Tief, ganz tief, hinter den Systemen

Tief, ganz tief, hinter den Systemen


von Heiko Kleve


 


Mit unserem Blog passiert das, was wir uns wünschen: Er wird kritisch, ja sehr kritisch beobachtet. Wir machen offenbar Unterschiede im Strom der medialen Kommunikationen, die aufstören können. So wurden wir von einem Kritiker gefragt, ob wir denn nun auch „Verschwörungstheorien“ verbreiten würden. Insbesondere die letzten Statements von Steffen Roth und von mir würden zumindest diesbezügliche Positionen andeuten. Wer das überprüfen möchte, möge in unsere bisherigen Beiträge hineinlesen. Ich will die vergangenen Statements nicht wiederholen.


Was ich aber herausfordern möchte, ist, dass unsere beiden Protagonisten, Fritz Simon und Steffen Roth, ihre Bewertungen zu dem „Theoriemuster“ veranschaulichen, das derzeit medial hohe Beachtung genießt und das mit der abwertend gebrauchten Bezeichnung „Verschwörung“ versehen wird.


Problematisch ist zweifellos, dass seit geraumer Zeit all jene, welche nicht im Mainstream der Medien, der Politik und der Wissenschaft als passend eingeschätzte Meinungen vertreten, schnell in das Lager der „Verschwörungstheoretiker“ gesteckt werden. Dies führt zu destruktiven Polarisierungen im Diskurs und verunmöglicht das, was eine „offene Gesellschaft“ im Sinne Karl Poppers zu akzeptieren, mehr noch: herauszufordern hat, nämlich die Pluralität der Meinungen sowie die konsequente, aber zugleich wertschätzende und rationale Kritik. Natürlich geht es auch darum, „Theorien“, die keinem Realitätstest standhalten, die falsifiziert sind, als „falsch“ zu benennen und deren Verbreitung zu kritisieren. Aber in den Grenzen von „falsch“ und „wahr“ ist vieles möglich, können durchaus unterschiedliche Interpretationen und Deutungen zirkulieren, die sich als passend zeigen, weil sie bestimmte Probleme des Denkens oder des Handelns zu lösen imstande sind.


Wer aber „Verschwörung“ wittert, die unsere Gesellschaft aus den Angeln heben will, der sollte seine entsprechenden „Theorien“ grundsätzlich reflektieren. Denn fraglich ist, ob in einer funktional differenzierten Gesellschaft überhaupt so etwas wie heimliche Mächte denkbar sind, die hinter den Systemen lauern und uns alle zu beeinflussen, zu steuern versuchen.


Wir haben in diesem Blog bereits viel über das Spiel der gesellschaftlichen Funktionssysteme geschrieben. Diese Systeme entwickeln Eigendynamiken, die von einzelnen Menschen oder Gruppen nicht einseitig kontrolliert, geschweige denn determiniert werden können. Das lässt sich gerade sehr schön beobachten. Nicht nur die verschwörungstheoretischen, sondern zum Glück ebenso die rationalen Kritiker/innen der politischen Maßnahmen und der medial vorherrschenden wissenschaftlichen Meinungen werden immer lauter und zunehmend gehört.


Was ich unsere beiden Protagonisten nun fragen möchte, ist zweierlei: zum einen, woran wir so etwas wie „Verschwörungstheorien“ überhaupt erkennen können und zum anderen, welche Funktionen solchen „Theorien“ haben, welchen Sinn sie machen, und zwar für diejenigen, die sie verbreiten, aber auch für unsere Gesellschaft schlechthin.


 


 


Theorien – Verschwörungstheorien – Wahnsysteme


von Fritz B. Simon


Da im Moment viele Theorien, welche die aktuelle Corona-Krise als Resultat von Verschwörungen unterschiedlicher Art erklären, Anlass für öffentliche Erregung und Demonstrationen sind, kann es nützlich sein, einen Blick auf Theorien im Allgemeinen, Verschwörungstheorien im Speziellen zu werfen.


