Verschwörung die Zweite – oder: Selbstreferenz der Wahrheitssuche

Verschwörung die Zweite – oder: Selbstreferenz der Wahrheitssuche


von Heiko Kleve


 


Was wir in diesem Diskurs bisher gesehen haben – und das ist jetzt eine Metaperspektive – ist, dass wir uns in all dem, was wir denken und fühlen, oft selbst wiederfinden. Wir haben uns, aus welchen (unbewussten) Gründen immer, irgendwann einmal für eine Überzeugung entschieden und suchen davon ausgehend unsere aktuellen empirischen Beobachtungen, unsere Kognitionen und Emotionen danach ab, wie wir diese Überzeugung weiterhin stützen können.


Claus Otto Scharmer nennt diese Form der Weltbeobachtung „Downloading“. Die Welt unserer Wahrnehmung bietet uns eine solche Komplexität an möglichen Selektionen, dass wir eben jene realisieren, die unsere bisherige Weltsicht stützen, stärken und absichern, statt sie infrage stellen zu lassen. Falsifikation erscheint also zunächst unwahrscheinlich. Es sei denn, wir scheitern mit unserem kognitions- und emotionsbasierten Handeln so extrem, dass wir tatsächlich in eine Krise des Erkennens, Fühlens und Handelns geraten, die die Welt anhalten lässt. Das ist die Bifurkation, die Matthias Horx dieser Pandemie-Situation zuschreibt, nach der die Welt eine andere werden wird, weil wir unseren Pfad der zukünftigen Denk-, Fühl- und Handlungs-Wege neu einstellen müssen.


Aber Verschwörungsideologen wollen genau dies nicht. Sie sehnen sich nach Sicherheit und Eindeutigkeit. Sie wollen sich in ihren Ressentiments bestätigt sehen. Demnach finden sie in den aktuellen Geschehnissen genau das wieder, was sie immer schon gedacht, gefühlt oder nur geahnt hatten.


Ich will damit nicht sagen, dass alle derzeit gegen die Freiheitsbeschränkungen der Pandemie Demonstrierenden dieser Gruppe zuzurechnen sind. Im Gegenteil: Die Mehrheit der aktuell Protestierenden artikulieren berechtigte Forderungen und bringen ihre Kritik auf die Straße. Das ist für eine Demokratie sehr passend. Aber offenbar vertritt eine sehr aktive Protest-Minderheit so genannte Verschwörungsideologien, findet in all dem, was sie derzeit sieht, sich selbst, die eigene Wahrheit bestätigt, nämlich, dass wir in einer von mächtigen Kräften gesteuerten Welt leben, die Böses im Schilde führen.


Wie lassen sich solche Ideologien dialogisch verändern?


Wir können nicht allen, die derartige „Theorien“ kreieren und verbreiten, unveränderbare Wahnsysteme unterstellen. Das passt nicht zu unserer pathologisierungskritischen systemischen Überzeugung. Wie könnten wir jedoch gerade jetzt dafür arbeiten, dass das, was Scharmer die Öffnungen des Geistes, des Herzens und des Willens nennt, gestützt werden? Nur dann, wenn wir gemeinsam Dialoge beginnen, in denen wir uns in unseren Vorannahmen, Gefühlen und Handlungsimpulsen erschüttern lassen, kann Neues entstehen. Eine lebendige Demokratie sollte doch wohl solche Räume eröffnen. Aber sind die modernen Formen der Politik und des Protests dafür überhaupt geeignet, derartige dialogische Transformationen anzuregen?


Ich freue mich, dass wir mit Franz Hoegl einen weiteren Zwischenrufer begrüßen können, der uns aus systemtheoretischer Sicht die Form von „Verschwörungstheorien“ erklären kann.


 


 


Theoretical Distancing: Wozu Verschwörungstheorien?


von Franz Hoegl


Dass Theorien etwas „erklären“, wie Fritz Simon schreibt, ist zunächst weniger eine Beschreibung, sondern eine Forderung. Diese Erwartung verknüpft Simon mit der Zusatzbedingung, im Falle der Wissenschaften müssten die Erklärungen, die eine Theorie ausspuckt, irrtumsfähig sein. Steffen Roth hat schon darauf hingewiesen, dass damit jede halbwegs komplexe Theorie in große Legitimationsschwierigkeiten käme, nicht zuletzt, da viele Grundbegriffe, nicht nur der Systemtheorie, gar nicht empiriefähig sind, sondern überhaupt erst das Feld bereiten („Wir gehen im Folgenden davon aus, dass…“), auf dem – dann – empirisch widerlegbare Behauptungen aufgestellt werden.


