Beratung

engl. counseling/to counsel, franz. déliberation f, conseiller v/t; lässt sich definieren als gemeinsames Verhandeln von Problemen und Lösungen in einem kommunikativen Austausch, bei dem die Beteiligten die Rollen als Ratsuchende und Berater in gegenseitiger Übereinstimmung einnehmen (vgl. Thiersch 2004). Einzelpersonen (Person), Paare, Familien, Gruppen oder Organisationen können sich beraten lassen. Zu unterscheiden sind Sach-Beratung zur Informationsvermittlung und Beratung bei Schwierigkeiten, KonfliktenKrisen, psychischen Problemen. Ob eine Gesprächssituation Beratung oder Therapie darstellt, lässt sich von einer Außenperspektive her nicht feststellen (vgl. Großmaß 2004). Die gängige Unterscheidung, dass sich Beratung in einem Hilfediskurs (Helfen) bewege (für Orientierungs-/Entscheidungshilfe), während Psychotherapie in einem Heilungsdiskurs zu verorten sei (auf »Störungen mit Krankheitswert« ausgerichtet; Engel u. Sickendieck 2004), ist für den systemischen (System) Ansatz nicht stimmig; denn maßgeblich ist hier für Beratung wie Therapie ein Problem(auf) lösekontext (Kontext). Im Folgenden einige typische Kennzeichen systemischer Beratung (vgl. Schweitzer u. Weber 1997; Haselmann 2007):


Der Denkansatz:


• Sichtweise, die Interaktions-/Kommunikationssysteme zu ihrem Gegenstand macht bei Achtung ihrer Selbstorganisation und Autonomie
• Fokus auf den Wechselbeziehungen statt auf den Eigenschaften isolierter Individuen (Individuum)
• Betrachtung von psychosozialen Phänomenen als Beschreibungen von Interaktionsprozessen aus jeweiliger Beobachtersicht statt Annahme beobachterunabhängiger Fakten
• Problemverhaltensweisen/Störungen gelten als interaktionelle Probleme oder unglückliche Kommunikationen statt als negative Zustände/Eigenarten einzelner Personen.


Der Arbeitsansatz:


• zirkuläre Beschreibung von Kreisprozessen (= interaktionelle Hypothesen; Hypothetisieren) statt Annahme linearer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge
• Akzentuieren der Beziehungsaspekte von Kommunikation statt vorrangiger Konzentration auf die Inhaltskommunikation
• Verständnis von Beraten als Anregen oder »Verstören« statt als Instruktion oder Psychoedukation
• Schaffen eines kommunikativen Milieus für Veränderungen statt Vorgabe expertendominierter Veränderungsziele (Ziel)
• Ressourcen- und Lösungsorientierung statt Defizitorientierung und Problemvertiefung.


Die Grundhaltungen:


• Respekt gegenüber den Klienten und ihren Problemlösungsversuchen
• Kundenorientierung/Auftragsorientierung
• Neutralität/Neugier; bewusstes Nichtbewerten; Anerkennung der Expertise des Nichtwissens.


