Die Moralisierung der Corona-Gesellschaft

Die Moralisierung der Corona-Gesellschaft


von Heiko Kleve


 


Niklas Luhmann war zeitlebens ein Kritiker der Moralisierung. Daher sollte sich – seiner Einschätzung nach – die wissenschaftliche Beschäftigung mit Moral, die Ethik, mit Moralreflexion befassen und vor zu viel Moral in der Kommunikation, etwa in öffentlichen Diskussionen, warnen (siehe etwa Niklas Luhmann: Die Moral der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008). Denn die Kommunikation im Modus der Moral grenzt aus und polarisiert, verringert die kreative Problemlösekompetenz in der Gesellschaft und reduziert womöglich zu stark das Entstehen förderlicher sozialer Komplexität.


Für Luhmann ist moralische Kommunikation daran erkennbar, dass die Sprechenden oder Schreibenden ganz bestimmte Werte vertreten (etwa Sicherheit und Lebensschutz) und auf einer übergeordneten Ebene der Kommunikation zum Ausdruck bringen, dass sie diejenigen achten, sich mit denen identifizieren, die ihre Werte teilen, und jene missachten, die anderer Meinung sind, also andere Werte (etwa Freiheit und individuelle Selbstbestimmung) vorziehen. Eine in dieser Weise geprägte Kommunikation trennt zwischen den einen und den anderen. Sie verhindert den weiteren konstruktiven Austausch, indem sich beide Seiten womöglich abwertende Attribute zuschreiben.


Wenn wir auf den öffentlichen Diskurs zu Corona und zur Bewertung der eingeleiteten Maßnahmen schauen, dann können wir eine solche Kommunikation beobachten. Diese wurde und wird zudem mit Angst angeheizt: Die einen haben Angst vor einem Virus, die anderen ängstigen sich vor dauerhaftem Freiheitsentzug, vor Impfzwang oder informationeller Fremdbestimmung. Die einen gelten als der so genannte Mainstream, die anderen werden als „Verschwörungstheoretiker“ tituliert.


Was eine solche Art von moralisierender Eskalation der Kommunikation kennzeichnet, ist, dass nicht nur argumentativ gestritten wird, sondern dass die Akteure nicht (mehr) zwischen Personen und Argumenten unterscheiden. Sie identifizieren beides: Der Kampf gegen die jeweils andere Position weitet sich zu einer Abwertung der entsprechenden Personen aus, die die jeweils abgelehnten Positionen vertreten. Diese Personen werden diffamiert, herabgewürdigt, in ihren fachlichen Kompetenzen oder sozialen Verdiensten herabgesetzt.


Wenn wir uns die öffentliche Kommunikationsdynamik in Sachen Corona anschauen, dann konnten wir früh diesen moralisierenden Ausgrenzungsdiskurs beobachten. Kritiker wie der ehemaliger SPD-Gesundheitsexperte und Arzt Wolfgang Wodarg oder der emeritierte Mainzer Medizin-Professor Sucharit Bhakdi, um nur die bekanntesten zu nennen, fanden – eigenen Angaben zufolge – keine Möglichkeiten, in den so genannten öffentlich-rechtlichen Leitmedien zu sprechen, sondern wurden von diesen mit so genannten Faktenchecks in ihren Argumenten und Positionen grundsätzlich infrage gestellt. Unabhängig davon, wie richtig und angemessen die Faktenchecks waren, ist es doch erstaunlich, wie der Mechanismus der moralisierenden Ausgrenzung zuschlug. Diese Kritiker störten den Konsens der Mehrheit, sie stellten infrage, dass das Virus so gefährlich sei wie behauptet und kritisierten zudem, dass die gesamte Gesellschaft über den gesundheitlichen Supercode des Infektionsschutzes Leben/Tod gestaltet wird.


Dass sich Wodarg, Bhakdi und andere Kritiker/innen aufgrund der öffentlich-medialen Exklusion so genannte alternative Medien suchten, in denen sie gehört wurden, verschärfte die moralische Abwertung und Ausgrenzung auf Seiten des Mainstreams, schien sie nachträglich sogar zu bestätigen – nach dem Motto, wer mit solchen äußerst umstrittenen Influencern spricht, der gehört ohnehin nicht zu uns und kann nicht mehr ernst genommen werden.