Mit Luhmann (Luhmann 1992) schlage ich vor, Theorien zunächst als eine Art Designprodukt zu verstehen: sie geben einem Verweisungswust aus Sätzen, Einfällen, Erklärungen, Widerlegungen, Berechnungen, mathematischen Beweisen, Versuchsanordnungen, Plagiatsprojekten, Diagrammen, Bildtafeln, Notiz-Zetteln, Mitschnitten und -schriften, Papers, Artikeln, Büchern, Gesamtausgaben und so weiter eine im Wissenschaftssystem anschlussfähige Oberfläche, sie fungieren als ein zu diesem Zwecke reformuliertes Interface. Das schließt durchaus mit ein, dass Theorien auch Erklärungen anbieten, die dann anderwertig nützlich sind. Doch ihre wichtigste Funktion ist nach innen gerichtet: Theorien, und ihre kleinen Schwestern, die Methoden, ermöglichen der Wissenschaft strukturierte Komplexität und programmieren die Anwendung des Wissenschafts-Codes wahr/falsch, sie gewährleisten, dass Wahrheit „wissenschaftlich“ bleibt.


Mit Blick auf die momentan von den Massenmedien unter dem Label „Verschwörungstheorien“ angebotenen Konstruktionen kann man sagen, Shakespeares Beobachtung lässt sich nicht verallgemeinern: Es gibt auch Wahnsinn, der ganz ohne Methoden auskommt. So besehen haben Verschwörungs“theorien“ wenig mit dem gemeinsam, was man als Systemtheoretiker freiwillig Theorie nennen würde.


Und dennoch lautet mein Vorschlag, dass Verschwörungsgeschichten der Funktion nach wissenschaftlichen Theorien ähneln. Beide bieten eine Lösung für das Problem: Worüber wollen wir reden?


Denn wenn die Gruppe der Personen, die an Verschwörungstheorien „glauben“, tatsächlich so heterogen ist, wie von den Massenmedien beschrieben, von Leuten, deren „ja, aber…“ andernorts zu wenig Zustimmung findet bis zu Intensiv-Verschwörungstheoretikern, die auch noch die abseitigsten Geschichten für plausibel halten (Anti-Aging-Produkte aus Kinderblut – echt jetzt?), dann ist es ja zunächst alles andere als selbstverständlich, dass diese Personen sich auf irgendwelche konkreten Themen einigen können. Für jemanden, der fast alles für möglich hält, bieten sich auch nahezu beliebige Empörungschancen. Und genau hier setzt die Funktion von Theorien an: Sie bieten ein interface aus anschlussfähigen Generalisierungen, sie erst ordnen und organisieren wiederbesuchbare Themen, Narrative, Bilder, Erkennungszeichen, Verdächtigungsstandards, Codes auf die man sich dann gemeinsam beziehen kann. Theorien verringern die Unwahrscheinlichkeit, dass sich Szenen, Echokammern, Verschwörungsmilieus überhaupt finden und dann reproduzieren. Sie erst liefern die Bibel, auf die ihre Gläubigen Bezug nehmen können. Woran kann man Verschwörungstheorien erkennen? Das Merkwürdige besteht ja darin, dass sich Verschwörungstheorien selbst nicht so nennen, der Ausdruck „Verschwörungstheorie“ ist eine reine Fremdbeschreibung, während diejenigen, die an diese Erzählungen glauben, sich eher an Erkennungszeichen orientieren. Da reicht eine Ziffernkombination als Andeutung hier, ein zugerauntes deep state dort, um zu wissen, von welchem Narrativ oder Syndrom gerade die Rede ist. „Verschwörungstheorie“ erscheint als Kampfvokabel, ihre Funktion, darauf hat Steffen Roth wohl zurecht schon hingewiesen und Fritz Simon hat es vorgeführt, liegt darin, jede so bezeichnete Äußerung als „inakzeptabel“ wegzusortieren. Mit gutem Grund, mögen einige sagen, aber die müssen jetzt ganz stark sein, denn hier geht es einmal nicht um Sofortbewertung.


