Beziehung
engl. relationship, franz. relation f, bezeichnet ein Interdependenzverhältnis zweier Handelnder, das sich als ein spezifisches Sozialsystem (System) ausdifferenziert. Wie in den Sozialwissenschaften allgemein so wird auch beim systemischen Arbeiten der Begriff der Beziehung in vielfacher Weise verwendet: Man spricht ganz grundlegend von sozialen Beziehungen, aber auch spezifischer von Beziehungen von Paaren, in Familien, von Eltern-Kind-Beziehungen (Elternschaft, Kind) oder allgemeiner von persönlichen Beziehungen sowie (davon abgrenzend) von professionellen Beziehungen z. B. in der Beratung oder in der Therapie. Auffällig ist dabei sowohl die Ubiquität des Begriffsgebrauchs als auch die Unschärfe in der Begriffsverwendung. Beides hängt mit einem Sachverhalt zusammen, der im angelsächsischen Sprachgebrauch in der Unterscheidung von relation und relationship zum Ausdruck kommt: Man kann sich auf jemanden beziehen und man kann mit jemandem eine Beziehung haben. In der üblichen Begriffsverwendung werden beide Bedeutungsinhalte fusioniert, ohne dass diesem Sachverhalt weitere Aufmerksamkeit zuteilwird. Aus einer systemtheoretisch informierten Perspektive in der Nachfolge Niklas Luhmanns lassen sich beide Sachverhalte dagegen deutlich voneinander trennen und gerade deshalb miteinander relationieren.
Ganz grundlegend kann Sozialität verstanden werden als der Sachverhalt, bei dem Handelnde ihr Handeln an den Erwartungen über das Handeln des Gegenübers orientieren. Indem sich Handelnde aufeinander beziehen, treten sie in ein Interdependenzverhältnis, das man als konstitutiv für das Soziale verstehen kann. Die aus der wechselseitiger Bezugnahme resultierende Situation der doppelten Kontingenz, die zunächst eine Handlungsblockade nahelegt, wird dadurch aufgelöst, dass versuchsweise trotzdem gehandelt wird, mithin Erwartungen erfüllt oder enttäuscht werden und damit Kontingenz reduziert wird (s. Luhmann 1984, S.148 ff.). In der Folge emergiert nahezu zwangsläufig ein Sozialsystem in der Form eines Erwartungszusammenhangs, der weitere Handlungen steuert.
Diese emergente Systemebene kann zunächst als Interaktion beschrieben werden in der Form eines sozialen Systems von Kommunikation unter Anwesenden, das sich auf der Grundlage des Wahrnehmens des Wahrnehmens des Anderen ausdifferenziert (Luhmann 1975). Für die Interaktion konstitutiv ist, dass sie als soziales System in dem Augenblick beendet wird, in dem die Interaktionspartner auseinandergehen. Der empirisch häufig beobachtbare Sachverhalt, dass sich dieselben Interaktionspartner zu einem späteren Zeitpunkt wiedertreffen und die Kommunikation an die frühere Interaktion anschließt, muss systemtheoretisch als ein Zusammenhang verschiedener Interaktionen verstanden werden, so dass Luhmann (1975, S. 32) von einer »intermittierenden Interaktion« spricht. Denselben Sachverhalt hat die sozialpsychologische Forschung zu relationships im Blick, wenn sie betont, dass eine Beziehung als eine Reihe von Interaktionen verstanden werden kann, die sich wechselseitig aufeinander beziehen und die sich dadurch als ein Interaktionszusammenhang mit einer eigenen Geschichte ausdifferenzieren (s. Hinde 1979, 14 ff). Ein solcher Interdependenzzusammenhang von Interaktionen, der seine Einheit wesentlich über den Rekurs auf die Identität der beteiligten Interaktionspartner generiert, kann dann als Beziehung im Sinne eines spezifischen Sozialsystems bezeichnet werden (s. Schmidt 2007).