Meine Frage an Steffen Roth und Fritz Simon ist nun, wie sie die mediale Kommunikationsdynamik der aktuellen Corona-Gesellschaft einschätzen. Was ist da gelaufen und läuft womöglich immer noch? Was könnten wir für die Zukunft daraus lernen? Wie sollten öffentliche Diskurse zu äußerst umstrittenen Themen gestaltet werden? Ganz so einfach wie naive Realisten, die Fakten von Fake unterscheiden, können es sich erkenntnistheoretisch reflektierte Systemtheoretiker doch nicht machen, oder? Wir alle wissen nicht, ob und wie die Pandemie weiter geht, ob sie vielleicht tatsächlich bereits zu Ende ist, wie die genannten Kritiker behaupten. Wäre es daher nicht sinnvoll, so viele unterschiedliche Perspektiven im öffentlichen Diskurs wie möglich zu integrieren? Und wie könnte dies ohne destruktive Moralisierungen geschehen?


 


 


Kommunikation über Moral versus Moralkommunikation


von Steffen Roth


 


Natur ist die Umweltvorstellung der Naturwissenschaften, und damit nur eine Umwelt unter vielen. Diesem Kerngedanken meines letzten Beitrags hat Fritz Simon zugestimmt. Dennoch möchte er der Natur «einen besonderen Status zubilligen». Zwar gebe «es noch viele andere relevante Umwelten», aber die Natur scheint ihm dann doch am relevantesten.


Somit stehen wir bereits wieder mit einem Bein in der altbekannten Moraldiskussion. Fritz Simon weiss einfach, dass der Politik der Vorrang gegenüber der Wirtschaft gebührt, und nun offenbar auch, dass wissenschaftliche Naturgesetze systemrelevanter sind als etwa religiöse Schöpfungslehren.


Ich verstehe nun, dass man als systemtheoretischer Wissenschaftler derlei Moralisierungen deskriptiv beobachten kann. Normativ lassen sie sich mit unserer Theorie allerdings nicht halten. Mehr noch: nur aufgrund unserer normativen Indifferenz verwechseln wir Gesellschaft nicht mit historisch kontingenten Funktionssystempräferenzen, sondern sind Chronisten ihres Wandels: Theokratie, politische Ökonomie, Triple-Helix, nun möglicherweise Politische Ökologie und in einer vielleicht nicht allzu fernen Zukunft auch mal eine Selbstbeschreibung ohne Politik; all das ist und kann Gesellschaft sein.


Wie Heiko Kleve zurecht ausführt, war Niklas Luhmann auch deshalb zurecht skeptisch gegenüber moralischer Kommunikation. Umgekehrt müssen wir aber auch skeptisch gegenüber Luhmanns mitunter stark oszillierenden Ausführungen zur Moral sein. Einerseits ist ihm Moralkommunikation tatsächlich die ausdrückliche Kommunikation von Werten. Andererseits lesen wir aber immer wieder auch, dass die implizite Kommunikation von Werten als Selbstverständlichkeiten der springende Punkt bei Moralkommunikation sei.


Veranschaulichen lässt sich der im Titel etwas klarer formulierte Unterschied mit Blick auf eine Forschungsarbeit, die ich nur durchgeführt habe, um ihn zu veranschaulichen. Damals habe ich nach Unternehmen gesucht, die ihr offizielles Unternehmensleitbild von anderen Unternehmen geklaut haben. So kommt es gar nicht so selten vor, dass man auf zwei Webseiten zweier gänzlich unabhängiger Unternehmen warme Worte liest wie: «Always working with integrity. Conducting our operations with integrity and with respect for the many people, organizations and environments our business touches has always been at the heart of our corporate responsibility». Die Kommunikation über Werte ist in beiden Fällen klar dieselbe. Allein, die Wertkommunikation wird im Fall des Nachäffers ganz anders verstanden, und zwar ganz selbstverständlich als Konterkarikatur des eigentlichen Inhalts.


In diesem Sinne gilt es daher, Kommunikation über Moral systematisch von Moralkommunikation zu unterscheiden, und das nicht zuletzt, weil man auf Grundlage dieser Unterscheidung dann beobachten kann, dass eine Zunahme von Kommunikation über Werte ein Indikator für zunehmende Wertverluste sein kann.


