Das Multiversum des Aufstellens

Wie mehrere Themen mit einer Aufstellung kreativ reflektiert werden können

Unsere Realität ist äußerst komplex, d.h. von einer schier unermesslichen Vielzahl von Aspekten geprägt, die niemals gänzlich kognitiv erfasst werden können. Die Wirklichkeit, die wir wahrnehmen, ist daher kein Abbild der Realität, sondern eine Reduktion dieser Komplexität, oder anders gesagt: eine bestenfalls zu unseren gerade relevanten Frage- oder Problemstellungen passende Konstruktion, die uns Antworten auf die Fragen oder Lösungsmöglichkeiten für die Probleme liefert.

Diese Form der Konstruktion von Wirklichkeiten lässt sich mit Systemischen Aufstellungen sowohl simulieren als auch stimulieren. Aufstellungen liefern durch die räumlich positionierten Elemente, die ausgewählte Aspekte von systemischen Strukturen repräsentieren, einen Reichtum an Komplexität. Dieser Komplexitätsreichtum kann genutzt werden, um nahezu jede systemische Fragestellung zu bearbeiten, also mögliche Antworten zu finden, die zum einen hinsichtlich der relevanten Frage Sinn machen und zum anderen neue, bisher noch nicht beachtete Aspekte zu Tage fördern. Das heißt, dass der Mehrwert der Aufstellungsarbeit mindestens darin besteht, dass wir eine Frage reichhaltiger, kreativer und der relevanten Komplexität angemessener beantworten können als uns dies etwa durch eine rein theoretische bzw. kognitiv-verbale Betrachtung möglich wäre.

Als eine systemische Frage- oder Problemstellung verstehen wir ein Erkenntnisinteresse, das wir auf eine systemische Struktur beziehen können. Eine systemische Struktur ist durch dreierlei definiert, und zwar:

- erstens: durch einen bestimmten Aufmerksamkeitsfokus, der von der Frage- oder Problemstellung vorgegeben ist, die sich auf ein Phänomen bezieht, bezüglich dessen etwas Neues herausgefunden werden soll,

- zweitens: durch die Differenzierung und Benennung von Elementen, die hinsichtlich der Frage oder des Problems als relevant erachtet werden und daher in der Aufstellung durch Personen, Gegenstände oder Papierblätter auf dem Boden (Bodenanker) repräsentiert werden und

- drittens: durch die Beziehungen zwischen den aufgestellten Elementen, die sich während der Aufstellung verändern, und anhand der räumlichen Anordnungen sowie der Wirkung dieser auf die Elemente beobachtet werden können.

Da die durch Aufstellungen produzierte Komplexität so groß ist, können wir nicht nur ein Thema mit einer Aufstellung in der beschriebenen Weise bearbeiten, sondern mehrere, ja zahlreiche zugleich. Es könnten also mehrere Personen parallel, einzeln oder in Gruppen, eine Frage- oder Problemstellung für sich formulieren und die für sie relevanten Elemente benennen, die aufgestellt werden sollen, um die darauffolgende Aufstellung für die Klärung ihrer Frage- oder Problemstellung zu beobachten und sodann kreativ zu interpretieren. Mit den Pionieren der Aufstellungsarbeit und Begründern der Systemischen Strukturaufstellungen (SySt), Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer, könnten wir hier auch von einer systematisch ambigen Arbeit mit mehreren gleichzeitig in einer Aufstellung sich zeigenden Strukturdynamiken sprechen.

Mit Blick auf Systemisches Coaching oder die psychosoziale Aufstellungsarbeit mit einzelnen Personen ist dies leicht verständlich. Das bedeutet zunächst, dass eine Person eine aktuelle Herausforderung aufstellt, um neue Möglichkeiten des Denkens, Fühlens und Handelns zu gewinnen. Dabei zeigen sich sodann möglicherweise zugleich mehrere Strukturebenen des Lebens dieser Person. So könnten sich z.B. innerpsychische bzw. individuell emotionale Aspekte präsentieren, z.B. gegensätzliche Wünsche, Interessen und Bedürfnisse oder Hindernisse, aber auch Ressourcen bezüglich der Erreichung eines Ziels. Zugleich könnten sich in der Aufstellung, die die benannten Aspekte in ihrer jeweiligen Eigenheit sowie in ihren Beziehungen zueinander veranschaulicht, auch weitere Strukturebenen „offenbaren“, z.B. die Familien- und parallel dazu die Arbeitsbeziehungen der Person. Wir hätten hier also zugleich drei Strukturebenen einer Person mit einer Aufstellung im Fokus, die innerpsychische Ebene, die Familienbeziehungen und die Struktur eines Arbeitssystems.

