Die Türe

Eine wundersame Beziehung oder die Magie des Geheimnistragens


«Zum Beispiel Schmuck, Kunst, Denkmäler, rituelle Objekte. Auch sie sind ausserordentlich wirkmächtig! In der einen oder anderen Form sind diese Dinge mit uns: an uns, in unseren Wohnstätten, auf öffentlichen Plätzen und Museen. Sie wollen an Orte und Geschehnisse erinnern, uns mit Kräften verbinden, Aufmerksamkeit wecken, Zusammenhänge deutlich machen, ein Statement abgeben.
Diese Art von Dingen gehört zu einem frühen Erbe der Menschen. Schon vor sehr langer Zeit wurden Kunst-Sachen zu wichtigen Kommunikatoren, zu Vermittlern zwischen Welten, sei es im handwerklichen oder festlichen Feld. Alte Masken sind nicht Dinge, mit denen Menschen so getan haben, als wären sie der Jaguar, der Urahne, der Vogel – sie sind mit ihnen zu all dem leibhaftig geworden. Die Hostie ist für gläubige Christen kein als ob: Es ist der Leib Christi, den sie in sich aufnehmen. Der Federschmuck, das Amulett, der Ring, die Krone, die Fahne – alles das sind Dinge, die nicht nur den Moment bespielen. Ihre Wirkungsräume dehnen sich in weite Zeiten aus, sie schaffen Wirklichkeiten jenseits ihrer eigentlichen Form.»
Zit. aus Astrid Habiba Kreszmeier, Natur-Dialoge 2021, S. 207


 


«Es ist eine Türe», sagt mein Freund am anderen Ende der Leitung. «Wie bitte?», frage ich ungläubig. «Eine Türe eben», wiederholt er und meine Gedanken basteln daraus eine Spezies mit dem seltsamen Namen Türe und sträuben sich dagegen, an das viereckige Loch zu denken, durch das ich meine Wohnung betrete. Aber mein Freund meint genau das oder mindestens etwas damit verwandtes. Aber der Reihe nach.


Vor mehr als zehn Jahren hatte mir der Freund, mit dem ich nun in dieses sonderbare Telefongespräch verwickelt bin, einen Kettenanhänger geschenkt. Er hatte ihn mitgebracht aus einer fernen Gegend – vom Ende der Welt aus meiner Perspektive. Mein Freund pflegt eine innige Beziehung zum Meer und sagt von sich, dass er sich unter Wasser mehr zu Hause fühlt als an Land. Deshalb zieht er immer wieder aus, weil es in der Schweiz vieles gibt, aber eben kein Meer. Dieser an einer fernen Küste erworbene Kettenanhänger ist mir vor ein paar Wochen begegnet, als ich in den Tiefen meines Schrankes nach etwas suchte.
Er ist ein wundersames Gebilde. Oval und sanft gewölbt, etwas grösser als mein Daumen. Auf der einen Seite ist er von einem Muster überzogen, das an eine Feder erinnert – ein filigranes Gefieder aus verschiedenen Grün- und Brauntönen. Auf der Kehrseite ist er mit einer spiralförmigen Linie durchwachsen. Dieses Ding, das die halbe Welt umreist und jahrelang geduldig im Dunkel meines Schranks gelegen hat, erscheint mir an diesem Morgen höchst aussergewöhnlich. Es verzaubert mich mit seiner wundersamen Erscheinung. Ich kann es unmöglich zurücklegen und hänge es mir um den Hals, bevor ich zur Arbeit gehe. Den ganzen Tag fühlt es sich so an, als würde ich ein Geheimnis mit mir herumtragen. Wenn ich einen Moment allein bin, ziehe ich die Kette aus, betrachte das Ding und frage mich oder es, was es ist, woher es kommt, wie es heisst. Es gibt mir Rätsel auf, und ich spüre den Drang, es immer wieder anzuschauen, anzufassen, zu befragen. Ich halte es unters Wasser, gegen das Licht, reibe es zwischen den Fingern, rieche daran. Es ist fein, matt und fühlt sich warm an. Ich bin versucht, mich vom Internet aufklären zu lassen, womit ich es hier zu tun habe, lasse es aber, weil dieses Ding eine Ausstrahlung hat, an die ich Google nicht heranlassen möchte.


Es entspinnt sich in den darauffolgenden Wochen eine seltsame Beziehung zwischen mir und dem Ding. Ich trage es als Kettenanhänger, weil es mir in dieser Bestimmung geschenkt wurde. Dabei ist mir von Anfang an bewusst, dass das unmöglich seine Bestimmung ist. Es ist mir weder Schmuck noch Talisman. Ich will nichts wirklich von ihm – keinen Schutz, keine Zierde. Dennoch freue ich mich über seine Begleitung, weil ich es gerne anschaue, anfasse und lautlos befrage. Es fasziniert mich. Es birgt ein Geheimnis. Ich glaube, dass ich es so mag, weil es gleichzeitig zugänglich und unergründlich ist. Es ist in einer verlässlichen Selbstverständlichkeit da und verweist zugleich auf einen Raum, der mir verborgen ist und sich meines Zugriffs durch Definition entzieht. Es ist Referenz, Verweis, Spur, Migrantin, Relikt, Botin.


Bis ich eines Tages von einer ungebändigten Neugierde erfasst werde und meinen Freund anrufe. Er ist gerade zurück von einer Reise ans Meer und schwimmt an diesem Montagmorgen etwas unlustig gegen die Mailflut in seiner Inbox an. Meine Frage scheint willkommen zu sein. Das wundersame Ding, das ich seit Wochen mit mir herumtrage, ist eine Türe. Eine Türe zum Haus einer Schnecke, die sich damit vor ungebetenen Besuchenden schützt. Da die Schnecke gerne umzieht, wirft sie die Türe ab und zu aus der Schale und sucht sich ein neues Haus. Die Türen spült es mitunter an den Strand, wo Menschen sie einsammeln und zu Schmuck verarbeiten. So wurde es meinem Freund am anderen Ende der Welt erzählt. Und so erzählt er mir die Geschichte von dem wundersamen Ding, das mir seit ein paar Wochen um den Hals hängt an diesem Morgen. Als er sich anschickt zu googeln, um seine Erinnerung aufzufrischen, bitte ich ihn, mir keine weiteren Informationen zu geben. Ich kann damit leben, zu wissen, dass ich die Türe des Hauses einer umgezogenen Schnecke, die am anderen Ende der Welt in den Tiefen des Ozeans wohnt als Kettenanhänger um meinen Hals trage. Mehr möchte ich gerne im Austausch mit meiner geheimnisvollen und mir inzwischen ans Herz gewachsenen Begleiterin erfahren.


Bildnachweis: Ernst Haeckl, Kunstformen der Natur


Sabina Fischer
Sabina Fischer

ist als Forscherin und Prozessbegleiterin fasziniert von den Geschichten, die das Leben spinnt. Sie beschäftigt sich mit Ethiken der Aufmerksamkeit und engagiert sich für vielstimmig-tragende Kooperationen. Infos unter www.sabinafischer.ch




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.