Aus konstruktivistischer Sicht liefern Theorien Erklärungen für beobachtete Phänomene. Eine Erklärung ist die hypothetische Konstruktion eines generierenden Mechanismus, der – wenn er wahr wäre – das beobachtete Phänomen hervorbringen würde. Theorien sind üblicherweise kohärente Systeme solcher Hypothesen. Kohärent soll dabei bedeuten: Es werden Prämissen formuliert, die zu Folgerungen führen, welche die Prämissen bestätigen.


Das gilt für Alltagstheorien, die jedermann entwickeln muss, um morgens aus dem Bett und tagsüber sicher über die Straße zu kommen („Wenn die Fußgängerampel grün zeigt, komme ich einigermaßen sicher über den Zebrastreifen…“). Dies gilt auch für wissenschaftliche Theorien, die sich allerdings von Alltagstheorien dadurch unterscheiden, dass ihre Hypothesen sich dem Test der Falsifizierbarkeit unterwerfen lassen müssen. Doch auch Alltagshypothesen lassen sich gelegentlich falsifizieren, und, wenn das der Fall ist, erweist sich ihr Besitzer als lernfähig.


Dass sie kohärent sind, gilt auch für die sogenannten Verschwörungstheorien. Auch sie legen ihren Erklärungen Prämissen zugrunde, die zu Folgerungen führen, welche die Prämissen bestätigen. Was sie von wissenschaftlichen Theorien unterscheidet, ist, dass sie nicht neutral sind, d.h. es werden Täter-Oper-Beziehungen konstruiert, in denen die Täter gegenüber den Opfern (meist den Vertretern dieser Theorien) Böses im Schilde führen – was bei sozialwissenschaftlichen Hypothesen und Theorien nicht der Fall ist.


Dieses Merkmal der Unterscheidung teilen Verschwörungstheorien mit Wahnsystemen – das zu betonen ist mir aus psychiatrischer Perspektive wichtig. Auch sie sind kohärent. Was sie von wissenschaftlichen und Alltagstheorien unterscheidet – aber m.E. mit Verschwörungstheorien verbindet – ist, dass sie generell nicht falsifizierbar sind. Wahnsysteme und Verschwörungstheorien sind deswegen nicht falsifizierbar, weil alle in der Sachdimension kommunizierten Daten, die den Prämissen zuwiderlaufen, entweder geleugnet, als „fake“ disqualifiziert oder als Bestätigung der Prämissen umgedeutet werden. Wenn dies nicht reicht, wird in die Sozialdimension der Kommunikation gewechselt, und derjenige, der die Wahrheit der Verschwörung bezweifelt, als ihr Mitglied identifiziert.


Wenn man sich die historische Entwicklung der menschlichen Erkenntnis – des Individuums wie der Menschheit – anschaut, so lässt sie sich folgendermaßen skizzieren: Wie das exemplarisch bei kleinen Kindern zu beobachten ist, werden die beobachteten Ereignisse zunächst als Resultat der Handlungen von Individuen erklärt (Magier, Zauberer, Hexen, der liebe Gott usw.), und es bedarf/bedurfte langer Zeit, ehe geradlinige Ursache-Wirkungs-Ketten konstruiert wurden, die immer noch demselben Täter-Opfer-Schema folgen, nur dass die Täter jetzt entpersonalisiert sind, d.h. zu sachlichen „Tätern“ wurden. Es bedurfte weiterer langer Zeit – und die wenigsten Leute haben diesen Schritt bislang vollzogen, wie mir scheint -, bis aus der geradlinigen Ursache-Wirkungs-Erklärung ein Modell der Selbstorganisation entwickelt werden konnte, d.h. ohne einzelne, identifizierbare Täter – obwohl es sicher immer noch jede Menge Opfer gibt.


