Freiheit

Ein anthropologisches Bedürfnis, das aus Abhängigkeit erwächst


Wenn wir Freiheit im 21. Jahrhundert bestimmen wollen, dann können wir diese Bestimmung – wie je zuvor – aus einer anthropologischen Grunderfahrung ableiten: aus der Abhängigkeit des Menschen nach seiner Geburt sowie in seinen ersten Lebensjahren. Das menschliche Wesen kommt bio-psycho-sozial bedürftig zur Welt. Es ist darauf angewiesen, dass es sensible Erwachsene, in der Regel die Eltern, vorfindet, die sich um seine körperliche, psychische und soziale Bedürfnisbefriedigung kümmern. Erst im Laufe der Sozialisation gewinnt der junge Mensch immer größere Unabhängigkeit, die sich ebenfalls einem Bedürfnis verdankt, das wir vielleicht Freiheitsbedürfnis nennen könnten.


Spätestens mit dem Ausgang des Menschen aus seiner Jugend ist er ein Leben lang in allen seinen sozialen Beziehungen mit der Balancierung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung und Bindung bzw. sozialer Bezogenheit und persönlicher Individuation befasst. Der Philosoph und Psychiater Helm Stierlin prägte diesbezüglich das Konzept der „bezogenen Individuation“. Innerhalb dieser engen sozialen Beziehungen sind Menschen zudem in gegenseitige Verpflichtungen eingebunden, sind sie geprägt von einer Reziprozität von Geben und Nehmen: Wer gibt, erwirbt den Anspruch, etwas zu bekommen bzw. zu nehmen – und umgekehrt. So ergibt sich die Integration bezüglich der Herkunftsfamilie auch daraus, dass erstens das jeweilige Leben aus diesem Kontext kommt und dass zweitens keine Gegengabe möglich ist, um hier einen endgültigen Ausgleich herbeizuführen. Das Leben kann lediglich weitergegeben, in Richtung Zukunft ausgereicht werden.


Dieses Leben, und das ist eine Grundbedingung „erwachsener“ individueller Freiheit, gehört ganz denen, die es aus ihren Familien jeweils bekommen haben, also jedem einzelnen Menschen. Damit geht das Selbsteigentum am eigenen Körper einher, dessen bio-psychische Manipulation in der Freiheit seiner jeweiligen Besitzer:innen liegt. Sollte dieser Körper an sich eine Gefahr für andere sein, so ist minimalinvasivste Freiheitseinschränkung zu wählen, um dieser Gefahr zu begegnen. Die Bewertung einer solchen Intervention liegt in erster Linie beim betreffenden Individuum und erst in zweiter Linie bei anderen, etwa der Gemeinschaft und der Gesellschaft.


Neben der sozialpsychologischen und körperorientierten Freiheitsbestimmung ist Freiheit freilich nicht lediglich in sozialen Gemeinschaften wie Paar-, Familien- und Gruppen-Beziehungen relevant, sondern wird in der „großen“ Gesellschaft zu einer politischen und rechtlichen Zusicherung der Potentialentfaltung und des Handelns der Bürger:innen. Die politische und rechtliche Selbstentfaltung der Einzelnen findet dort ihre Grenzen, wo sie die Entfaltung der anderen tangiert oder zu behindern droht. So ist auch die gesellschaftliche Freiheit eine reziproke Beziehung, die mit verschränkten Beobachtungsverhältnissen einhergeht. Die Freiheit des einen, setzt die Freiheit des anderen genauso wie die Beschränkung beider Freiheiten voraus. Diese reziproke Beziehung führt zu selbstorganisierten Formen der Traditionsorientierung hinsichtlich der Freiheit (das, was sich bewährt, wird in den sozialen Beziehungen fortgeschrieben), aber auch zu rechtlichen Regeln als freiheitlicher Ordnungsrahmen für die Spielregeln sozialer Beziehungen und die Lösung wie Prävention ihrer möglichen Konflikte. Eine liberale Gesellschaft könnte diesbezüglich verstanden werden als ein sozialer Verband von Bürger:innen, die so frei sind wie möglich und so stark in ihren Freiheiten begrenzt werden wie nötig.


Schließlich setzt diese personenorientierte Freiheit systemische Bedingungen voraus, die die Grundstruktur der Gesellschaft so ermöglichen, dass wirtschaftliche, wissenschaftliche, politische, künstlerische, rechtliche, pädagogische oder familiäre Dynamiken ebenfalls in ihrer Entfaltung frei sind, aber zugleich sich gegensätzlich einschränkend rahmen. Diese Rahmung verletzt jedoch nicht die jeweiligen Eigenlogiken, so dass Wirtschaft durch wirtschaftliche Dynamiken (Eigentum, Markt und Preise) bestimmt wird, politische durch politische (Macht/Regierung und Machtbegrenzung/Opposition), wissenschaftliche durch wissenschaftliche (Wahrheitssuche und Kritik/Falsifikation) künstlerische durch künstlerische (ästhetische Geschmacksurteile und deren Veränderung) etc. Das heißt, dass diese Logiken sich jeweils selbst genügen, was Garant ihrer Freiheit, mithin ihrer Eigenentfaltung ist. Die Begrenzungen dieser Freiheiten liegen in den knappen Ressourcen der jeweils anderen Logiken und deren jeweiligen (Fremd-)Beobachtungen, die als Rahmen Voraussetzung für die Eigenlogiken sind.


Somit ist Freiheit das reziproke Prinzip, das die Balancen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, der Unabhängigkeit und der Abhängigkeit, der Selbstentfaltung und der Bezogenheit oder der Individualität und der Sozialität in eine Zielrichtung führt, die Zugewinn, Fortschritt und Wachstum verspricht. Immer dann, wenn diese Zielrichtung durch andere Aspekte versperrt wird, entwickelt sich an wechselnden Orten der Gemeinschaft und der Gesellschaft der Kampf gegen die Blockaden der Freiheit. Der Liberalismus ist, so die letzte These dieser Reflexion, verlässlicher Bündnispartner im Kampf um andauernde Freiheit der Menschen und ihrer sozialen Systeme.