Verschwörungstheorien statt an ihrem sozialen Gebrauch und ihrem „Beobachtet-Sein“ allein an ihren Themen und Erzählweisen zu erkennen ist schon deshalb schwierig, da auch die Verschwörungsgläubigen selbst nicht nur alles, was sie wissen, aus den Massenmedien wissen (wozu auch Breitbart und die Russian Times gehören, und sogar noch so vereinszeitungsähnliche Publikationen wie Compact, wenn sie anderes behaupten, führen sie nur die Differenz von Selbst- und Fremdbeschreibung vor), sondern auch alles darüber, wie man eine Story erzählt, von den Massenmedien gelernt haben: Verschwörungstheorien entzünden sich, ganz im Sinne der massenmedialen Selektionspräferenzen, an einem einschlägigen Thema, sie beobachten Dissens als Konflikt, sie hantieren mit Zahlen, sie sehen die bösen Früchte überall, in Amerika (global) und in ihrem Garten (lokal), und natürlich führen sie ihre Sujets auf Personen und deren niederen Motive zurück. Gerade die Konstruktion der Täter folgt dabei stets der Form privat/öffentlich, mit dem die Massenmedien ganz allgemein Personen beobachten: es interessieren die bislang verborgenen Privatheiten öffentlicher Personen. „So trauert die Königin um ihre Prinzen“, „was in Wahrheit hinter der Krankheit des Showstars steckt“, „wie der Fußballer seine Verlobte enttäuscht“, ….oder eben, „wie Bill Gates sich am Leid der Kinder bereichert“. 
Eher lassen sich Verschwörungstheorien an dem erkennen, was sie konsequent ausblenden. Mir scheint, alle diese „Theorien“, von denen so berichtet wird, teilen ein schreiendes soziologisches Defizit. Egal, wie ingenieurmäßig der Klimawandel weggerechnet wird, wie böswillig irgendwelchen Minderheiten alles Niedere in die Schuhe geschoben wird, eines findet man nie, nämlich Beschreibungen und Erklärungen, die auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse abzielen. Da, wo soziologische Beobachter eine kapitalistische Wertschöpfung im Gange sehen, oder operationale Schließung durch Anschlüsse von Zahlungen an Zahlungen usw., da sehen Verschwörungstheorien nur und immer wieder nur gierige Leute. Man wagt fast, eine Formel aufzustellen: Je imposanter der Verschwörungszweck, desto kleiner die Zahl der Verschwörer, desto mächtiger ihre Mittel, desto größer die Gier, desto verblüffender, dass Du und ich davon wissen.


Verschwörungstheorien haben in diesem Sinne meistens zwei Teile: Einen, der sich auf gespürte Unstimmigkeiten, Ungereimtheiten, Ungerechtigkeiten, Entwertungserlebnisse, Eindrücke eines Zu-kurz-gekommen-seins bezieht (und wo vermutlich auch allgemein Anschlussfähigeres mitgeteilt wird, würde es unter einem anderen Label kommuniziert), und einen, der „zornpolitisch“ (Peter Sloterdijk) allen Unmut auf Personen lenkt, und konsequent niemals auf soziale Ordnungen, Eigentumsverhältnisse, Unternehmenskulturen, sozial angelieferte Skripts usw.



Warum haben Verschwörungstheorien so viele „Gläubige“? Ich wundere mich eigentlich, dass es nicht noch mehr sind, angesichts der Erschütterungen unseres Erwartungsmanagements, ausgelöst durch das Schock-Erlebnis, dass von gestern auf heute Zustände eintreten konnten, die vor wenigen Wochen noch undenkbar und nur als filmische Dystopien a la World War Z vorstellbar waren. Die Bandbreite dessen, was man für möglich halten muss, hat sich erheblich erweitert.