Wahnsysteme wie Verschwörungstheorien sind m.E. regressive Phänomene, die eine Reduktion der Komplexität erlauben, die denen, die sie vertreten, klare Freund-Feind-Unterscheidungen ermöglichen (daher sind sie für Populisten so attraktiv). Wahnsysteme unterscheiden sich von Verschwörungstheorien so, wie ein individueller Wahn sich von einer Folie à deux unterscheidet – nur, dass wir es hier mit einer Folie á dix mille (oder wieviel auch immer) zu tun haben.


Doch durch diese Definition ist das Problem der Verschwörungstheorien natürlich nicht gelöst. Denn zu leugnen ist ja nicht, dass die beobachtbaren Phänomene immer durch unterschiedliche Hypothesen erklärbar sind. Es geht also um den Wettbewerb der Hypothesen. Bleibt die Frage, woran man eine Verschwörungstheorie erkennt. War es nicht doch die Gates-Stiftung, die in ihren Laboren Corona-Viren gezüchtet hat, um die Weltbevölkerung zu reduzieren? Usw.


Meine Antwort auf diese Frage ist: Wenn solch eine Hypothese nicht falsifizierbar ist, dann in die Tonne damit! Und wenn sie von vornherein davon ausgeht, dass irgendwer etwas Böses im Schild führt, auch dann in die Tonne – was nicht heißen soll, dass nie irgendjemand etwas Böses im Sinn hat und dass es nicht schlimme Folgen von gesellschaftlichen Entwicklungen gibt, unter denen konkrete Menschen leiden und von denen andere profitieren. Aber meistens lassen sich solche Phänomene weit besser als Effekte von Selbstorganisationsprozessen erklären. Und auf der Basis solcher Erklärungen lässt sich dann auch handeln (z.B., wie jetzt geschehen, durch die Staaten – aber das ist natürlich schon wieder eine Bestätigung der These, dass Bill Gates die Regierungen der Welt in der Tasche hat).


 


 


Verschwörungstheorie als Fremdbeschreibung


von Steffen Roth


 


Ich denke nicht, dass Nicht-/Falsifizierbarkeit den Unterschied zwischen Verschwörungs- und anderen Theorien macht. Immunisierung gegen Kritik ist im Wissenschaftsbetrieb weit verbreitet. Dort gilt sie zwar als kritikwürdig, aber sicher nicht als pathologisch. Niklas Luhmann etwa wurde seine «Flucht» in Paradoxien regelmässig als Versuch ausgelegt, seine Theorien der Falsifizierbarkeit zu entziehen. War Luhmann demnach ein Verschwörungstheoretiker?


Tatsächlich sind wir in der «regulären» Wissenschaft regelmässig mit Nicht-Falsifizierbarkeit konfrontiert, und das nicht zuletzt im Kontext der Corona-Krise. Ein Beispiel: Fritz Simon hat in seinem vorangegangenen Beitrag «Schmierige Symbiose» ganz zutreffend auf ein Paradox abgestellt: «Die Vorhersage der Katastrophe verhindert, dass sie stattfindet – eine Selbst-verneinende-Prophezeiung.» Wenn wir uns nun die Sonderauswertung zu Sterbefallzahlen des Jahres 2020 des Statistischen Bundesamtes vom 15. Mai 2020 ansehen, dann müssen wir uns – gelinde gesagt – sehr viel Mühe geben, eine Pandemie in die Zahlen hineinzulesen. Nun kann man das Ausbleiben eines dramatischen Anstiegs der Zahlen auf den Erfolg der just zu diesem Zweck getroffenen Massnahmen zurückführen. Das wäre die mehrheitsfähige und insofern auch politisch korrekte Auslegung des Sachverhalts. Wer die Zahlen dahingegen als Indiz für einen allgemeinen Fehlalarm interpretiert, der hat aktuell einen schweren Stand, obwohl es sich in beiden Fällen um ebenso logische wie nunmehr schwer bis gar nicht falsifizierbare Vermutungen handelt.


