Kontext

engl. context, franz. contexte m, lat. contextus = »der Zusammenhang, das Verwobene, das sich Verwebende«. Der Begriff des Kontextes ist kein Grundbegriff der Systemtheorie und findet auch in soziologische oder philosophische Wörterbücher und Lexika selten Eingang. Er formuliert das Problem der Ökologie von Beziehungen/Relationen und Differenzen/Unterscheidungen. Die Traditionslinien dieses Problems und damit des Begriffs weisen auf Fragen nach dem Beobachter (observer, actor) im Raum als seiner Umgebung einerseits und in der Welt als seiner Umwelt andererseits (environment, milieu, setting). Auch Begriffe wie Feld, Diskurs oder Medium weisen daher Bezüge zum Kontext-Begriff auf. Vor allem aber zeichnet sich in ihm eine Möglichkeit der soziologischen Verknüpfung der Begriffe System und Netzwerk ab. In der soziologischen und der kognitionswissenschaftlichen Systemtheorie wird dieses ökologische Problem mithilfe der rekursiven Differenz von Selbst- und Fremdreferenz bzw. der Rekursion der Ego-Alter-Relation beschrieben, die von der strukturalistischen Netzwerktheorie aufgenommen wird. Wenigstens vier argumentative Pfade sind nachweisbar:


(1) Das soziale System als relationaler Kontext (Talcott Parsons): Insofern, als das soziale System ein System von Interaktionsprozessen zwischen Handelnden ist, ist die Struktur der Relationen zwischen den auf diese Weise involvierten Handelnden wesentlich (»essential«) für die Struktur dieses Systems, definiert Parsons und bezeichnet das System als »Netzwerk dieser Beziehungen« (Parsons 1951, p. 25). Dieses Netzwerk wird gerahmt durch die Differenz eines positionalen Aspekts (der bezeichnet, wo der Handelnde seinen Ort bzw. seinen Platz hat) und eines prozessualen Aspekts (der bezeichnet, was der Handelnde tut) bzw. durch die Differenz (das »Bündel«) von Status und Rolle (ebd.). Diese Differenz ist das kontextuelle Ereignis des Sozialen – die basale »Einheit« (»unit«) des sozialen Systems –, nicht die Eigenschaften des Handelnden, dem das Soziale des Systems gleichwohl zugerechnet werden kann (ebd.). Der soziologisch interessante Punkt (»point of reference«) ist deshalb stets die Differenz von Status und Rolle bzw. Positionalität und Prozessualität: der Referenzrahmen des Handelns (»action frame of reference«; ebd., p. 3 ff.). Jede soziale Differenz und jedes soziale Ereignis ist, mit anderen Worten, ein System bzw. ein Netzwerk, weil jeder »unit act« ein relationaler Kontext ist (ebd., p. 68). In der Arbeit an und mit diesem Kontext (»framework«, ebd., p. 22) analysiert und beschreibt Parsons die funktionalen Implikationen dieser komplexen Differenz. Der Anspruch dieser theoretischen Analyse ist empirisch: Jedes soziale Ereignis bzw. jeder unit act ist selbst ein framework, eine Rekursion von relationalen Problemkontexten des Handelns (ebd., p. 73); jede Handlung ist System.


(2) Die Negation als kontextuelle Strategie des Definierens (Kenneth Burke, Gotthard Günther, George Spencer-Brown): Nicht weit von Parsons’ framework, einer Diagrammatik des unit act im Kontext der Differenz von Position und Prozess, diskutiert Kenneth Burke (1969) unter dem Titel Ways of Placement eine Grammatik kommunikativer Motive des Handelns. Der Wechsel von Handlung zu Kommunikation bedingt den Wechsel von Position zu Negation, weil die Bestimmung einer Position deren Unterscheidung provoziert: Jede kontextuelle Bestimmung ist eine negierende Bestimmung – was nichts anderes heißt, als dass jede Bestimmung eines Gegenstandes die Bestimmung dessen impliziert, was dieser Gegenstand nicht ist (»all determination is negation«; ebd., p. 25). Also gilt: Alles positiv Bestimmte ist zugleich negativ bestimmt (»every positive is negative«; ebd.); jede Bestimmung schließt ihre Negation ein. Sprachlich ist diese Bestimmung in Ausdrücken wie Szene, Umgebung, Situation, Kontext oder Grund markiert (ebd., p. 24). Diesen Einschluss des Ausgeschlossenen auf dem Wege der Definition einer Position als Möglichkeitenraum bzw. als Raum unvermeidlicher Unsicherheit und Ungewissheit (»area [of ] unresolvable ambiguity«, ebd.) bezeichnet Burke als »kontextuelles Paradox« (ebd.). – Ähnlich haben sowohl Gotthard Günther (1979) – formalisiert durch den Indikationenkalkül George Spencer-Browns (1969) – als auch Gregory Bateson (1972; die soziologische Anwendung bietet Goffman 1974) argumentiert. Beide ersetzen den Begriff der Definition durch den operationalisierten Begriff der Kognition, und vor allem Günther ersetzt überdies den Begriff des Kontextes (Bateson: »Rahmen«) durch den der Kontextur (Bateson: »Spiel«), was deutlich macht, dass Parsons’ Unterscheidung von Position und Process auf Burke’s Unterscheidung von Position und Negation bezogen werden kann: Nicht nur schließt jede Position ihre Negation ein, sondern jede Position schließt auch den Weg von Möglichkeit zu Möglichkeit ein, impliziert also eine Wechselchance; Position ist selbst immer Prozess (Parsons), ist selbst immer beweglich-variable Setzung (Burke), ist selbst immer Spiel (Bateson). Jede Position ist Negation, und jeder Kontext ist Kontextur.