Die Komplexität der Prozesse und Strukturen, die solche heftigen Ereignisse ermöglichen (auch und gerade, wenn zugleich das Management, um nicht zu sagen, das Mamagement der Krise verblüfft) wirkt auf die weniger Abgebrühten von uns durchaus verunsichernd, eine Unsicherheit, die von manchen calvinistisch aufgehoben wird, indem sie wollen was sie sollen und Sicherheit und Genugtuung (und wohl auch soziale Distinktionsgewinne) darin finden, das Richtige und Gebotene zu tun: sie beteiligen sich am großen ‚Abstand der Anständigen‘. Andere reduzieren die Komplexität, indem sie, wie eine Art Bad-Design-Afficionados, hinter allem, was geschieht, einen absichtsvollen bösen Plan vermuten, der sich aber nur dem Spezialisten, dem Kenner, dem Eingeweihten entbirgt; so gelingt es, ein offen unpersönliches Geschehen auf geheime, aber persönliche Entscheider zurückführen Design ist eben unsichtbar (Lucius Burkhardt).



Andere wiederum greifen zur Systemtheorie.


Höger, Hans (Hrsg.) (1995): Lucius Burckhardt. Design ist unsichtbar, Berlin: Hatje Cantz Verlag.


Sloterdijk, Peter (2013): Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt am Main: Suhrkamp


Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.


 


 


Simulation und Einschwörungstheorie


von Steffen Roth


 


Indem wir Runde um Runde drehen, lassen uns die Verschwörungstheorien nicht aus. In Franz Hoegls Beitrag taucht zudem der Begriff der Methode auf. Muss es uns nun um Verschwörungsmethoden gehen?


Luhmann zufolge verwandeln sich Theorien in ihre «kleinen Schwestern» (Hoegl), die Methoden, sobald sie ihre eigenen Unterscheidungen nicht nur auf extern gedachte Beobachtungsgegenstände, sondern auch auf sich selbst anwenden können. Diese Idee setzt eine gesunde Portion «theoretical self-distancing» voraus, ein Theoriedesign also, das Luhmann am Ende seiner Einführung in die Theorie der Gesellschaft mit einer Installation veranschaulicht, «die mit Drähten von [ihm] zu einem Apparat führt und die bewirkt, dass die Vorlesung in der Vorlesung noch einmal vorkommt». Kurz zuvor konzediert er, dass unklar bleibt, "welchen Nutzen eine derart selbstbezügliche Theorie, die «sich von außen nur noch irritieren, aber nicht widerlegen lässt», letztlich hat.


Just diesen zweifelhaften Ruf hat Luhmanns Theorie-Methode mit den methodischen Spielmachern nicht erst dieser Krise gemein. Simulationen sind zuletzt im Zusammenhang mit der Finanzkrise 2007-2008 unrühmlich in Erscheinung getreten. Auch mehr als zehn Jahre später ist man wenig schlauer. Tatsächlich wurden in der Corona-Krise die Ergebnisse von Simulationsstudien regelmässig mit denen klassischer deduktiver Forschungsmethoden verwechselt, oder bewusst als solche dargestellt. Zum Beispiel meldete die die Pressestelle der Max-Planck-Gesellschaft am 03.04.2020: «Eine Simulation belegt die Wirkung der ersten Maßnahmen gegen Covid-19», was mich am 04.04.2020 zu dem Tweet veranlasste: «Eine Simulation ‘belegt’ etwas. Auf den Seiten der Max-Planck-Gesellschaft. Es braucht schon ein Gottvertrauen in die Wissenschaft dieser Tage».


Anders als bei Luhmanns Theorie ist hier von theoretischer Distanz zu den eigenen Beobachtungen jedenfalls kaum eine Spur, und so wurden und werden Simulationen in der aktuellen Krise benutzt, um


1) Die Pandemie zu detektieren und in ihrem Ausmass zu bestimmen;


2) die Auswahl und Implementierung geeigneter Massnahmen anzuleiten und zu begründen, und


3) wie, oben gezeigt, die Effizienz der Massnahmen zu «belegen».


Mit anderen Worten: Problemdefinition, Methodenwahl und Erfolgsbestimmung basieren in dieser Krise weitgehend auf Simulationen, deren Ergebnisse man weit unkritischer aufnimmt als etwa die der Resultate der Heinsberg-Studie. Insofern stellt sich dann aber die Frage, inwieweit wir es hier nicht auch mit einem Selbstläufer zu tun haben, der «sich von außen nur noch irritieren, aber nicht widerlegen» lässt. Wie unterscheidet man vor diesem Hintergrund eine simulierte von einer «realen» Krise?