Theoretische Bezüge der systemisch-konstruktivistischen Beratung (s. Ludewig 2002) sind: Systemtheorie als Theorie autopoietischer Systeme (Humberto Maturana sowie Niklas LuhmannAutopoiesis), radikaler Konstruktivismus (Ernst von Glasersfeld) sowie »Kybernetik 2. Ordnung« (Heinz von Foerster). Das beinhaltet: Bedeutungen, die dem präsentierten Problem zugeschrieben werden, gelten als subjektive Wirklichkeitskonstruktionen, die weder wahr noch falsch sein können, wohl aber mehr oder weniger passend/nützlich/hilfreich für Problembewältigung/Leidensverringerung (= konstruktivistische Position). Gemäß dem Autopoiesis-Konzept sind zielgerichtete Einwirkungen nicht möglich. Es können lediglich alternative (ggf. irritierende; Irritation) Wirklichkeitssichten übermittelt bzw. Verstörungen von Problemkreisläufen versucht werden. Erwünschte Veränderungen sind weder planbar noch voraussehbar; wenn sie sich einstellen, erfolgen sie gemäß der Eigenlogik und Eigendynamik der sich selbst organisierenden Systeme. Da nicht direkt in das autonome psychische System eines Klienten interveniert werden kann, wird in der Beratung der Zugang über das soziale System (Sozialsystem) – als eine Umwelt der Psyche – versucht, d. h. vermittels Intervention in das als relevant erachtete Kommunikationssystem (vgl. Simon 1995). Mit Blick auf die System-Umwelt-Grenzen wird gefragt, wer oder was zu einem Problemsystem (das sich kommunikativ um die Definition eines Verhaltens als Problem herum organisiert) dazuzurechnen ist und wer oder was nicht. Der Berater handelt in dem Bewusstsein, dass er kein außenstehender Beobachter ist, sondern immer zu einem Teil des Problemsystems wird bzw. mit dazugehört (Kybernetik 2. Ordnung). Klienten gelten als Experten für ihr Leben; Berater sollen Experten für die Gestaltung des Beratungsprozesses sein.


Daneben sind lösungsorientierte sowie narrative Beratungsansätze zu nennen, die andere theoretische Bezüge herstellen, z. B. zu: Sprachphilosophie (Ludwig Wittgenstein), postmodernen/post-strukturalistischen Positionen (Jaques Derrida, Michel Foucault), sozialem Konstruktionismus (Kenneth Gergen). Metatheoretisch kann aber von einer gemeinsamen Denkrichtung gesprochen werden (vgl. Ludewig 2005). Vorgehensweisen (vgl. von Schlippe u. Schweitzer 1996; Haselmann 2008, Kap. 3): Im Wesentlichen geht es darum, eine neue Kommunikation in Gang zu setzen. Zu Beginn wird der Überweisungskontext geklärt und man erkundet Erwartungen/Anliegen der Klienten ggf. bis hin zur Vereinbarung eines Auftrags. Wichtig ist die Herstellung einer kooperativen Arbeitsbeziehung – der Berater hat zu kooperieren! In systemisch-konstruktivistischer Beratung erfolgt der Versuch, neue Information einzuführen, hauptsächlich vermittels des zirkulären Fragens in Verbindung mit dem Reframing als einer Form der Umdeutung (Anbieten eines neuen sozialen Sinns für ein als problematisch angesehenes Verhalten).


Intervenieren durch Fragen: In der Form des Fragens wird problematisches Verhalten als Beziehungsphänomen/kommunikatives Problem sowie als auf eigener Entscheidung/auf eigener Tätigkeit beruhend (statt als Nichtkönnen oder individuelles Defizit) beschrieben. Neben der Kernform des triadischen (Triade) zirkulären Fragens (dabei wird gefragt, wie je Einzelne die Beziehung zwischen je anderen im Hinblick auf ein bestimmtes Thema sehen) kommen weitere zirkuläre Frageformen, die Unterschiedsbildungen anstoßen können, zur Geltung, z. B.: Bedingungsfragen, Verschlimmerungsfragen, Fragen nach der Skalierung, lösungsorientierte Fragen; auch die Wunderfrage (nach Steve de Shazer) sowie Externalisierungsfragen (nach Michael White). Zwischen Problembeschreibungen und Lösungsideen wird gependelt; mit anderen Worten: ein »Sprachspiel« in Gang gesetzt mit dem Ziel, festgefahrene Positionen aufzuweichen und über neue Kontextbeschreibungen Lösungen zu (er)finden. Auch via Kommentierungen werden alternative Wirklichkeitssichten angeboten, z. B. indem – bei hypothesengeleitetem Vorgehen – ein symptomatisches Verhalten als sinnstiftend in einen Kontext eingebettet wird, verbunden mit wertschätzenden Konnotationen, ggf. in einem Abschlusskommentar am Ende einer Sitzung. Bei Ambivalenzen im Klientensystem sollte der Berater die Rolle des »Anwalts der Ambivalenz« übernehmen, z. B. mithilfe der Splitting-Technik. Sie wird oft verwendet in Schlusskommentaren, wenn Dilemmata, Konflikte, Ambivalenzen beim Klientensystem beobachtet wurden bzw. zur Sprache kamen. Der eine Berater vertritt (mit guten Gründen) die eine Seite des Konflikts, des Dilemmas, der Ambivalenz, der andere Berater (mit ebenso guten Gründen) die andere Seite. Ein einzelner Berater kann auch splitten, indem er die beiden Seiten betont: »Ein Teil von mir sagt das und das, weil ... Ein anderer Teil von mir sagt so und so, weil ...« Zusätzlich können (Problem-, Rückfall-)»Verschreibungen« vorgenommen und Beobachtungs-/Verhaltensaufgaben gestellt werden. Das reflektierende Team (Reflektierendes Team) sowie die Skulpturarbeit (o. Ä.) sind weitere wichtige Möglichkeiten dafür, unterschiedliche Beobachterperspektiven für alle Beteiligten erfahrbar werden zu lassen.


