Angst

Sich in einem Kreis von Frauen zusammenzufinden und gemeinsam eine Zeit lang Feuer zu hüten, knüpft an eine urmenschliche Tradition an. Sie öffnet einen Raum für das, was in dem Moment bewegt, erzählt, geteilt, verwandelt, erinnert und auch bewahrt, gepflegt und weitergegeben werden will.1 Geschichten verweben sich zu einem verbindenden Erzählgeflecht, das sich über Raum und Zeit weit aufspannt. So stelle ich es mir gerne vor. In diesem Geflecht finden sich emotionale Farbtöne und Schattierungen: Freude, Trauer, Überraschung, Wut und in einer Verlässlichkeit, die mich berührt, erschreckt und erschüttert: Angst.


Angst hat viele Gesichter. Sie zeigt sich etwa als Begleiterin von Frauen, die sich «allein in der Natur» bewegen. Mit ihr lässt sich ein vielschichtiges Terrain erkunden, besonders nachts und im Wald.2 Meine Aufmerksamkeit gilt hier den unscheinbaren Begriffen, die Geschichten von Frauen «allein in der Natur» erzählen – dem «Allein» und dem «In».


«In»
Bezogen auf das «In», lassen sich akkulturierte Mensch-Natur-, Hier-dort-, Innen-aussen-Grenzen rasch auflösen: Wenn wir unsere Körper als natürlich verstehen und mit ihnen «in» die Natur gehen, ergibt sich eine Schnittmenge aus Natur. Wenn Frauen sagen, dass sie Angst haben, sich allein «in» der Natur aufzuhalten, klingt eine vielsagende Doppeldeutigkeit an: Nicht nur die Angst, sich allein (nachts) in einem Naturraum wie dem Wald zu bewegen, sondern auch die Angst, sich mit einem Frauenkörper darin zu bewegen.
Es ist mitunter und oft die Angst vor männlicher Dominanz und Gewalt, die Frauen unabhängig von durchlebter Erfahrung begleitet. Oft tritt diese Angst im Gespräch tabuisiert und verschleiert auf, so, als wäre sie als Erzählfigur aus einem Märchen angebracht, aber nicht für die Beschreibung der Bilder, die sich im Innern einer emanzipierten Frau abspielen. Obwohl männliche Dominanz und Gewalt gegenüber Frauen in Episoden der Geschichte und auch in der Gegenwart systemisch und systematisch präsent und in vielen Facetten prägend waren und sind, geht es hier weder um die Rekonstruktion patriarchaler Dynamiken und deren Verurteilung noch darum, einen Biologismus zu suggerieren. Es geht vielmehr um den Horizont, der sich mit Blick auf die Doppeldeutigkeit öffnet, wenn Frauen(körper) in der Natur unterwegs sind, und um den sich daraus ergebenden ökoaktivistischen Fokus der Wiederaneignung des Naturraums.
Auf die Schnittmenge bezogen, fordert dieser Fokus nicht nur, dass sich Frauen frei in den sie umgebenden Landschaften – auch urbanen Räumen – bewegen, sondern auch, dass sie in ihren Körpern mit ihren zyklischen Gesetzmässigkeiten zu Hause und heimisch sein können. Ohne einen Anspruch auf Exklusivität und stereotype Weiblichkeit zementieren zu wollen, kann in Frauenkörpern der Rhythmus des Zyklischen tatsächlich in verlässlicher Art und Weise erfahren werden: Prägend für den Alltag jeder Frau ist ihr Monatszyklus. Viele von uns haben gelernt, über ihn zu klagen, stumm darunter zu leiden, zu versuchen, ihn zu beeinflussen und – eher seltener – im Einklang mit ihm zu leben und mit den verschiedenen Zuständen, die ihm innewohnen, mitzuschwingen.
Es sind Zyklen, die in sich den Prozess des Lebendigen, des immer wiederkehrenden Werdens und Vergehens bergen. Machen wir uns mit dieser Wahrheit vertraut, anstatt, so wie viele von uns – Frauen und Männer – es gelernt haben, sie zu ignorieren, zu verstecken, zu unterdrücken, zu verdrängen und zu negieren. Eignen wir uns das Zyklische als Metapher für Prozesse des Werdens und Vergehens wieder an, anstatt blind einer Linie des vermeintlich ewigen Werdens zu huldigen. Befreien wir unsere in dieser Wachstumslogik gefangene Erde und Frauen davon, ihre Zyklen als Bürde zu verstehen. Blenden wir das Vergängliche in unseren Beziehungen zur Erde und zu unseren Körpern wieder mit ein, denn es ist Voraussetzung für und Folge von Lebendigkeit. Wenn Frauen den Weg in die Natur wiederfinden, ergibt sich eine Schnittmenge aus Zyklen von Werden und Vergehen, die bestimmend sind für den Puls des Lebens.