(3) Das System als selbstreferentielle Ökologie (Niklas Luhmann): Aus einer Verknüpfung der Unterscheidungen von Position und Prozess einerseits (»System«, später auch – Spencer-Brown folgend – »Form«) und Position und Negation andererseits (»Sinn«, später auch »Medium«) gewinnt Luhmann (1984, insbes. S. 242 ff.) die Unterscheidung von System und Umwelt. Erneut verknüpfen sich empirischer und theoretischer Rahmen. Schon der Untertitel »Grundriss« ist in diesem Sinne explizit diagrammatisch gemeint (auch Parsons nennt sein framework mehrfach eine Arbeit an Diagrammen) und referiert damit auf das Problem des Kontextes als einer Unterscheidung (»Riss«), die ihren eigenen Möglichkeitenraum, ihre eigene Negativität, ihre eigene Ambiguität (»Grund«) entwirft: Das System ist ein Kontext, der sich selbst kontextiert. Die Umwelt ist daher immer Umwelt des Systems – ein Genitiv, mit dem Luhmann in zahlreichen Buchtiteln arbeitet (womit er zugleich die Kontextur der Systemtheorie als framework nach Parsons und als Spiel nach Bateson ausweist). Also ist »das Umweltverhältnis konstitutiv für Systembildung«, also ist »die Umwelt [...] Voraussetzung der Identität des Systems, weil Identität nur durch Differenz möglich ist« (ebd., S. 242 und 243). Dieses »nur durch Differenz möglich« definiert den Kontext. Die Systemtheorie ist daher selbst, wie ihr Gegenstand, darauf festgelegt, ihren »Ausgangspunkt ... nicht [in] eine[r] Identität, sondern [in] eine[r] Differenz« zu suchen (ebd., S. 243): Der »point of reference« der Systemtheorie ist eine »Systemreferenz«, und das wiederum heißt: eine unbestimmte, aber bestimmbare System-Umwelt-Differenz (ebd., S. 244). Luhmann verweist ausdrücklich auf Spencer-Brown (ebd., Fn. 4), implizit aber auch auf Parsons: »Umwelt ist ein systemrelativer Sachverhalt«, und auf Burke: »›Die‹ Umwelt ist nur ein Negativkorrelat des Systems ... einfach ›alles andere‹« (ebd., S. 249). Wie »einfach« diese Korrelation zu denken ist, markiert Luhmanns Metapher des in das System als »Orientierungsstruktur« eingeführten »Komplexitätsgefälle[s]« (ebd., S. 250 und 251), was nichts anderes bezeichnet als die Vermutung, dass die Umwelt »einfach« die Kontextur der System-Umwelt-Differenz im Raum dieser Differenz »ist«. Solche und ähnliche Formulierungen markieren die Systemtheorie Luhmanns als Theorie, die sich unter dem Namen des Systems mit dem durch Burke indizierten kontextuellen Paradox befasst. Luhmann bezeichnet die Negativität dieser Kontextur als »Kontingenz« und schlägt zwei Umgangsformen mit deren Paradox vor: Entweder »wird die Umwelt als Ressource aufgefasst, [dann] erfährt das System Kontingenz als Abhängigkeit«; oder sie wird »als Information aufgefasst, [dann] erfährt das System Kontingenz als Unsicherheit« (ebd., S. 252). Diese »Kontingenzerfahrung« (ebd.) ist nichts anderes als die Kognitionsform der Differenz bzw. die Operationalisierung des kontextuellen Paradoxons.