Bei anders systemisch orientierten Ansätzen wird weniger zirkulär fragend und kommentierend, sondern mehr zielbezogen lösungsorientiert oder bei Akzentuierung des aktiven Zuhörens eher narrativ (dialogisch) vorgegangen. Für den Fall allerdings, dass dem Klienten aktuell nicht an einer Problemlösung, sondern in mitmenschlicher Begegnung an einer Verstehensbegleitung zum Sich-selbst-Verstehen gelegen ist, wäre anstelle systemischen Vorgehens eine eher subjektorientierte Arbeitsweise angezeigt (s. hierzu für die Arbeit mit Psychoseerfahrenen: Haselmann 2008).


Verwendete Literatur


Engel, Frank, Frank Nestmann u. Ursel Sickendieck (2004): »Beratung« – Ein Selbstverständnis in Bewegung. In: Frank Nestmann, Frank Engel u. Ursel Sickendieck (Hrsg.): Das Handbuch der Beratung. Bd. 1. Tübingen (DGVT), S. 33–43.


Großmaß, Ruth (2004): Psychotherapie und Beratung. In: Frank Nestmann, Frank Engel u. Ursel Sickendieck (Hrsg.): Das Handbuch der Beratung. Bd. 1. Tübingen (DGVT), S. 89–102.


Haselmann, Sigrid (2007): Systemische Beratung und der systemische Ansatz in der sozialen Arbeit. In: B. Michel-Schwartze (Hrsg.): Methodenbuch Soziale Arbeit. Basiswissen für die Praxis. Wiesbaden (VS), S. 153–206.


Haselmann, Sigrid (2008): Psychosoziale Arbeit in der Psychiatrie – systemisch oder subjekt-orientiert? Ein Lehrbuch. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).


Klein, Rudolf u. Andreas Kannicht (2007): Einführung in die Praxis der systemischen Therapie und Beratung. Heidelberg (Carl-Auer), 2. Aufl 2011.


Ludewig, Kurt (2002): Leitmotive systemischer Therapie. Stuttgart (Klett-Cotta).


Ludewig, Kurt (2005): Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie. Heidelberg (Carl-Auer), 2., aktual. Aufl. 2009.


Schlippe, Arist von u. Jochen Schweitzer (1996): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), 10. Aufl. 2007.


Schlippe, Arist von u. Jochen Schweitzer (2009): Systemische Interventionen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).


Schweitzer, Jochen u. Gunthard Weber (1997): »Bother me!« Theory, practice, and critical evaluation of systemic therapy. Psychotherapeut 42 (4): 197–210. 56


Schwing, Rainer u. Andreas Fryszer (2006): Systemisches Handwerk. Werkzeug für die Praxis. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), 3. Aufl. 2009.


Simon, Fritz B. (1995): Die andere Seite der Gesundheit. Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie. Heidelberg (Carl-Auer), 2. Aufl 2001.


Thiersch, Hans (2004): Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Beratung. In: Frank Nestmann, Frank Engel u. Ursel Sickendieck (Hrsg.): Das Handbuch der Beratung. Bd. 1. Tübingen (DGVT), S. 115–124.