«Allein»
Wir sagen, dass wir allein sind, und die meisten von uns beziehen sich damit auf die Abwesenheit anderer Menschen. Es ist eine Wahrnehmung, die sich ausschliesslich auf die soziale Welt bezieht – eine zutiefst anthropozentrische Perspektive, die alles Nicht-menschliche aus unserem Interaktionsfeld ausschliesst. Astrid Habiba Kreszmeier hat in Natur-Dialoge die Fülle von Beziehungen beschrieben, die jenseits dieser akkulturierten Grenze zwischen Mensch und Natur erfahrbar wird.
Auch wenn es paradox ist, ist es interessant, aus der sozialen Ebene auf das Phänomen des (idealisierten?) Alleinseins in der Natur zu schauen. Gerade in den Sommermonaten gibt es viele Angebote, die Menschen in die Natur begleiten. Formate wie Visionquests werben damit, dass Frauen und Männer eine gewisse Zeit lang in Abwesenheit von anderen Menschen in der Natur verbringen. So soll ein Nährboden für tiefe Erfahrungen bereitet werden, die Ausrichtung fürs Leben gibt. Diese Angebote schüren die Sehnsucht, allein in der Natur Wesentliches zu erfahren und mischen sich mit der in unserer Leistungsgesellschaft verbreiteten Vorstellung, dass Zeit für sich zu nehmen, etwas damit zu tun hat, sich aus sozialen Rollen und damit verbundenen Zuständigkeiten auszuklinken. Selbstsorge und persönliche Freiheit finden dann in der Freizeit und in Abwesenheit von anderen Menschen statt. Folgen wir van Schaiks und Michels Darstellung in Die Wahrheit über Eva (2020), waren in vorpatriarchalen Gemeinschaften jedoch gerade «Allianzen» unter Frauen ein wichtiger Garant für deren Sicherheit und Freiheit. Das systematische Untergraben dieser Allianzen hatte fatale Folgen für die Autonomie der Frauen und zwang sie in patriarchale Strukturen.
Um aus dieser Dynamik herauszufinden, bietet der Rückbezug auf vorpatriarchalische Gemeinschaftsformen hilfreiche Orientierung. Und diese lehrt: Natürliche Bewegung ist zyklisch und kollektiv – sympoietisch. Frauen bewegten sich in den sie umgebenden Landschaften natürlicherweise in Gruppen. Diese Gruppen waren ein Garant für ihre Autonomie.


Wenn Frauen sich also davor fürchten, im doppeldeutigen Sinne in die Natur zu gehen, dann gehen damit auf der individuellen Ebene körperliche Rhythmusstörungen einher. Zusätzlich verpassen wir auf der sozialen Ebene eine Gelegenheit, das Zyklische wieder stärker in unsere kollektive Wahrnehmung einzuverleiben und so aufgrund der Gesetzmässigkeiten unserer Körper mit den uns umgebenden Kreisläufen – Ökosystemen - mitzuschwingen.


1Vergl. Kreszmeier, Natur-Dialoge, 2021, p. 144f
2Vergl. zu den Qualitäten des Waldes Kreszmeier, Systemische Naturtherapie, 2019, p. 126ff


 


Sabina Fischer
Sabina Fischer

setzt sich ein für die weibliche Wiederaneignung der Natur – des eigenen Körpers, des lebensbestimmenden Rhythmus des Zyklischen und der Verbundenheit mit dem Ökosystem, in das wir eingebettet sind. Sie betreibt eine Pension für Frauen im Berner Oberland. www.lachamoise.ch




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben.
Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Natur-Dialog Beratung, Systemischer Naturtherapie und Aufstellungsarbeit.
Sie ist Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches - das heisst auch für Öko-Systemisch-Feministisches.
Wirkt und schreibt, spricht in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand sowie über ihre persönliche Seite kreszmeier.org und als co-host des podcast sympoietics - Raum für Wechselseitiges.