In diesem Sinne ist es ja ein Kennzeichen unserer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft, dass es nicht mehr viel gibt, das sich von selbst versteht. Werte lassen sich nicht debattieren, und insofern heute, und in Krisenzeiten umso heftiger, über nahezu jeden sogenannten Wert gestritten wird, scheint es in der Tat nur noch wenige zu geben. So gibt es, meines – in diesem Bereich aber sicher nicht umfassenden – Wissens nach, keine wissenschaftlichen Konferenzen über das Für und Wider der Pädophilie; und man fühlt sich förmlich gezwungen nachzuschieben: und das ist auch gut so. Das ist ein Wert. Einer von relativ wenigen.


An diesem Beispiel wird auch sichtbar: Moralkommunikation neutralisiert Entscheidungskommunikation¹. Wo es Werte gibt, da gibt es keine echten Alternativen im Sinne Heinz von Foersters Diktum: «Only those questions that are in principle undecidable, we can decide». Wo die heisse Luft der Kommunikation über Werte tatsächlich kondensiert, regiert die Alternativlosigkeit.


Insofern überrascht mich die von Altachtundsechzigern massgeblich vorangetriebene resignierte Renaissance der Kommunikation über Werte und der «Ethik» immer wieder, denn egal wie gut das Ansinnen, die eigentlich gewünschte Moralkommunikation lässt sich nicht herbeireden. Man kann sich für Werte einfach nicht entscheiden.


Letztlich bin ich daher froh über den Feuereifer, mit dem ökologische Gretchenfragen immer wieder gestellt werden. Und auch fast schon dankbar für den brachialen Mangel an politischer Eleganz, mit der die aktuellen Corona-Manöver durchgeführt worden sind. All das markiert lautstark die Kontingenz der eben doch nur unterstellten Letztwerte wie Naturschutz, Sicherheit, oder Leben, und erzeugt so den Horizont von Alternativen, der uns von den Gesellschaftsformen unterscheidet, in denen schwerpunktmässig nicht Entscheidungsfreiheiten, sondern institutionalisierte Selbstverständlichkeiten den Alltag bestimmen.


Wenn Heiko Kleve nun fragt, wie wir «so viele unterschiedliche Perspektiven im öffentlichen Diskurs wie möglich» integrieren können und «dies ohne destruktive Moralisierungen», dann können wir uns mit ihm diese Frage nur stellen, weil sich, wie etwa von Sean Ward (2006) minutiös herausgearbeitet, erst die adelige Oberschicht und später breite Teile aus der totalen Institution der moralisch durchstratifizierten Gesellschaft heraus- und ins Zeitalter der Entscheidung hineinkommuniziert haben. Das Mittel der Wahl damals wie heute ist, auch wenn ich mich wiederhole, funktionale Differenzierung, und es wirkt bei Bedarf auch in der Corona-Krise: Was gut aus der Perspektive des einen Systems sein kann, mag schlecht aus der Perspektive des anderen sein, einem dritten ambivalent erscheinen, und einem vierten ganz egal sein; ganz wie in der untenstehenden Tabelle (Roth et al., 2020), bei der es sich um ein einfaches kommunikatives Werkzeug handelt, mit dem sich Moralkommunikation verflüssigen oder überflüssig machen kann.



¹ Insofern ihr das gelingt, handelt es sich bei Moralkommunikation wohl um eine – bislang noch nicht hinreichend als solche herausgearbeitete – eigenständige Form von Kommunikation neben Interaktion und Entscheidungskommunikation.


Referenzen:


Roth S., Valentinov V., and Clausen L. (2020), Dissecting the empirical-normative divide in business ethics: the contribution of systems theory, Sustainability Accounting, Management and Policy Journal, 11(4), 679-694.


Ward, S. (2006). Functional differentiation and the crisis in early modern upper-class conversation: the second Madame, interaction, and isolation. Seventeenth-Century French Studies, 28(1), 235-247.


Call for Abstracts:


Call for Abstracts zur Luhmann-Konferenz 2020 in Dubrovnik: MORAL COMMUNICATION. Observed with social systems theory (Deadline: 15.06.2020).


 


 


 


Lob der Moral...


von Fritz B. Simon


Systemtheorie und Konstruktivismus haben beide die m.E. unschätzbare Qualität, dass sie moralfrei sind. Auf keinen Fall lässt sich aus beiden Theorieansätzen irgendeine Moral ablesen. Sie sind nicht normativ. Das ist in Naturwissenschaften im Prinzip selbstverständlich, in den Sozialwissenschaften (und ich rechne die Psychologie jetzt mal dazu) ist das keineswegs vorauszusetzen. Mit Hilfe von Systemtheorie und Konstruktivismus lassen sich im Prinzip die Strukturen und Dynamiken aller Typen sozialer System analysieren und erklären, und daher lassen sie sich auch zu den unterschiedlichsten Zwecken und Zielen – und Moralen – verwenden. Um es plakativ zu sagen: Man kann Systemtheorie genauso gut nutzen, um eine caritative wie eine kriminelle Organisation aufzubauen oder zu optimieren.


