, dann sind politökonomische Theorien per se weder besser noch schlechter als biopolitische oder gottesstaatliche, oder zur Abwechslung auch mal «apolitische» Theorien. Auf die Resonanz mit gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen kommt es an, diese theoretische Resonanzfähigkeit prüfen kann man nur, wenn man nicht immer schon vorher weiss, welche Funktionssysteme und welche Umwelten wirklich systemrelevant sind.


Was folgt daraus für den Praktiker? Ganz einfach: neue Beobachtungswerkzeuge oder, in den Worten Heiko Kleves, Entdeckungsverfahren. Eine erste Blaupause für ein solches Werkzeug wurde just gestern von der Fachzeitschrift Ecological Economics zur Publikation akzeptiert In dem betreffenden Beitrag starte ich mit meinem Freund und Kollegen Vladislav Valentinov von der Frage, warum man von der Wirtschaft heutzutage erwartet, dass sie sich an dem Umweltverständnis der Naturwissenschaften orientiert, und nicht etwa dem der Religion, oder – Gott behüte – gar an ihrer eigenen Umwelt: dem Markt. Im Ergebnis steht dann der Prototyp eines erweiterten Umweltentdeckungsverfahren (siehe Abbildung).



Es könnte an dieser Stelle noch viel die Rede davon sein, wie man solche Umweltentdeckungsverfahren umbaut in Stakeholder-Managementwerkzeuge, deren Einsatz dazu führen könnte, dass Organisationen wie der Staat in Zukunft nicht nur auf die lautesten Stakeholder hören, sondern systematisch auch auf jene, die in jeweils wechselnden Situationen «systemrelevant» sind.


Im Kern laufen solche Gedanken aber auf eine kurze Antwort auf Fritz Simons Frage hinaus: Was kann der schlanke Staat in dieser oder jener Krise tun? Weniger. Einfach weniger. Mit den richtigen Tools kann der schlanke Staat einfach weniger tun und mehr zuhören.


 


 


Kollekive Intelligenz vs. kollektive Blödheit


von Fritz B. Simon


Um das leidige Thema Verschwörungs-„Theorie“ bzw. Verschwörungstheoretiker oder auch „wahre Verschwörungstheorie“ vs. „falsche Verschwörungstheorie“ zu seinem verdienten Ende zu bringen, nur wenige Worte. Auch hier scheint es mir wichtig, die Begriffe sauber abzugrenzen: Ich habe keinen Zweifel daran, dass es Verschwörungen gibt (habe mich selbst schon daran beteiligt). Was ich in Zweifel ziehe, ist der Erklärungswert von Verschwörungshypothesen. Ob er gegen Null geht oder groß ist, hängt m.E. vom Einzelfall bzw. den zu erklärenden Phänomenen ab. In der gegenwärtigen Corona-Krise halte ich Verschwörungs-Ideen für weder plausibel noch nützlich (vor allem, was die Handlungskonsequenzen angeht). Ganz im Gegenteil, ich meine, wie bereits ausgeführt, dass sie zu illegitimen, machtpolitischen Zwecken genutzt werden.


Was die von Antje Tschira angesprochene „Weisheit der Vielen“ betrifft, so scheint es mir wichtig, genau zu differenzieren, wie sie wann organisiert werden könnte. Denn wo es Weisheit gibt, gibt es auch Blödheit (auf der anderen Seite der Unterscheidung). Es ist ja nicht so, dass jede kollektiv getroffene Entscheidung weise ist. Manche sind auch richtiggehend dumm. Also stellt sich die generelle Frage, welche Verfahren und Methoden – genauer: Kommunikationsmuster – mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit zu intelligenten Entscheidungen oder ihrem Gegenteil führen. Diese Frage ist nicht absolut zu beantworten, da es jeweils vom zeitlichen und situativen Kontext abhängt, in dem bzw. für den eine Entscheidung getroffen wird.


Unter „Weisheit der Vielen“ wird ja häufig verstanden, dass möglichst viele Menschen in die Entscheidungsfindung einbezogen werden (wie etwa bei Plebisziten). Doch die Rationalität dieser Form der Einbeziehung – sie entspricht in ihrer Logik der Publikumsfrage bei Günther Jauchs „Wer wird Millionär“ – beschränkt sich auf Situationen, in denen Wissen verteilt ist, und nicht zu identifizieren ist, bei wem bzw. bei welcher Gruppe von Akteuren es zu finden ist. Ganz anders ist die Situation, wenn es um Entscheidungen geht, deren Richtigkeit oder Falschheit sich erst in der Zukunft herausstellen wird. Hier ist es – wie von Antje Tschira vorgeschlagen – sinnvoll, möglichst viele Stakeholder, Vertreter unterschiedlicher Interessen und Sichtweisen, Menschen mit unterschiedlicher Expertise, aus unterschiedlichen kulturellen Milieus usw. einzubeziehen. Das von Steffen Roth favorisierte Stakeholder-Management zielt, wenn ich das richtig verstanden habe, in dieselbe Richtung. Dies alles ist deswegen sinnvoll, weil soziale Systeme immer paradox organisiert sind, d.h. es nie einfache Entweder-oder-Entscheidungen gibt, die dauerhaft (und in jeder Hinsicht) „richtig“ sind. Die dargestellte Methode ermöglicht es – wie Frau Tschira treffend schreibt –, die Paradoxie zu entfalten. Mit dieser Methode ist allerdings zwangsläufig ein hoher Kommunikationsaufwand verbunden, d.h. sie verbraucht Zeit, es dauert lange, ehe es zu Entscheidungen kommt – sogar dann, wenn man nicht den Konsens als Ideal anstrebt.