Solange wir auf diese Fragen keine überzeugenden Antworten haben, können wir uns und Anderen Gedanken an eine «fake crisis» nicht verdenken. Warum sollten just wir Wissenschaftler dem abschwören und uns auf politisch korrektere Zoonose-Postwachstum-Geschichten und andere neu-normale «Theorie»-Angebote einschwören lassen?


Im Grunde ist die Idee einer herbeisimulierten Krise dafür viel zu nützlich, denn erstens müssen wir uns an den Umgang mit selbstbezüglichen Theorie-Methoden und Simulationen alle erst noch gewöhnen, wofür diese Krise übungsweise so gut ist wie jede andere. Zweitens handelt es sich bei Simulationen eben nicht um Supertheorien von Luhmannschem Schlage, sondern um Ad-Hoc-Arrangements ohne nennenswerte Selbstimplikation und Einsicht in ihre eigene Kontingenz. Theoriearmut wird so zu einem äusserst folgenreichen «praktischen» Problem, für das es Lösungen am Theorie-Methoden-Interface braucht, und auch in dieser Hinsicht kommt «ketzerischen» Aussagen eine wichtige Hinweisfunktion zu. Drittens wurde die Beobachtung von Kontingenz in der Coronakrise unzweifelhaft konsequent behindert, indem im Zuge ebenso koordinierter wie massiver Kommunikationsflutmassnahmen wochenlang auf einen «Worst Case» abgestellt wurde, dessen Beobachtungszwang mit ständig wechselnden Horrorzahlen aufrechterhalten wurde bis man die Pandemie-Beobachtung mit dem R-Wert nun auf niedrigem Niveau stabilisiert hat.


Wissenschaftlich gesehen spricht demnach nichts gegen die Idee, die Idee auszuprobieren, dass es sich bei dieser Krise um den womöglich kostspieligsten Fehlalarm der Menschheitsgeschichte gehandelt hat. Zum einen wäre das nicht der erste Pandemie-Fehlalarm aus dem WHO-Milieu. Zum anderen wären die Irritationen, die ein solche Idee wissenschaftlich auslöst, durchaus überschaubar, oder zumindest weitaus weniger folgenreich als vermutlich in der Politik.


Wenn der Politik nun daran gelegen sein sollte, «verschwörungstheoretische» Ideen «dialogisch zu verändern», wie von Heiko Kleve vorgeschlagen, dann wäre es ein erster Schritt, die eigenen «Methoden» der Entscheidungsfindung ganz transparent offen zu legen. Konkret wäre es im Rückblick auf die Krise nicht nur wissenschaftlich wichtig im Detail zu wissen, auf Grundlage welcher Datenlagen, Simulationen und Modelle sowie welcher Gewichtungskriterien welche Entscheidungen getroffen wurden. Hier liegt noch gar Vieles im Unklaren, wenn nicht im Argen, was nicht zuletzt die jüngste Entwicklung in Dänemark andeutet.


Gefahr im Verzug war gestern. Nicht weniger wichtig wäre es daher zu begründen, warum die aktuellen Lockerungen nicht auch von einem diskursiven Tauwetter begleitet werden, das den von Heiko Kleve vorgeschlagene Dialog überhaupt erst möglich macht. Solange dieses Tauwetter nicht heraufzieht, sobald man unliebsames Frageverhalten als verschwörungstheoretisch abtut, solange man nicht ohne politisch-moralischen Druck auch den anderen «Worst Case» (die «fake crisis») diskuieren kann, und solange man sich «dissenting voices» wie Karin Mölling, Wolfgang Wodarg oder Sucharit Bhakdi nicht wieder sachlich anhören kann, leistet das aktuelle «politisch korrekte» Diskursklima weiterhin dem Vorschub, was man dann zur Ausschaltung von abweichenden Stimmen als Verschwörungstheorien bezeichnen kann.