Der Sinn dieser Vorrede ist, deutlich zu machen, dass niemand sein Handeln unter Berufung auf „systemisches Denken“ o.Ä. („systemische Haltung“) legitimieren kann. Jeder Einzelne trägt die Verantwortung für seine Konstruktion der Wirklichkeit, d.h. für die Phänomene, auf die er seine Aufmerksamkeit fokussiert (=Beschreibungen), wie er sie erklärt (=Hypothesenbildung) und wie er sie bewertet (ökonomisch, ästhetisch, ethisch usw.), und sein Verhalten. Niemand kann sich hinter einer Theorie oder einer „höheren Wahrheit“ verstecken. Er muss seinen Buckel dafür hinhalten, an welchen Normen oder Prinzipien er sein Handeln und seine Entscheidungen orientiert – auch diejenigen, die politisch wirksam sind. Und auch, wenn er die Entscheidung über sein Verhalten durch den Würfel bestimmen lässt.


Das führt uns zum Thema Moral, zum Unterschied zwischen „Moralkommunikation“ und „Kommunikation über Moral“. Da sind Steffen Roth und ich offenbar – welch Wunder, aber auch wie beruhigend – einer Meinung. Hier scheint mir die von Heiko Kleve zitierte Luhmannsche Definition am nützlichsten, dass Moral die Regeln bzw. „Bedingungen der Kommunikation von Achtung und Missachtung“ definiert. Es gibt noch ein paar andere Begriffe außer Achtung, die in ihrem Gebrauch eng verwandt sind: Ehre, Respekt usw. Sie alle bzw. ihre Kommunikation definieren das soziale Ansehen und in der Folge meistens auch die Selbstdefinition und den Selbstwert einer Person, soweit beides an soziale Anerkennung gebunden ist.


Wichtig ist, das fügt sich in die Moralfreiheit der Systemtheorie, dass die Bedingungen der Kommunikation von „Achtung“ oder „Missachtung“ nicht inhaltlich definiert sind, d.h. es lassen sich keine „Werte“ (ein – nebenbei bemerkt – lausig definierter Begriff, der wahrscheinlich gerade deswegen so populär ist) aus dieser Theorie ableiten. Wenn in der Systemtheorie Moral problematisiert wird, so nicht das Ob, sondern das Wo und Wie. Es gibt aber – um allen Missverständnissen vorzubeugen – keine sozialen Systeme, die auf Moral bzw. Moralkommunikation verzichten könnten. Sie steuern Erwartungs-Erwartungen und tragen so elementar zur Koordination der Interaktion der Mitglieder bei. Sie gehören m.E. zu den fest mit Affekten gekoppelten kulturellen Geboten und Verboten, die man in Analogie zu den Regeln von Sprachen „grammatische Regeln“ nennen kann (siehe „Formen“ 52.6ff.). Wer gegen sie verstößt, hat sich zwar im Allgemeinen noch nicht strafbar gemacht, aber er riskiert die Verachtung seiner Mitmenschen, im Extremfall auch die Ausgrenzung. Es handelt sich um ein Normensystem, das Verhalten positiv oder negativ sanktioniert, ohne dass das Rechtssystem in Anspruch genommen werden müsste: Man kann Achtung der Anderen nicht einklagen und auch nicht Berufung gegen Missachtung einlegen.


Wichtiger als das Reden über Moral scheint mir die Moralkommunikation, d.h. das Zeigen von Achtung oder Verachtung gegenüber konkretem Verhalten. Um meinerseits auch Heinz von Förster zu zitieren (der Wittgenstein zitiert): „Ethik ist immer implizit“. Das heißt im Klartext: Wenn Du wissen willst, an welchen Werten sich jemand orientiert, schau dir an, was er tut!“ („walk“ vs. „talk“).