Pointiert und zugespitzt formuliert: Eine Aufstellung kann ein Multiversum vermitteln, also viele Welten zeigen, die parallel nebeneinander "existieren". Die Voraussetzung dafür ist, dass wir eine Aufstellung in dieser Weise betrachten, dass wir also intendieren, eine Aufstellung als Multiversum zu verstehen, sie in dieser Weise lesen, mithin beobachten, beschreiben, erklären und bewerten. Wenn wir also entschieden haben, dass wir ein Multiversum von thematischen Welten aufstellen wollen, dann zeigt uns die durchgeführte Aufstellung in der Regel passende Antworten auf unsere Fragen bzw. interessante Lösungen unserer Probleme, die wir ohne Aufstellung kaum gewonnen hätten.

Die Forschung mit dieser Form des Aufstellens habe ich im Jahre 2020 begonnen, zunächst noch in Präsenz, dann in Online-Formaten und nun wieder in klassischen Aufstellungen mit räumlich anwesenden Personen.

Während der Regionaltagung Nordrhein-Westfalen der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS) konnte ich beispielsweise eine Zeitgeist-Aufstellung durchführen, in der wir fünf derzeit äußerst relevante und kontrovers diskutierte Themen mit einer Aufstellung betrachteten: Corona, Klima, Krieg, Energie und Gender. Die ca. 45 Teilnehmenden versammelten sich in sechs Gruppen (das Thema „Krieg“ wurde zweimal bearbeitet). In diesen Gruppen entwickelten sie jeweils eine für sie relevante Fragestellung sowie die Differenzierung und Benennung von fünf relevanten Elementen, die in der Aufstellung beobachtet werden sollen, um die Fragestellung mit möglichen Antworten zu klären. Die Elemente wurden in jeder Gruppe nach der Benennung mit den Buchstaben A, B, C, D und E codiert.

Die Aufstellung selbst erfolgte für die aufgestellten Elemente, also für A, B, C, D und E, sowie für mich als Moderator der Aufstellung verdeckt. Jede Gruppe beobachtete die Aufstellung, also die Selbstwahrnehmung der Repräsentanten der Elemente, deren Wahrnehmungen bezüglich der jeweils anderen Elemente sowie die Dynamiken zwischen diesen vor dem Hintergrund der jeweils eigenen Fragestellung und mit der entsprechenden Zuschreibung, was der jeweilige Buchstabe für ein konkretes Element inhaltlich repräsentiert.

Ich bin derzeit dabei, diese Aufstellung intensiv auszuwerten und weitere derartige Versuche vorzubereiten. Daher möchte ich abschließend lediglich offenbaren, dass die Gruppen nach der Aufstellung sehr aufschlussreiche und für mich zum Teil erstaunliche wie überraschende Interpretationen aus der Aufstellungsdynamik ziehen konnten. Bereits die Zusammenstellung der systemischen Strukturen, also die Differenzierung und Benennung der Elemente bezüglich der jeweiligen Themen erscheint mir äußerst interessant:

 

  Corona Klima Krieg, Gr. 1 Krieg, Gr. 2 Energie Gender
A Demokratie Ich Angst Russland Unterdrückung v. Wissen & Information Potential
B Wirtschaft Klima Tod Ukraine Ressourcen Polarität
C Gesundheit Lernaufgabe Leben China Gesicherte Versorgung Sprache
D Politik Kapital/Macht Wirtschaft NATO (USA) Nutzung Diskriminierung 
E Zusammenleben Wir Sinn Blockfreie Staaten Energiefluss/ Bewegung  Würde