KONTEX(T)ERE


«Es geht um Rückbesinnung des systemischen Denkens und Wahrnehmens auf seine Wurzeln. Einer der zentralen Begriffe dafür ist Kontext: Systeme und deren Umwelten bilden die Einheiten, auf die es ankommt.» Das s
chreiben die Kolleg:innen von Carl-Auer in der Buchvorschau von Natur-Dialoge, rund um dessen Erstehung wir hier neun Monate lang jeweils freitags weben. Das ist ein flotter Pass, gerne will ich damit weiterspielen.

Kontext ist bekanntlich eine ausserordentlich wichtige und hilfreiche Vokabel, weil sie uns hilft auszudrücken, dass nichts – kein Wort, kein Organismus, kein Ding, kein Mensch, kein System – für sich alleine steht, sondern sich in einem Mit-Raum bewegt, diesen mitgestaltet und zugleich von ihm gestaltet wird.
Dennoch ist mir mit dem substantivierten Sprachbild des Kontextes nicht ganz wohl, weil es (wie Hauptwörter es so an sich haben) ein sich bewegendes Geschehen stabilisiert und es in eine Kiste packt. Plötzlich steht dann da eine Ding-(kiste) in einer Kontext-(box) und man muss eben schon ziemlich klug sein und darüber hinaus unter Bedingungen leben, die es ermöglichen, die Interaktionen, die dort stattfinden, zu beschreiben und zu überdenken.
Das waren auch schon einige und haben Kontext als Kontextur (Günther) benannt, ein kontextuales Paradox erkannt (Burke) und die ihm liegende Kontingenz (Luhmann), oder auch etwas einfacher im Rahmen ein Spiel. (Bateson) Andere sprechen von sich selbst kontextualisierenden Kontexten (White) – alles in gewisser Weise Formen von ‘Verbisierung’ des Substantivs.Gerne verweise ich an dieser Stelle an den kompakten Beitrag rund um «Kontext» im hiesigen systemischen Lexikon, in dem sich auch alle Quellenangaben wiederfinden.


Lasst es uns wieder etwas einfacher angehen und die etymologischen Wurzeln von Kontext erforschen. Was ich hier gefunden habe, war höchst erfreulich, ich zitiere aus dem Duden:


Kontext: Begriffsursprung:


Entlehnung im 16. Jahrhundert vom lateinischen Substantiv contextus‎ „Verbindung, Verknüpfung“, das vom lateinischen Verb contexere‎ „verknüpfen, verflechten abgeleitet ist; dieses wurde aus dem Präfix con-‎ „zusammen und dem Verb texere‎ „weben, flechten gebildet.


Das ist kaum zu glauben aber wahr: Der Begriff «Kontext» hat in meinem Sprachempfinden bereits so eine abstrakte, tendenziell körperlose Ausstrahlung, und das Wort «Text» hat fast nur mehr mit Buchstaben zu tun, dass mir das texere, das con-texere – also das Webende, Flechtende, das sich zusammenhängend Bildende, entglitten ist. Schön, lässt es sich so wieder neu erinnern, entdecken und verweben.


Wechselwirkende Fasern



Ein ebenso schönes, mitwebendes Entdecken, war ein Hinweis einer Kollegin zu einer Ausstellung im Gropiusbau in Berlin von Hella Jongerius: Kosmos weben. Und zu einem Essay unter dem Titel: Das Ereignis der Faser.
Die beiden Autorinnen Karine Hengge und Karin Krauthausen machen darin eine kleine Reise in Nano- und Mikrowelten und schlagen einen Bogen zu ganz handfesten, sichtbaren Welten mit ihren ökologischen Fragestellungen. Ihre Abstützungen kommen aus der Mikrobiologie und Kulturanthropologie. Der theoretische Faden könnte jedoch ebenso gut mit den Grundlagen der Cultural Biology verbunden sein, an der Humberto Romasin Maturana (1928 – 2021) gemeinsam mit Ximena Davila gearbeitet hat. Ich schätze mich glücklich, konnte ich 2020 noch eine Weiterbildung in dieser erdverbundenen Theorie absolvieren und Humberto Maturana darin inspiriert und auf seine Weise konzentriert erleben. Das war guter Kompostanteil für die Formgebung des sympoietischen Ansatzes, dem das neue Buch gewidmet ist.
Jetzt aber zurück zu den Fäden der beiden Frauen: Ich zitiere aus ihrem lesenswerten Essay:


Die Natur „mauert“ nicht, vielmehr „spinnt“, „filzt“ und „webt“ sie, indem sie geradezu exzessiv mit eindimensionalen langen Fasern arbeitet (und nicht mit dreidimensionalen Bausteinen, also bricks), um dreidimensionale funktionelle Einheiten auf höheren Skalen zu assemblieren. Fasern sind filigrane Leichtgewichte mit – bezogen auf ihr Volumen – sehr großen Oberflächen, die gleichzeitig viele schwache Wechselwirkungen eingehen können.


Das ist ein interessantes Bild. Lange Fasern, filigrane Leichtgewichte, die viele schwache Wechselwirkungen eingehen können – und aus vielen schwachen Wechselwirkungen bilden sich webend komplex webende Welten. Keine sich stützenden Bausteine und keine roten Hauptfäden, an deren Logik entlang wir Schlüsse ziehen.
Angenommen, wir könnten in unsere Sprache, unsere Wahrnehmung, unser Tundenken auch filigrane Leichtgewichte mit grossem Wechselwirkungspotential aufnehmen oder noch besser, wir könnten uns in ihnen, sie in uns sich bewegen? Angenommen, wir würden diese Bildungsprinzipien des Lebendigen für wahr nehmen? Welche Welten würden wir dann weben?


Für heute genug gespielt.


Eure Habiba


https://www.berlinerfestspiele.de/de/gropiusbau/programm/journal/2021/regine-hengge-karin-krauthausen-the-event-of-a-fibre.html


https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/programm/bfs-gesamtprogramm/programmdetail_331289.html


https://www.carl-auer.de/magazin/systemisches-lexikon/kontext


 


Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.