Das gilt, ungeachtet der Tatsache, dass ich zu Beginn die Moralfreiheit der Wissenschaft als Qualität positiv bewertet habe, auch für die Moralkommunikation in den Wissenschaften. Denn die Moralfreiheit der Wissenschaften bezieht sich auf die Inhaltsebene, d.h. die Sachdimension der Kommunikation. Sie gehört m.E. – nur scheinbar paradox – zur wissenschaftlichen Moral. Im Klartext bedeutet das, dass zwischen sachbezogene Aussagen, Hypothesen und Theorien und denen, die diese Aussagen machen, unterschieden wird. Die scheinbare Paradoxie besteht darin, dass die Moralfreiheit der Sachdimension der wissenschaftlichen Kommunikation durch die Moral in der Sozialdimension der wissenschaftlichen Kommunikation geschützt wird. Aussagen dürfen – wenn moralisch gehandelt wird – nicht deswegen disqualifiziert werden, weil sie vom Autor XY stammen. Der Autor verliert aber die Achtung der Community oder erntet gar Verachtung, wenn er sich gegen die Regeln der Wissenschaft vergeht und z.B. fälscht, plagiiert usw.


Wenn „über Moral“ kommuniziert wird, geht es daher nicht um das Ob von Moral, sondern um die konkreten Bedingungen des „Erwerbs“ oder des „Verlustes“ von Achtung, d.h. die gezeigten/zu zeigenden Verhaltensweisen, die dem Mitglied eines sozialen Systems Achtung oder Missachtung verschaffen (=Metakommunikation).


Ich bin jemand, der – wenn ich ehrlich bin – nie in seinem Leben über Moral mit irgendwem debattiert hat. Wenn bislang irgendwer in meiner Anwesenheit angefangen hat, über „Werte“ zu reden, habe ich immer meine Brieftasche festgehalten, weil ich stets von der Hypothese ausgegangen bin, es mit einem Trickbetrüger zu tun zu haben. In der Hinsicht hat sich für mich in den letzten Jahren etwas verändert – Donald Trump, Boris Johnson, Bernd Höcke, Alexander Gauland und ähnlichen (aus meiner Sicht „unanständigen“) Typen sei Dank. Auf einmal denke ich, dass Kommunikation über Moral sinnvoll sein könnte, denn es geht m.E. darum, sich darüber auseinanderzusetzen, in welcher Art von Gesellschaft wir (nicht) leben wollen.


Nun ein paar Anmerkungen zur Kritik Steffen Roths an meiner höheren Bewertung der Natur (gegenüber z.B. der Religion) als relevanter Umwelt usw. Meine Erklärung dafür: Es liegt wahrscheinlich daran, dass mich persönlich – und das hat etwas mit meinem professionellen und akademischen Hintergrund zu tun – die Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen interessiert, drei gekoppelten autopoietischen Systemen, die füreinander Umwelten darstellen (s. „Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen“). Insofern hat aus meiner Sicht der Organismus (und damit die Natur) als Umwelt einen anderen Stellenwert als irgendwelche sozialen Subsysteme. Und mein Verweis auf die Relevanz der Natur war – zumindest, was meine Intentionen anging – nicht im Geringsten moralisch gemeint. Nur: Es bedarf eben menschlicher Körper als relevanter Umwelten, damit menschliche Kommunikation stattfinden kann.


Dass ich „weiß“, dass der Politik Vorrang gegenüber der Wirtschaft zuzubilligen ist, scheint mir eine sehr weit hergeholte Lesart (um es vornehm auszudrücken), angesichts dessen, was ich geschrieben habe. Ganz im Sinne des oben Gesagten leite ich weder Wahrheitsanspruch noch Normen aus der Systemtheorie ab. Aber als Individuum, Bürger dieses Landes, Bewohner dieses Planeten usw. habe ich durchaus eine politische Meinung, über die ich auch bereit bin, mich zu streiten. Und nach der halte ich es einfach für ein Verbrechen (durchaus moralisch gemeint), welche Macht inzwischen z.B. die ungeregelten Finanzmärkte haben und dass dies von „der Politik“ zugelassen wird; ich meine, dass man dies ändern sollte. Aber, das ist lediglich meine persönliche Meinung und sie ist bestimmt von meinem (wie ich finde, guten) Geschmack. (Ich finde übrigens keineswegs, dass sich der Staat immer und überall einmischen sollte... – aber das müssten wir an konkreten Fragestellungen diskutieren).