(4) Das Netzwerk als Form kontextualisierter Kontexte (White 2008): Eine parallel entwickelte, unter Umständen gleichwohl konkurrierende Form der Verknüpfung von Struktur und Prozess, wie sie Luhmann unter dem Titel des Systems erarbeitet, bietet White unter dem Titel des Netzwerks an. White formuliert die systemtheoretisch konstitutive System/ Umwelt-Differenz als Kontrollproblem jeder Identitätssuche, stimmt Burke (den er über Goffman rezipiert) hinsichtlich der Ambiguitätsimplikation zu und interpretiert das Netz als unsichere semantische Struktur: als immer brüchige Verknüpfung (»tie«) von Geschichten (»stories«), als mehr (»council«) oder weniger (»interface«) stabiles Arrangement von Möglichkeiten im Raum dieser Möglichkeiten. Er geht daher so weit, den Begriff der Gesellschaft nur noch als Kurzfassung (»shortcut«) dieser sich laufend umbauenden Kontextur hinzunehmen (White 2008, p. 337). Tatsächlich handelt es sich auch bei White’s Begriff des kontextualisierten Kontexts (»contextualizing contexts«; ebd.) um ein framework of relationships wie bei Parsons und Goffman und um eine Operationalisierung von differenten Identitäten wie bei Luhmann. Zu Burkes Ausdrücken wie Szene, Umgebung, Situation, Kontext oder Grund (s. o.) kommt mit White der vielgestaltige und vieldeutige Ausdruck »Netzwerk« hinzu, und wie jene, so ist auch dieser ein ›Verb‹ (ebd., S. 66). Jedes Netz ist ein sich beschreibender Kontext.


In der systemischen Praxis gewinnt das Problem des Kontexts überall dort an Raum, wo Zurechnungen auf Handelnde prekär werden: etwa weil diese Zurechnung Schuldfragen evoziert und damit Identitäten – ein Ich, das gehandelt hat und erneut handeln kann – sowohl ermöglicht als auch erzwingt; etwa weil diese Zurechnung von Kommunikation auf Handlung und von Handlung auf Handelnde und deren Identität – umso mehr dann, wenn Gruppenidentitäten impliziert sind – Konflikte evoziert. Kontextualisierung führt Identitätsfragen auf Differenzfragen zurück und »kühlt« (Goffman) die damit verbundenen Zumutungen (aber auch die damit verbundenen Hoffnungen) soweit ab, dass sie sowohl für das betroffene bzw. bezeichnete Ich als auch für dessen Umgebung erträglich werden. Kommunikationspraktischer Hintergrund dieser Erträglichkeit ist die oben beschriebene Negativität; durch Kontextualisierung werden die zugemuteten Identitäten aus positionalen Festlegungen in variable Möglichkeiten übersetzt, sie werden negiert – und geschehe dies nur dadurch, dass aus unausweichlichen Abhängigkeiten mögliche Unsicherheiten werden (Umwelt also nicht mehr nur knappe Ressource sein muss, sondern auch selektive Information sein kann, siehe oben zu Luhmann). Eine praktisch-methodische Anwendung der Kontextualisierung in direktem Bezug auf Bateson und Spencer-Brown sind die »Systemischen Strukturaufstellungen« nach Matthias Varga von Kibéd (ders./Sparrer 2000), die das System unter dem Problemtitel der Systemischen Struktur als sich selbst kontextualisierenden Kontext vor Augen (in den Raum) zu stellen ver vor Augen (in den Raum) zu stellen versuchen.


Verwendete Literatur


Bateson, Gregory (1972): Steps to an ecology of mind. (With a new foreword by M. C. Bateson.) Chicago/London (University of Chicago Press). [Dt. (2006): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt am Main (Suhrkamp), 9. Aufl.]


Burke, Kenneth (1969): A grammar of motives. Berkeley/Los Angeles/London (University of California Press).


Goffman, Erving (1974): Frame analysis. An essay on the organization of experience. (With a new foreword by Bennett Berger.) Boston (Northeastern University Press), 1986.


Günther, Gotthard (1979): Life as poly-contexturality. In: Gotthard Günther: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Bd. 2. Hamburg (Meiner), S. 283–306.


Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 4. Aufl. 1993.


Parsons, Talcott (1951): The social system. New York (Oxford University Press).


Spencer-Brown, George (1969): Laws of form. New York (Dutton), 1994. [Dt. (2004): Laws of form – Gesetze der Form. Leipzig (Bohmeier).]


Varga von Kibéd, Matthias u. Inss Sparrer (2000): Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen. Heidelberg (Carl-Auer), 7. Aufl. 2011.


White, Harrison C. (2008): Identity and control. How social formations emerge. Princeton, NJ (Princeton University Press).