autobahnuniversität / Helm Stierlin - Entwürfe der Gerechtigkeit im Lichte systematischer Praxis

Es war Helm Stierlin, der das Konzept Bezogene Individuation in die psychotherapeutische Theorie und Praxis einführte. Ein Konzept, das teils in offener Bezugnahme (wie beispielswiese bei Gunther Schmidt im hypnosystemischen Ansatz, bei Fritz B. Simon, u. a.), teils über andere begriffliche und praktische Spuren große Bedeutung entfaltet hat. Auch die Betrachtung des Verhältnisses von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung kann über die Frage nach dem Prozess der Individuation und deren Bezogenheit auf normativ Geltendes in ein erhellendes Licht gebracht werden. Die Frage nach der Bedeutung von Gerechtigkeit stellt sich hier selbstredend mit auf den Plan. Stierlins weitsichtiges Buch Gerechtigkeit in nahen Beziehungen liegt jetzt druckfrisch in der dritten Auflage vor, just in der Zeit, da sein Autor seinen 95. Geburtstag begehen kann. In dem hier von der Autobahnuniversität dokumentierten Vortrag Helm Stierlins aus den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts steht Zentrum, wie ein handhabbares Verständnis von Gerechtigkeit aus einer systemischen Perspektive entfaltet werden kann, das menschliche Individuen in ihrer Entwicklung befördert und diese zugleich in ein umfassendes Verantwortungsgeschehen einbettet. Gerechtigkeit, so Stierlin, ist ein zentrales Anliegen und die vielleicht erstaunlichste und für das Überleben der Menschheit wichtigste menschliche Errungenschaft überhaupt. Zugleich sind im Zuge der Ausgestaltung von Lebensformen, die als gerecht gelten wollen, Konflikte unvermeidlich. Regeln, die Rechtsfrieden und Rechtssicherheit garantieren sollen, sind zugleich immer wieder Thema der Prüfung und Auseinandersetzung.


Sowohl im Blick auf bedeutende weltgeschichtliche Ereignisse wie bspw. den Versailler Friedensvertrag von 1919 (von Gregroy Bateson, so Stierlin, als misslungen und als eine Basis für schreckliche neue Eskalationen im 20. Jahrhundert angesehen) wie auch auf die Erfahrungen im Heidelberg Team bei der therapeutischen Arbeit mit in konfliktträchtigen Mustern verhafteten Familien oder Paaren („maligner Clinch“) entwirft Stierlin einen weiten Bogen über die Frage, wie sich Regeln der Gerechtigkeit überhaupt etablieren und wie dabei dafür Sorge getragen werden kann, dass, entgegen einer Tendenz tu Totalitarismus, ein Platz für neuerliche „Unruhestifter“ verbleibt, von woher noch bessere Entwicklungen angestoßen werden können. Es zeigt sich bei Stierlin das enorme Potenzial, das in der Kombination aus gut sortierender philosophischer Reflexion und großer praktisch-therapeutischer Erfahrung begründet liegt.


Helm Stierlin, Prof. em., Dr. med. et phil., geb. 1926 in Mannheim, arbeitete zwischen 1955 und 1974 an verschiedenen psychiatrischen Kliniken und Forschungsinstituten, vor allem in den USA, wo er zum Psychoanalytiker ausgebildet wurde. Dazwischen nahm er Professuren und Gastdozenturen an verschiedenen amerikanischen Universitäten sowie in Neuseeland und Australien wahr. Von 1974 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1991 war er ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Universität Heidelberg. 1985 erhielt Stierlin den renommierten Distinguished Professional Contribution to Family Therapy Award der American Association for Marriage and Family Therapy.


Beim Mund-Nasen-Schutz bleiben die Ohren frei! Also: Ob im Auto oder mit der Maske in der großen weiten Welt: Kopfhörer auf und Autobahnuniversität hören! Jeder Stau bringt Sie weiter. Und, wo es geht, die freien Augen und den freien Geist nutzen: Carl-Auer Bücher lesen!