 


 


Wie man sich das Etikett „Verschwörungstheoretiker“ verdienen kann...


von Fritz B. Simon


Zunächst möchte ich Franz Hoegl zustimmen, dass der Begriff „Verschwörungstheorie“ verfehlt ist (und es war sicher mein Fehler, ihn unkritisch übernommen zu haben). Denn, wenn man dem Diktum Wittgensteins folgt, dass der Gebrauch die Bedeutung der Worte bestimmt, so werden mit dem Etikett „Verschwörungstheorie“ keine Theorien (wie etwa die Luhmanns) bezeichnet, sondern Hypothesen. Und die lassen sich, wenn sie ernst zu nehmen sind, falsifizieren:


Interpersonell beobachtete, d.h. von mehr als einem Beobachter beobachtete, konkrete Phänomene werden (1) beschrieben, es wird (2) ein hypothetischer generierender Mechanismus (Maturana) für das oder die Phänomene konstruiert, und schließlich lassen sich (3) konkrete Methoden und Merkmale – wiederum interpersonell beobachtbar – der Falsifikation der Hypothese definieren. Wenn Hypothesen sich nicht falsifiziert lassen, bedeutet das nicht, dass sie wahr sind. Dass unterschiedliche Hypothesen in Konkurrenz miteinander stehen, ist höchst funktionell, d.h. gegen Orthodoxien aller Art helfen nur alternative Hypothesen (wiederum mit der Möglichkeit der Falsifikation).


Solche Hypothesen sind auch Grundlage der von Steffen Roth problematisierten Simulationen. Gegen sie ist generell zu sagen, dass „hinten“ immer herauskommt, was „vorne“ hineingesteckt wird. Trotzdem sind sie nützlich, weil sie helfen, worst-case-Szenarien durchzuspielen. Vor allem, wenn es – wie im Falle von Infektionen – um exponentielle Wirkzusammenhänge geht, ist die Imaginations- und Prognosefähigkeit des alltäglichen Kausaldenkens („kleine Ursachen, kleine Wirkungen – große Ursachen, große Wirkungen“) der meisten Bürger und Politiker überfordert. In Bezug auf die aktuelle Covid-19-Krise, das kann zu diesen Zeitpunkt schon gesagt werden, war es und ist es durchaus möglich, Hypothesen, die der Falsifikation zugänglich sind, prüfen. Denn gegenwärtig werden ja in gigantischen Feldversuchen unterschiedliche nationale (stets hypothesengeleitete) Covid-Prophylaxe- und Bewältigungstrategien in ihrer Wirksamkeit getestet – von Südkorea bis Brasilien, von Schweden bis zu den USA.


Wenn Franz Hoegl von „Verschwörungsgeschichten“ spricht, so finde ich das zwar richtig, aber zu harmlos, weil die Besonderheit von Verschwörungsgeschichten eben ein spezifisches narratives Muster ist, das dem des Kriminalromans oder Polit-Thrillers bzw. auch des Horrorfilms entspricht. Diese Spezifität dieses narrativen Musters geht m.E. verloren, wenn man verharmlosend von Geschichten spricht.


Ein Punkt, in dem ich Franz Hoegl und Steffen Roth zustimme, ist, dass das Etikett „Verschwörungstheoretiker“ eine Fremdzuschreibung ist (ein Schicksal, das die so etikettierten mit all denen teilen, deren Wirklichkeitskonstruktion als „Wahn“ bezeichnet wird). Aber, das ist m.E. ja nicht zufällig, sondern es hat mit der Struktur der von ihnen präsentierten Weltsicht zu tun. (Man muss sich solche Zuschreibungen als Teilnehmer an der Kommunikation hart erarbeiten.)


Die Methode, die man anwenden muss, um sich das Etikett „Verschwörungstheoretiker“ zu verdienen, führt mich noch einmal zum Beginn unserer Verschwörungsdiskussion (die ja von unserem ursprünglichen Thema weggeführt hat) zurück. Steffen Roth setzt in seinem vorigen Beitrag die (u.a. von André Reichel geäußerte) Kritik an den aktuellen Strukturen unseres Wirtschaftssystems mit einer Verschwörungstheorie gleich. Falls er das ernst gemeint haben sollte (was ich bezweifle), dann begeht er einen Kategorienfehler (er stolpert gewissermaßen über die Abstraktionsstufen – was ihm öfter zu passieren scheint). Er verwechselt „Spiel“ und „Spieler“ miteinander. Wenn sich Bill Gates, die Johns-Hopkins-Universität oder Georges Soros tatsächlich verschwören, so agieren sie als Mitglieder/Teilnehmer u.a. des Wirtschaftssystems. Das Wirtschaftssystem selbst beteiligt sich genauso wenig an der Wirtschaft wie das Fußballspiel selbst heute gegen Borussia Dortmund spielt (weil Bayern München eben nicht „der Fußball“ ist, auch wenn das Uli Hoeneß denken mag).


