Systemische Corona-Reflexionen und ihre Widersprüche

Kritik als Dekonstruktion versus Beobachtung 2. Ordnung


Regelmäßig werde ich von mir wichtigen und geschätzten Kollegen darauf hingewiesen, dass meine mit dem Label „systemisch“ bezeichneten kritischen Corona-Reflexionen, die ich seit 2020 in diesem Blog publiziere, nicht systemisch und schon gar nicht systemtheoretisch seien. Obwohl die Begriffe „systemisch“ und „systemtheoretisch“ nicht geschützt sind und selbst Niklas Luhmann betonte, dass „Systemtheorie“ ein Sammelbegriff sei „für sehr verschiedene Bedeutungen und Analyseebenen“, dass das „Wort […] keinen eindeutigen Sinn [referiert]“[i], nehme ich die Einwände meiner Kritiker ernst. Zumindest der Vorwurf, dass ich nicht ausgewogen reflektiere, dass ich zwar die Sowohl-als-Auch-Haltung einfordere, diese aber selbst nicht einnehmen würde, scheint mir sehr wichtig. Ich würde eben nicht im Modus der Beobachtung 2. Ordnung, also tendenziell neutral, wie es in der Wissenschaft sein sollte, Unterscheidungen und Bezeichnungen beforschen, diese auf ihre blinden Flecken hin untersuchen und unvoreingenommen darüber schreiben. Im Gegenteil, ich würde eindeutig Position beziehen, den Mainstream des Corona-Diskurses und die Schutzmaßnahmen (z.B. Lockdowns, G-Regelungen etc.) einseitig in ihrer Verhältnismäßigkeit kritisieren. Eine systemische bzw. systemtheoretische Betrachtung sollte jedoch ausgewogener vorgehen, sich der Positionierung enthalten, die Pluralität der Perspektiven aufzeigen und sich nicht in dieser Weise, wie ich das tue, verorten.


Zunächst kann ich diesem Einwand zustimmen. Wenn eine solche ausgewogene Betrachtung, die alle Seiten gleichermaßen anerkennt, achtet und zu Gehör bringt, als „systemisch“ bezeichnet wird, dann sind meine Reflexionen nicht systemisch. Allerdings möchte ich dennoch an der Bewertung, dass ich systemisch oder gar systemtheoretisch argumentiere, festhalten. Denn ich nutze für meine Ausführungen die Theorie selbstreferentieller Systeme, mithin die These von der Nicht-Trivialität biologischer, psychischer und sozialer Systeme sowie der nur äußerst begrenzt bzw. gar nicht steuerbaren Dynamik der Verkopplungen dieser drei Phänomenbereiche. Daher betrachte ich meine Position als bio-psycho-sozial.


Zugleich beziehe ich mich auf den erkenntnistheoretischen Konstruktivismus und blende die entsprechenden, jeweils immer auch anders möglichen, also kontingenten Komplexitätsreduktionen ein, die wissenschaftliche Beschreibungen und Erklärungen grundsätzlich kennzeichnen. Damit markiere ich die Problematik, die sich ergibt, wenn Wissenschaftskommunikationen als „objektiv“ oder im naiven Sinne als „Wahrheit“ verstanden werden. Hier kritisiere ich vor allem die politische und mediale Rezeption des wissenschaftlichen Corona-Diskurses, die diesen sehr einseitig, extrem vereinfachend und alternative Stimmen ausgrenzend repräsentiert.[ii] Auch wenn die Politik und die Medien nicht auf das Niveau eines systemtheoretischen Oberseminars gehoben werden können, was unter Handlungsdruck und zügiger Kommunikationsnotwendigkeit auch kaum realisierbar ist, wäre es doch möglich gewesen, dass auch Politiker und Medienvertreter systemischer denken und handeln, z.B. durch das Einbeziehen der pluralen Möglichkeiten, angemessen – sozial und individuell – auf die Pandemie zu reagieren.


Meine Corona-Reflexionen markiere ich nun als systemische Kritik. Mit dieser Kritik positioniere ich mich jedoch nicht auf einen vermeintlich richtigen Standpunkt, sondern ich problematisiere gerade, dass einige meinen, bereits den richtigen Standpunkt gefunden zu haben. Die entsprechenden Positionen konfrontiere ich mit dem, was sie ausblenden: dass es auch andere Positionen gibt, die ebenfalls begründet vorgetragen werden und einzubeziehen sind, soll es einen komplexitätsangemessenen politischen wie medialen Diskurs geben. Diese Form der Kritik kann im Sinne der poststrukturalistischen Theorie als Dekonstruktion[iii] bezeichnet werden, indem sie zeigt, dass bestimmte Behauptungen im Corona-Diskurs nur solange aufrechterhalten werden können, solange gleichermaßen relevante Behauptungen, die jedoch zu anderen Schlüssen kommen, ausgeblendet werden. Dekonstruktion meint also das Einblenden des Ausgeblendeten, um die Ambivalenz zwischen den unterschiedlichen Positionen, mithin die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher, aber gleichermaßen plausibler Positionen spürbar zu machen.


Im Sinne der Systemtheorie könnte meine Corona-Kritik zudem als funktionale Analyse verstanden werde, in dem ich zu zeigen versuche, welche alternativen Reaktionsweisen auf die aktuellen Probleme ebenfalls möglich wären. Entsprechend schreibt Luhmann zu dieser Methode der Kontingenz-Erzeugung: „Die funktionale Analyse benutzt Relationierungen mit dem Ziel, Vorhandenes als kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar zu erfassen. Sie bezieht Gegebenes, seien es Zustände, seien es Ereignisse, auf Problemgesichtspunkte, und sucht verständlich und nachvollziehbar zu machen, daß das Problem so oder auch anders gelöst werden kann. Die Relation von Problem und Problemlösung wird dabei nicht um ihrer selbst willen erfaßt; sie dient vielmehr als Leitfaden der Frage nach anderen Möglichkeiten, als Leitfaden der Suche nach funktionalen Äquivalenten“.[iv]


Wissenschaft kommt zwar als gesellschaftliches Kommunikationssystem im Singular daher. Daher können wir durchaus sagen, dass es Sinn macht, der Wissenschaft zu folgen. Aber innerhalb dieses Systems laufen zahlreiche, gegeneinander widersprüchliche Kommunikationen, die sich wechselseitig kritisieren, stärker: zu falsifizieren versuchen. Am Ende zeigt sich empirisch, also im Kontakt mit der Realität bzw. mit den dadurch angeregten Wirklichkeitsbeschreibungen, ob sich Positionen erhärten oder ad acta gelegt werden sollten. 


[i] Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 15.


[ii] Siehe ausführlich dazu Heiko Kleve (2021): Zwischen Objektivitätsanspruch, Komplexitätskontrolle und Diskursauschluss – Eine systemische Pandemie-Reflexion, in: Werner Bruns/Volger Ronge (Hrsg.): Die Irritation der Gesellschaft durch Lockdown. Weinheim/Basel: Beltz, S. 173-187.


[iii] Vgl. dazu etwa Jacques Derrida (1986): Positionen. Graz/Wien: Passagen.


[iv] Vgl. Niklas Luhmann (1984), a.a.O., S. 83f.