Der Faktor Zeit ist es, der die Rationalität hierarchischer Strukturen in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Wenn schnell entschieden werden muss, dann gibt es wohl kaum funktionellere Kommunikationsmuster. Ihr Risiko besteht zum einen darin, dass eigentlich die Zeit für eine andere Art der Entscheidungsfindung gewesen wäre, so dass eine „blödere“ Entscheidung nicht nur getroffen, sondern auch umgesetzt wird; und zum zweiten, dass diejenigen, die von einer hierarchischen Struktur profitieren, sie auf Dauer zu stellen versuchen (im Organisationsalltag, aber auch auf Staatsebene, ist ja immer wieder zu beobachten: Hierarchen, die ihre Entscheidungen unreflektiert durchsetzen wollen, machen Zeitdruck).


Bezogen auf die Corona-Krise waren meines Erachtens schnelle (!) staatliche Maßnahmen angesagt, denn was die Verzögerung des Lockdowns etc. zur Folge hatte, ist in den USA, GB oder Brasilien gut zu beobachten, während Griechenland und Süd-Korea, die extrem schnell agiert haben, nur relativ wenige Tote zu betrauern haben. Was die Beendigung des Lockdowns angeht, wäre ein anderes Verfahren, das möglichst viele Stakeholder in die Entscheidungsfindung einbezieht, sicher intelligenter.


Zu guter Letzt: Die Antwort von Steffen Roth, was denn ein schlankerer Staat tun würde, wenn er den Roth’schen Vorstellungen entspräche („Weniger. Einfach weniger“), finde ich nicht befriedigend: zu unkonkret, zu vage usw. Wovon weniger? Und dass „einfach Zuhören“ ein probates Mittel zur Mitigation der Infektion gewesen wäre, wage ich auch zu bezweifeln. Dass mehr Zuhören jetzt angezeigt ist bzw. vor Beendigung des Lockdowns sinnvoll gewesen wäre, scheint mir allerdings sehr plausibel. Die Idee des „One-size-fits-all“ scheint mir im Blick auf die Organisation von Entscheidungsprozessen aber generell nicht sonderlich rational.


 


 


Autoren


 


Heiko Kleve, Univ.-Prof., Dr. phil.; Sozialpädagoge und Soziologe sowie Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG), Case-Manager (DGCC) und Konflikt-Mediator (ASFH); Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen, Wirtschaftsfakultät, Universität Witten/Herdecke. Autor zahlreicher Bücher und einschlägiger Fachbeiträge zur systemisch-konstruktivistischen, systemtheoretischen und post- modernen Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften u. a.: Lexikon des systemischen Arbeitens (2012, zus. mit Jan V. Wirth) Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer systemischen Arbeitens (2019, zus. mit Jan V. Wirth), Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen (2016).


Steffen Roth, Prof. Dr. ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, Finnland. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie Technological Forecasting and Social Change, Journal of Business Ethics, Administration and Society, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, Journal of Cleaner Production oder Futures publiziert.


Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018) und Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019).


Antje Tschira, , Dr., Studium der Erziehungswissenschaft, Politikwissenschaft und Kunstgeschichte, Promotion zu den Spielregeln zwischen Mensch und Umwelt im Lernprozess. Publikationen bei Carl-Auer-Verlag und Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Systemtheoretisch, konstruktivistisch und hypnosystemisch bebrillte Organisationsberaterin und Coach (Simon, Weber and Friends; Milton-Erickson-Institut), Autorin, System- und Organisationsaufstellerin (wisl). Lehrbeauftragte an der Uni Heidelberg für Organisationsentwicklung und an der Ev. Hochschule Bochum für ästhetische Bildung in der Sozialen Arbeit. Netzwerkpartnerin von Simon, Weber&Friends. Mitglied im Club Systemtheorie. Erkenntnisinteresse zielt in Theorie und Praxis auf die Interdependenzen zwischen Biographie-, Gruppen- und Organisationsdynamiken und den daraus entstehenden Formaten. Formate sind das Herzstück sinnvoller Kopplungen zwischen Person, Gruppe und Organisation und bahnen nicht nur die Prozesse und deren Erleben, sondern auch die Ergebnisse. Lernen ist immer das Werk der Gruppe!