Der Eindruck, ich würde der Natur aus moralischen Gründen einen Sonderstatus zusprechen, mag durch den Kontext entstanden sein, in dem wir ja u.a. die Frage diskutieren, ob die Corona-Maßnahmen, die von den unterschiedlichen Staaten veranlasst worden sind, angemessen sind. Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das ist für mich keine moralische Frage (d.h. ich bin nicht bereit, jemanden zu verachten oder auch nur zu missachten, der in dieser Hinsicht nicht meine Meinung teilt).


Wo ich Steffen Roths Meinung ausdrücklich nicht (!) zustimme, ist, dass Wertekommunikation Entscheidungskommunikation verhindert. Jeder Entscheidung liegt letztlich eine Unterscheidung zugrunde, und jede Unterscheidung beruht darauf, dass den beiden Seiten der Unterscheidung ein unterschiedlicher Wert von dem oder den Beobachtern zugeschrieben wird. Also, wo immer es um Entscheidungen geht, geht es um Bewertungen. Wenn man Werte – da haben wir wieder das Problem der unterschiedlichen Abstraktionsstufen, über die man stolpern kann – auf einer sehr abstrakten Ebene positioniert, so geht es bei konkreten Entscheidungen immer darum, sie auf die jeweils zur Entscheidung stehenden, konkreten Alternativen herunterzurechnen.


Aber zurück zur Frage von Heiko Kleve, wie wir den öffentlichen Diskurs zu Corona bzw. die damit verbundene, aktuelle Moraldiskussion bewerten. Mir scheint, dass die moralische Disqualifikation eher einseitig ist und von der Seite derer kommt, die mit den staatlichen Maßnahmen nicht einverstanden sind. Denn die Verfechter der Nützlichkeit des Tragens von Mund-Nase-Maske und Abstandsregeln werden nicht nur massiv abgewertet, ihnen wird nicht nur bei „Hygiene-Demonstrationen“ öffentlich Verachtung signalisiert, sondern sogar Hass. Virologen erhalten Morddrohungen, Journalisten werden tätlich angegriffen usw.


Dass diejenigen, die mit den verordneten Maßnahmen aus sachlichen Gründen nicht einverstanden sind – wie beispielhaft genannt Herr Wodarg und Herr Bakthi – moralisch disqualifiziert werden, kann ich nicht sehen. Dass sie in den Mainstream-Medien nicht hinreichend zu Wort kommen, ist m.E. aber nur bedingt richtig. Denn ich kenne ihre Thesen und Argumente, obwohl ich mich fast ausschließlich durch die sogenannten „Main-Stream“-Medien informiere (wenn auch durch ziemlich viele/internationale). Das Schicksal, dass sie nicht so häufig zitiert werden, wie sie nach ihrem Gefühl eigentlich genannt werden müssten, teilen sie sicher mit uns Dreien, da die Medien unsere wunderbaren und genialen Ideen nicht angemessen zur Kenntnis nehmen. Sicher eine Verschwörung! Auf jeden Fall moralisch verwerflich! Medien, ob nun „main-stream“ oder „sozial“, funktionieren nun einmal selbstreferenziell, d.h. sie schreiben alle bei einander ab, und wer wenig zitiert wird, wird schnell gar nicht mehr zitiert.


Noch ein persönliches Wort zur Moralkommunikation: Ich möchte die Möglichkeit nicht missen, manchen Leuten meine tiefe Verachtung zeigen zu können... – meine Art der Mikropolitik. Dass dies für Berufspolitiker eine nützliche Strategie wäre, bezweifle ich. Aber irgendein Privileg muss man als Privatmann ja auch haben.


 


 


 


Autoren


 


Heiko Kleve, Univ.-Prof., Dr. phil.; Sozialpädagoge und Soziologe sowie Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG), Case-Manager (DGCC) und Konflikt-Mediator (ASFH); Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen, Wirtschaftsfakultät, Universität Witten/Herdecke. Autor zahlreicher Bücher und einschlägiger Fachbeiträge zur systemisch-konstruktivistischen, systemtheoretischen und post- modernen Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften u. a.: Lexikon des systemischen Arbeitens (2012, zus. mit Jan V. Wirth) Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer systemischen Arbeitens (2019, zus. mit Jan V. Wirth), Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen (2016).


Steffen Roth, Prof. Dr. ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, Finnland. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie Technological Forecasting and Social Change, Journal of Business Ethics, Administration and Society, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, Journal of Cleaner Production oder Futures publiziert.


Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018) und Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019).