Am Beispiel der Wirtschaft als „Verschwörer“ lässt sich ein weiteres Beispiel für die Merkmale des für mich verwirrenden Argumentationsmusters von Steffen Roth illustrieren. Es werden nicht nur Abstraktionsebenen vermischt, sondern einzelne Aspekte aus einer Argumentation, die eine Einheit bilden, herausgepickt. Bleiben wir bei meiner Definition der Verschwörungstheorie: „Nicht-Falsifizierbarkeit“ und „Zuschreibung unlauterer Motive zu bestimmte Akteuren“. Wer hat der Wirtschaft „böse Absichten“ zugeschrieben? Selbstorganisierte Systeme folgen bestimmten Selektionsprinzipien, aber sie haben – im Gegensatz zu ihren Teilnehmern – keine Motive. Auf diesen Aspekt von Verschwörungen geht er überhaupt nicht ein, sondern kapriziert sich auf eine – wiederum die Abstraktionsebenen verwechselnde – Infragestellung des Falsifikationsprinzips. Dabei verweist er auf die Kritik an Luhmanns Systemtheorie, die nicht falsifizierbar sei, beziehungsweise stellt er die Frage (Ha, ha!), ob Luhmann Verschwörungstheoretiker sei. Um den Punkt ernster zu nehmen, als er sicherlich gemeint ist: Ich habe von Luhmann nie etwas gelesen oder gehört, wo er gesellschaftliche Entwicklungen einem Akteur – noch dazu einem mit miesen Intentionen zuschreibt. Da Gesellschaft wie Funktionssysteme sich selbstorganisiert strukturieren, kann deren Entwicklung nicht einer Verschwörung als „Ursache“ zugeschrieben werden – eine weltweite Seuche auch nicht.


Ein weiterer Punkt von Steffen Roths Argumentation: die Wirtschaft als Indexpatient. Wer dieses Konzept aus dem therapeutischen Kontext verwendet, sollte sich darüber klar sein, dass damit stets die Symptome eines Patienten als Resultat von Beziehungs- bzw. Kommunikationsmustern erklärt werden, d.h. ihm wird also gerade nicht Schuld oder eine Störung zugeschrieben. Und genau darum geht es hier ja: Die Beziehung des Funktionssystems Wirtschaft zum politischen bzw. den anderen Funktionssystemen. Die aktuelle Krise eröffnet die Chance, diese Beziehung – gern auch, wie von Steffen Roth gefordert, zu Religion und anderen Funktionssystemen – zu diskutieren. Doch dieser konkreten Frage entzieht sich die Roth’sche Argumentation, um lieber über abstrakte Zusammenhänge zu philosophieren.


Uneingeschränkt Recht ist Steffen Roth zu geben, wenn er feststellt, dass es bei den Verschwörungstheorien nicht um Wahrheit, sondern um Macht geht. Nur haben wir offenbar andere Machthaber im Sinn. Ohne Zweifel sind viele der Teilnehmer an den sogenannten „Hygiene-Demos“ brave Durchschnittsbürger, denen der Lockdown ökonomisch den Boden unter den Füßen weggezogen hat, und deren Wut nachvollziehbar ist. Ihr Protest, dass sie nicht mehr Unterstützung erfahren, ist legitim. Auch die These von Franz Hoegl, dass die gesteigerte Unsicherheit die Tendenz zur Bildung von Verschwörungstheorien steigert, ist m.E. plausibel. Unsicherheit lässt sich u.a. durch Orientierung an Personen als Entscheidungsprämisse absorbieren – das funktioniert offenbar nicht nur, wenn diese Personen positiv idealisierte „Führer“ sind, sondern auch, wenn es negativ idealisierte Finsterlinge sind. Aber diejenigen, welche die Gates-Stiftung, Event 201 oder auch das Weltjudentum usw. als Ursache allen Übels identifizieren und zum Gegenstand ihres Hasses machen, sind m.E. lediglich „nützliche Idioten“ (mit Betonung auf Idioten). Sie lassen sich von Leuten, die mit dem politischen System – d.h. der repräsentativen Demokratie etc. – nicht einverstanden sind, zu deren Machtzwecken instrumentalisieren. Ich will mich hier nicht weiter über die Strategien von Populisten auslassen, da ich darüber an anderer Stelle ausführlich geschrieben habe („Anleitung zum...“).