Insofern geht es bei der Beobachtung von Verschwörungstheorien auch in der aktuellen Coronakrise allenfalls vordergründig um fehler- oder wahnhafte Wahrheitsprogramme. Im Kern geht es vielmehr darum, einen gegnerischen Standpunkt zu diskreditieren und die politisch gewünschten Grenzen des Diskurses über Krisen und Konflikte zu demarkieren.


Dazu passt, dass sich Verschwörungstheoretiker ebenso selten als Verschwörungstheoretiker bezeichnen wie Terroristen als Terroristen. Insofern möchte ich Heiko Kleves Frage nach der Funktion von Verschwörungstheorien eine neue Richtung geben: es geht nicht um die von Fritz Simon als «regressiv» eingestuften Persönlichkeitsprofile und Motive der sogenannten Verschwörungstheoretiker. Eine solche Psychologie erklärt uns nicht, warum uns der fachlich bestens ausgewiesene Dr. Wolfgang Wodarg als verschwörungstheoretischer «Lungenarzt» und ein komplett fachfremder Astrophysiker wie Prof. Harald Lesch als der bessere Corona-Experte präsentiert wird. Statt um den Geisteszustand von Personen geht es demnach um die Frage, aus welchen Gründen welche Ideen mit der Fremdbeschreibung Verschwörungstheorie belegt werden.


Auch hier muss man kein Verschwörungstheoretiker sein, um zu beobachten, dass dieser Fremdbeschreibung aktuell eine ebenso disziplinierende wie rechtfertigende Funktion zukommt im Kontext einer Gesundheitspropagandaoffensive, die ihresgleichen sucht in Ausmass und Unverblümtheit. Die Herbeibeobachtung von Verschwörungstheorien demarkiert und kontexutalisiert dabei das öffentlich Sagbare und Gesagte, während sie gleichzeitig die Weiterführung der Propagandaoffensive begründet. So hat etwa der UN Generalsekretär António Guterres in seiner video message on COVID-19 and misinformation vom 14. April 2020 Verschwörungstheorien kurzerhand zur Krankheit erklärt («Wild conspiracy theories are infecting the Internet») die es ebenso konsequent zu bekämpfen gelte wie das Virus. So rechtfertigt sich dann auch seine «new United Nations Communications Response initiative to flood the Internet with facts and science while countering the growing scourge of misinformation». Verschwörungstheorien als Geissel einer Menschheit, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits größtenteils in Hausarrest befand. Gefahr war nicht mehr in Verzug. Der massive Eingriff in die Pressefreiheit, der ausdrücklich auch Social-Media-Plattformen einschließt, wurde offen kommuniziert. Ein Beispiel unter vielen.


Nicht anders als bei der Fremdbeschreibung «Terrorist», liegt die Hauptfunktion der Beobachtung von «Verschwörungstheorien» darin, die normalen Spielregeln eines Konflikts oder Diskurses ausser Kraft zu setzen. Entsprechend von Selbstbindungszwängen befreit lassen sich Interessen dann mit aller Gewalt durchsetzen. Was einmal mehr zeigt, dass Verschwörungstheorien im Grunde Verschwörungsideologien sind. Es geht um Macht, und nicht um Wahrheit.


 


 


 


Autoren


 


Heiko Kleve, Univ.-Prof., Dr. phil.; Sozialpädagoge und Soziologe sowie Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG), Case-Manager (DGCC) und Konflikt-Mediator (ASFH); Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen, Wirtschaftsfakultät, Universität Witten/Herdecke. Autor zahlreicher Bücher und einschlägiger Fachbeiträge zur systemisch-konstruktivistischen, systemtheoretischen und post- modernen Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften u. a.: Lexikon des systemischen Arbeitens (2012, zus. mit Jan V. Wirth) Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer systemischen Arbeitens (2019, zus. mit Jan V. Wirth), Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen (2016).


Steffen Roth, Prof. Dr. ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, Finnland. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie Technological Forecasting and Social Change, Journal of Business Ethics, Administration and Society, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, Journal of Cleaner Production oder Futures publiziert.


Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018) und Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019).