Das Besondere der Beziehung als Sozialsystem ist, dass beide Systemebenen – psychisches und soziales System – in ihren Strukturen über die kommunikative Zuschreibungsfigur der Person systematisch miteinander verschränkt werden. Die Person ist ein Erwartungskomplex im Sinne einer Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten, der an ein spezifisches Individuum gebunden ist und somit sowohl das soziale System selbst wie auch das an der Kommunikation beteiligte psychische System hinsichtlich seiner weiteren Handlungsmöglichkeiten einschränkt (Luhmann 1995). Das nicht auf die beteiligten psychischen Systeme (der aufeinander bezogenen Handelnden) zurückführbare, sondern emergente soziale System Beziehung macht sich also in einer umfassenderen Weise von den Identitäten der Beziehungspartner abhängig, indem es seine Strukturen an die Strukturen der beteiligten psychischen Systeme koppelt: Aufgrund der gemeinsamen Geschichte von Interaktionen gibt es eine wechselseitige Bindungswirkung der jeweiligen Eigenstrukturen der beteiligten Systeme.
Diese spezifische strukturelle Kopplung von psychischem und sozialem System stellt für das systemische Arbeiten insofern eine besondere Herausforderung dar, da es bei der Frage, wie eine problematische Beziehung therapiert werden kann, weder allein um die Änderung der beteiligten Beziehungspartner noch um die ausschließliche Änderung der zugrunde liegenden sozialen Beziehung gehen kann, sondern immer beide Systemperspektiven zugleich im Blick behalten werden müssen. Darauf reagiert die systemische Paar- und Familientherapie in zweierlei Weise: Einerseits indem sie herausstellt, dass Beziehungsschwierigkeiten (soziales System) auf die unterschiedlichen Sichtweisen der beteiligten Beziehungspartner (psychisches System) zurückzuführen sind (s. Ebbecke-Nohlen 2009); und andererseits indem sie betont, einen Therapieerfolg nicht durch eine direkte Veränderung der beteiligten Beziehungsmitglieder erreichen zu wollen, sondern durch eine Intervention in das soziale System selbst, in deren Folge es zu Strukturänderungen im Sozialen und damit auch zu Verhaltensänderungen der beteiligten Individuen kommen soll (s. Simon 1998). Da aber psychische und soziale Systeme auch in engen sozialen Beziehungen jeweils Umweltsysteme füreinander sind, werden Strukturveränderungen in einem System zu einem nichttrivialen Sachverhalt, da sie strukturelle Folgen für die andere Systemebene zwar implizieren, aber nicht determinieren können. Konsequenterweise muss die systemische Therapie als eine Technik der gleichzeitigen, und das heißt: unkontrollierbaren Irritation sozialer und psychischer Systeme verstanden werden, die beim Infragestellen etablierter Identitätskonstruktionen im Rahmen von Beziehungen auch die Folgen der Intervention für beide Systemtypen zugleich im Blick behalten muss: Die Frage, wie sich ein Individuum als Person in der bisherigen Interaktionsgeschichte der Beziehung präsentiert hat, ist wesentlich sowohl für das Selbst- und Fremdbild dieses Individuums als auch für das Selbstverständnis der Beziehung, so dass auch beide Identitätsfiguren von einer entsprechenden Irritation betroffen sind. Eine therapeutische Intervention hat also immer Struktureffekte auf beiden Systemebenen zur Folge, deren Wechselwirkung nur schwer abzuschätzen ist, da soziale und psychische Systeme in einem kybernetischen Verhältnis zueinander stehen, so dass es keinen einfachen Ursache-Wirkungs-Mechanismus gibt, auf den der Therapeut zurückgreifen könnte.
Verwendete Literatur
Hinde, Robert A. (1979): Towards Understanding Relationships. London (Academic Press).
Schmidt, Johannes F. K. (2007): Beziehung als systemtheoretischer Begriff. Soziale Systeme 13 (1/2): 516–527.
Simon, Fritz B. (1998): Systemische Therapie und Sozialpsychiatrie. In: Theodor Meißel u. Gerd Eichberger (Hrsg.): Sozialpsychiatrie und Psychotherapie. Linz (edition pro mente), S. 61–75
Weiterführende Literatur