An dieser Stelle würde ich gern meine Definition der „Verschwörungstheorie“ bzw. besser: „Verschwörungshypothese“ erweitern. Solche Hypothesen sind – und das scheint mir ein gesellschaftlich ziemlich relevanter Faktor zu sein – bei denen, die sie vertreten, ganz fest mit negativen Affekten gekoppelt („Zwei-Minuten-Haß“/Orwell).


Deswegen glaube ich auch nicht, dass ein Dialog mit ihnen möglich ist. Die von Heiko Kleve ins Feld geführte „systemische Haltung, nicht zu pathologisieren“ etc., teile ich nicht. Denn dabei handelt es sich um eine moralische Forderung, die m.E. nicht im Geringsten aus Systemtheorie und/oder Konstruktivismus ableitbar ist. Ich finde sie zwar sympathisch, aber ich denke, es ist weit sinnvoller, die generierenden Mechanismen von Pathologisierung zu studieren (usw.), statt sie zu verbieten, um dann die Konsequenzen daraus zu ziehen, die dem eigenen Wertsystem entsprechen...


Was mich – um der Einladung von Heiko Kleve auf die Meta-Ebene zu folgen – an den Texten Steffen Roths irritiert, ist, dass er in seiner „Analyse“ der Funktion von Verschwörungstheorien (die ja jetzt nur als Beispiel herhalten müssen) nicht konkret wird. Es bleibt beim vieldeutigen Raunen, d.h. sie produzieren diffusen Nebel, in dem man die Schatten irgendwelcher Verschwörer zu erkennen meint (Texte wie ein Rorschach-Test).


Mag sein, dass mein mangelndes Verstehen seiner Argumente daher rührt, dass ich als Praktiker Theorien immer nur als Mittel betrachte, um aus ihnen Handlungsanleitungen (Methoden) ableiten zu können. Daher stellt sich für mich die Frage – und ich gebe sie hiermit an Steffen Roth weiter: Was wäre denn in der gegenwärtigen Situation zu tun, wenn wir den schlankeren Staat hätten und wenn z.B. das Wachstum der Religion statt der Wirtschaft in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt würde? Mehr beten? Mehr Gottesdienste? Was dies betrifft, fand ja bereits ein beeindruckendes Superspreader-Experiment in Südkorea und, wenn auch im Ausmaß bescheidener, in der Frankfurter Baptistengemeinde statt.


 


 


Autoren


 


Franz Hoegl, Designer, Philosoph, Illustrator und Musiker. Creative Director der denkmalneu Unternehmensgruppe und Banjo-Spieler beim Alternative Country Trio „The Sandbox Josephs“. Veröffentlichungen u.a.: Sprachspiel Umschrift, Schrift der Form (zusammen mit Peter Fuchs), Black Box Beetle und Dig.


Heiko Kleve, Univ.-Prof., Dr. phil.; Sozialpädagoge und Soziologe sowie Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG), Case-Manager (DGCC) und Konflikt-Mediator (ASFH); Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen, Wirtschaftsfakultät, Universität Witten/Herdecke. Autor zahlreicher Bücher und einschlägiger Fachbeiträge zur systemisch-konstruktivistischen, systemtheoretischen und post- modernen Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften u. a.: Lexikon des systemischen Arbeitens (2012, zus. mit Jan V. Wirth) Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer systemischen Arbeitens (2019, zus. mit Jan V. Wirth), Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen (2016).


Steffen Roth, Prof. Dr. ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, Finnland. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie Technological Forecasting and Social Change, Journal of Business Ethics, Administration and Society, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, Journal of Cleaner Production oder Futures publiziert.


Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018) und Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019).